Dieter Krammer oder: Die Helfer in der Nacht Jetzt ist schon wieder ...

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verkündet: »Heute werden sie wieder speiben wie die Esel!« ... wären nie passiert. ... Jahr schafft er locker, meist in der Nacht, bevor er wieder ins Theater geht.
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man hat den Feind ja in konkreter Gestalt vor sich.« Hans Magnus Enzensberger: Der Große Bürgerkrieg und die Grenzen der Verantwortung. In: Rainer Barbey: Hans Magnus Enzensberger – Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005 – 1970. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007. Ian Serraillier: The Silver Sword. London: Puffin Books 2001. Deutsch: Das silberne Messer. Ravensburg: Verlag O. Maier 1967. Grundlage des Films bildet die 1980 publizierte Geschichte »Death and Life of Dith Pran« des New-York-Times-Journalisten Sydney H. Schanberg, für die er mit dem Pulitzer-Preis für Internationale Berichterstattung ausgezeichnet wurde. www.icrc.org/familylinks »Economics is about the allocation of scarce resources between competing demands.« Laura Silber and Alan Little: The Death of Yugoslavia. London: Penguin Books/ BBC Books 1995; und: David Rieff: Slaughterhouse. Bosnia and the Failure of the West. New York: Simon and Schuster 1995. Roy Gutmann and David Rieff: Crimes of War. What the Public Should Know. London/New York: W. W. Norton & Company 1999. www.crimesofwar.org Fikret Alic lebt heute mit seiner Familie in Dänemark und Bosnien. Über seine Folterknechte sagt er: »Keiner von ihnen hat sich jemals für das entschuldigt, was sie uns angetan haben. Ich kann dir jedes Mal, wenn wir durch Prijedor spazieren, fünf Mörder zeigen. Entweder sind sie stolz auf ihre Taten, oder sie geben vor, sie wären nie passiert.« Ed Vulliamy: »I am waiting. No one has ever said sorry.« In: The Observer, 27. Juli 2008. Paul Berman: Idealisten an der Macht. Die Passion des Joschka Fischer. München: Siedler Verlag 2006. Siehe u. a. Robert Dempfer: Polit-Krimi aus dem Herzen Afrikas. In: Wiener Zeitung extra, 22. Juni 2007; Andrew Wallis: Silent Accomplice – The untold Story of France’s Role in the Rwandan Genocide. London: I. B. Tauris 2007; Jean Hatzfeld: Machete Season – The Killers in Rwanda Speak. New York: Picador 2006; Roméo Dallaire: Shake Hands with the Devil – The Failure of Humanity in Rwanda. New York: Da Capo Press 2004. Ed Vulliamy: The edge of madness. In: The Guardian (G2), 23. Juli 2008. Nik Gowing: The Unpredictable News Cycle and the Tyranny of Real Time. In: Media Coverage – Help or Hindrance in Conflict Prevention? A Report to the Carnegie Commission on Preventing Deadly Conflict. New York: Carnegie Corporation of New York 1997.

Dieter Krammer oder: Die Helfer in der Nacht Jetzt ist schon wieder was passiert. Das Gerücht von der Bombendrohung verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Der Brandstifter, der erst gestern in der Ramsauer Straße wieder zugeschlagen hat, ist sowieso Gesprächsthema Nummer eins. Der muss ein Kenner sein, ein Insider. Weil er die Brände immer so legt, dass die Feuerwehr möglichst weit fahren muss. Jeder hier hofft, dass er bald geschnappt wird. Und dass er nicht gerade heute auf dumme Ideen kommt. Ausgerechnet zum Jahreswechsel. Sicher ist angesichts der bevorstehenden Silvesternacht nur, was das Rotkreuz-Urgestein Andi in kraftvollem Bariton verkündet: »Heute werden sie wieder speiben wie die Esel!« In der Garage der Rotkreuz-Dienststelle hängen die Fahrzeuge am Tropf. Vier Rettungstransportwagen stehen für die Nacht bereit, dazu ein Notarzt-Einsatzfahrzeug, das die Notärztin im Dienst bei Bedarf rasch zum Patienten bringt. Erstversorgen, stabilisieren, transportieren, lautet das Mantra der modernen Notfallmedizin. Lange Kabel reichen wie Lianen von der Decke bis zu den Steckdosen der Rettungswagen. Die Batterien der Fahrzeuge werden geladen, wann immer sie in der Garage stehen. Das wird heute Nacht nicht oft der Fall sein. Im Aufenthaltsraum laden sich die Frauen und Männer vom Roten Kreuz ein paar Happen vom Silvester-Buffet auf ihre Teller. Das hat ein Wirt aus der Umgebung spendiert. Es ist Punkt neunzehn Uhr, Dienstbeginn, als Fahrer und Notfallsanitäter Dieter Krammer und Rettungssanitäter Klaus Katschnig sich gerade zum Essen setzen. Da gehen ihre Pager los. Der erste Einsatz des Abends für Wagen 105. Die Teller bleiben unangetastet. »Ein Traum«, knurrt Dieter. Die beiden bewegen sich im Laufschritt zu ihrem Wagen. Das Display 129

ihrer Pager zeigt, was sie erwartet. Klaus übersetzt den Zahlencode: »Ein Kind, ein Sturz.« Auch die Adresse des Einsatzortes steht dort. Mit Blaulicht und Folgetonhorn fährt Wagen 105 los. Klaus ist in dem Gespann der Mensch gewordene Stadtplan. Die Straße in dieser Stadt, die er nicht kennt, die gibt es nicht. Er hilft Dieter mit kurzen Anweisungen, den Wagen auf dem schnellsten Weg ans Ziel zu bringen. Dort sitzt der vierjährige Benjamin, die schmerzende Hand angeschwollen, mit Tränen im Gesicht. »Wie heißt du denn? Ich bin der Dieter.« Während er Benjamin in ein Gespräch über seinen Teddybären verwickelt, untersucht er das verletzte Handgelenk des Buben. »Eigene Kinder zu haben, hilft«, sagt Dieter, Vater von Lukas und Anna, die schon zwölf und zehn Jahre alt sind. Prellung oder Bruch, das ist bei Benjamin die Frage. Nur eine Röntgenaufnahme kann das klären. Bei einem Kind im Wachstum darf eine Fraktur auf keinen Fall unentdeckt bleiben. Also ab ins Krankenhaus. Benjamin wird in eine Decke gewickelt, die beginnende Winternacht ist eisig. Mama und Teddy fahren mit. »Bringt ihr schon das Neujahrsbaby?«, empfängt sie der Arzt bei der Übergabe. Da geht der Pager wieder los. Verkehrsunfall. Ein BMW hat eine Fußgängerin über den Haufen gefahren, der Lenker hat sich davongemacht – Fahrerflucht. Polizei, Schaulustige, die verletzte Frau muss in die Notaufnahme. »105 einsatzbereit«, funkt Dieter danach an die Zentrale. »Einrücken«, antwortet die – der Wagen kann zurück zur Rotkreuz-Dienststelle fahren. Zurzeit wird er für keinen Folgeeinsatz gebraucht. Dieter und Klaus sind freiwillige Helfer beim Roten Kreuz. Klaus ist Einzelhandelskaufmann, seit mehr als zwanzig Jahren dabei. Seit über zehn Jahren verbringt er auch Weihnachten und Silvester beim Roten Kreuz. »Ich bin Junggeselle, auf mich wartet keine eigene Familie«, sagt er. »Mit der Zeit sind diese Dienste für mich zur Gewohnheit geworden.« Zu einer vertrauten Gewohnheit: »Meine Familie ist hier – im Kreis der Helfer.« Dieter ist Inspizient und Regieassistent am örtlichen Stadttheater. Nach dem Zivildienst 1989 ist er als Freiwilliger beim Roten Kreuz geblieben. Fünfzig Dienste pro 130

Jahr schafft er locker, meist in der Nacht, bevor er wieder ins Theater geht. Der nächste Einsatz kommt, als sich die beiden gerade wieder an ihr unberührtes Abendessen setzen. Diesmal ist es eine Patientin mit Atemnot, dringend. Direkt vor dem Stadttheater. »Den Weg brauchst du mir nicht zu erklären«, sagt Dieter und schaltet das Blaulicht ein.

Erste Hilfe: Patient Benjamin, Sanitäter Dieter Krammer

In der Leitstelle ist heute Sabrina »Call Taker«. Die 27-Jährige war schon in der Schule beim Jugendrotkreuz. In dieser Nacht nimmt sie die Notrufe entgegen, stellt den meist aufgeregten Anrufern gezielte Fragen. Dabei hilft ihr ein Computerprogramm: eine Art Karteikarten-System, nur eben am PC. Aus den Antworten generiert das Programm einen Einsatzcode, den Sabrina per Tastendruck an den Leitstellen-Disponenten weitersendet. Das ist Walter, genannt Alf, ein alter Profi. Er schickt die richtigen »Rettungsmittel«, wie es in der Rotkreuz-Sprache heißt, los. Zur Frau vor dem Stadttheater entsendet er auch das Notarzt-Einsatzfahrzeug. Oft ist es für die Mitarbeiter der Leitstelle notwendig, mit den Anrufern in Kontakt zu bleiben, mehr Informationen über den Zu131

stand eines Patienten herauszubekommen, sie an die Sanitäter weiterzugeben und dabei gleichzeitig den Menschen am Apparat zu beruhigen. Oder ihm zu helfen, damit der Patient bis zum Eintreffen des Notarztes durchhält. Angehörige, die noch nie einen Erste-HilfeKurs besucht haben, über das Telefon anzuleiten, wie man eine Beatmung durchführt; ihnen gelegentlich sogar zu erklären, wie man ein Kind zur Welt bringt … Es ist ein schweißtreibender Job am Telefon, »aber wenn man dann durch den Hörer das Baby schreien hört, dann sind das unglaubliche Momente«. Alf arbeitet im Halbdunkel, nur sein Gesicht ist vom Dämmerschein mehrerer Großbildschirme erhellt. Darauf Karten und Luftaufnahmen der Region, keine älter als höchstens sechs Monate. Mit ihrer Hilfe lässt sich jeder Rettungswagen ans Ziel dirigieren. Nur allzu Menschliches kann dem System ein Schnippchen schlagen. Wenn etwa ein Anrufer hektisch erklärt: »Kommt’s schnell! Ihr müsst beim Bildstock vorbeifahren, dann zwei Kilometer durch den Wald, und dort, wo sich der Hansi letztes Jahr aufgehängt hat, links abbiegen«, und dann auflegt. Da hilft auch der Leitstelle nur noch ein Anruf im örtlichen Polizeiwachzimmer oder im lokalen Wirtshaus. Einer der zechenden Stammgäste weiß garantiert, wo der Hansi letztes Jahr allem von eigener Hand ein Ende gemacht hat. Mit Blaulicht trifft Wagen 105 gleichzeitig mit der Notärztin beim Stadttheater ein. Die Patientin im Abendkleid, bereit für die Silvestervorstellung, hängt halb aus dem Auto und ringt verzweifelt nach Atem. Lebensgefahr. Dieter und Klaus hieven sie behutsam auf die Trage, da steht plötzlich ihr Herz still. Jetzt wird es sehr hektisch. Notärztin und Sanitäter kämpfen im Rettungswagen um das Leben der Frau. Die Ärzte der Intensivstation warten schon und übernehmen. Die Helfer versammeln sich in der Kälte vor dem Krankenhaus, ziehen an ihren Zigaretten. »Das war sehr knapp«, flüstert die Notärztin. Klaus steht trotz der inzwischen beißenden Kälte der Schweiß auf der Stirn. »Jedes Jahr sage ich mir: Heuer mach ich zu Silvester keinen Dienst«, erklärt er. »Und jedes Mal zeige ich bei der Dienst132

einteilung wieder auf.« Dieter flucht auf die Zufahrtsstraße zum Krankenhaus – eine gnadenlose Buckelpiste. Schlaglöcher, nur behelfsmäßig mit Schotter und Teer geflickt, machen eilige Transporte regelmäßig zum Spießrutenlauf. Wie soll man da einen Patienten schonend transportieren? »Fährst du langsam auf der rechten Spur, wirst du angehupt, angeblinkt, überholt und geschnitten«, ärgert er sich. Gegenmaßnahme: Man fährt mit Blaulicht und dreißig Stundenkilometern in der Straßenmitte. »Dann kommen wieder die Anrufe, was für depperte Fahrer das Rote Kreuz hat.« »Was ist mit dem Auto der Frau?«, fällt Klaus plötzlich ein. Es ist in der Hektik unverschlossen stehen geblieben, der Schlüssel steckt im Zündschloss, die Tasche der Theaterbesucherin liegt auf dem Beifahrersitz. Pager und Funkgerät schweigen, Dieter und Klaus fahren nochmals zurück, liefern Tasche und Schlüssel im Krankenhaus ab. Sie müssten das nicht machen. Aber »halbe Arbeit ist keine Arbeit«, findet Dieter. Welche Einsätze aus zwanzig Jahren als Notfallsanitäter bleiben in Erinnerung? »Der allererste Verkehrsunfall, den vergisst man nie«, sagt Dieter. »Ich war selbst aufgeregt, und da sitzt dann dieser blutüberströmte Mensch. Mein erfahrener Kollege hat gesagt: Schau genau hin, bevor du durchdrehst. Und dann war’s tatsächlich nur eine Platzwunde.« Die Amputationen sind ihm alle im Gedächtnis geblieben. Biker, die unter Leitschienen, nicht angegurtete Autofahrer, die durch Baumgruppen geschleudert wurden. Dass in zwei Jahrzehnten nie ein Kind dabei war, dafür empfindet er eine gewisse Dankbarkeit. Bei der Frage nach angenehmen Erlebnissen muss er länger nachdenken. Nicht nur weil sie naturgemäß seltener vorkommen. Auch weil sie schwieriger zu beschreiben sind. Denn der Sanitäter Dieter Krammer merkt bald, dass auch die technischen Aspekte im Rettungsdienst nur die »halbe Arbeit« sind. Wegen dem »Feuerteufel« sind auch heute ausreichend Leute und Gerät in Einsatz und Bereitschaft, klar. Aber gerade gestern, als der Unbekannte ein Wohnhaus angezündet hat, ist Dieter wieder aufgefallen, wie froh die Leute aus 133