Einleitung von Paul Ekman - Springer

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von 14 Büchern, fünf von ihnen – Unmasking the Face, Face of. Man (dt. Gesichtsausdruck und Gefühl ), Telling Lies (dt. Weshalb. Lügen kurze Beine haben), ...
Einleitung von Paul Ekman

Sowohl auf persönlicher als auch auf globaler Ebene einen und trennen die Emotionen die Welt, in der wir leben; denn sie motivieren uns zu den besten und zu den schlechtesten unserer Handlungen. Sie retten uns das Leben und befähigen uns zum schnellen Handeln in Notsituationen. Doch die Art und Weise, wie wir uns verhalten, wenn wir emotional sind, kann uns und die Menschen, die uns wichtig sind, auch ins Unglück stürzen. Ohne Emotionen gäbe es kein Heldentum, keine Empathie und kein Mitgefühl, aber ohne sie gäbe es auch keine Grausamkeit, keine Selbstsucht und keine Boshaftigkeit. Diese Widersprüche versuchten der Dalai Lama und ich zu beleuchten, indem wir unterschiedliche Sichtweisen einbrachten – eine östliche und eine westliche, Buddhismus und Psychologie –, und wir bemühten uns, einige Wege aufzuzeigen, wie man zu einem ausgeglichenen emotionalen Leben und einem Mitgefühl kommen kann, das den gesamten Globus umfasst. Als Oberhaupt einer jahrtausendealten spirituellen Tradition, aber auch einer Nation im Exil besitzt der Dalai Lama unter seinen tibetischen Landsleuten einen fast göttlichen Status. Er ist der derzeit wichtigste Vertreter einer Politik der Gewaltlosigkeit und Träger des Friedensnobelpreises von 1989 sowie der 2007 vergebenen Goldmedaille des Kongresses, der höchsten Auszeichnung, die die US-Regierung an eine Zivilperson

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zu vergeben hat. Von der Führung der Volksrepublik China, die Tibet seit 1950 besetzt hält, wird er angeprangert und bisweilen öffentlich geschmäht. Doch er ist mehr als nur ein religiöser und politischer Führer: In der westlichen Welt kommt seine Berühmtheit der eines Rockstars gleich. Er hat mehrere Bestseller verfasst, und wo immer er Vorträge hält und Menschen inspiriert, kommen seine Zuhörer zu Tausenden zusammen. Er hat auch ein großes Interesse daran, die Befunde der modernen Wissenschaft in die buddhistische Sicht der Welt zu integrieren. In unseren Gesprächen wurde mir klar, dass er sich zuallererst als buddhistischer Mönch und als Vermittler buddhistischen Denkens für den Rest der Welt versteht. Er glaubt daran, dass die buddhistische Weisheit einen ethischen Rahmen liefert, mit dessen Hilfe die Welt vielleicht eher in der Lage ist, mit den Problemen umzugehen, die uns trennen. Ich selbst bin emeritierter Professor der San Francisco School of Medicine an der University of California und habe mich mehr als 40 Jahre damit beschäftigt, den Nachweis für die Universalität des emotionalen Verhaltens von Menschen zu erbringen, Gesichtsausdrücke Emotionen zuzuordnen, zu entdecken, wie sich Lügen an unserem Verhalten erkennen lassen, und Theorien vorzuschlagen, die sowohl das Wesen von Emotionen als auch die Gründe dafür erklären, warum und wann Menschen lügen. Diese Forschung hat dazu beigetragen, das wissenschaftliche Interesse an Emotion und Täuschung neu zu beleben. Ich bin Autor bzw. Herausgeber von 14 Büchern, fünf von ihnen – Unmasking the Face, Face of Man (dt. Gesichtsausdruck und Gefühl ), Telling Lies (dt. Weshalb Lügen kurze Beine haben), Why Kids Lie (dt. Warum Kinder lügen) und Emotions Revealed (dt. Gefühle lesen) – wurden für eine breitere Leserschaft geschrieben. Zudem bin ich im Laufe meiner Karriere zum Experten für Charles Darwins Schriften über den „Ausdruck der Gemütsbewegungen“ geworden. Für mei-

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ne Arbeit haben sich viele verschiedene Organisationen interessiert. Das reicht von Studios, die mit Computeranimation arbeiten, bis zu Polizeidienststellen. Und ich habe jetzt eine Firma, die Hilfsmittel für ein interaktives Training entwirft, um das Verstehen von Emotionen zu fördern und die Aufrichtigkeit von Menschen zu bewerten. Auch berate ich die Antiterrorismusbehörden mehrerer Regierungen. Von meinem Hintergrund her bin ich Jude, aber kein praktizierender, und dem Buddhismus stehe ich genauso skeptisch gegenüber wie allen anderen Religionen. Ich habe mich mein ganzes Leben wissenschaftlich mit dem Verhalten beschäftigt. Dabei habe ich harte, objektive Methoden für die Erforschung von Emotionen entwickelt und angewandt, die lange als „weiche“ Phänomene angesehen wurden. Trotz unserer Unterschiede entdeckten wir Gemeinsamkeiten in unseren Sichtweisen. Gemeinsam sind uns der innige Wunsch, menschliches Leiden zu verringern, eine große Wissbegierde und die Überzeugung, dass wir wahrscheinlich voneinander lernen werden. An unseren Gesprächen wird erkennbar, wie sich im Verlauf der nahezu 40 Stunden, die wir damit verbrachten, diesen Fragen nachzugehen, eine enge Freundschaft entwickelte. Unser gemeinsames Interesse am Wohlergehen des Einzelnen und am Gemeinwohl, das sich in Jahrzehnten des Denkens und Arbeitens unter den gegensätzlichsten Bedingungen entwickelt hat, die man sich vorstellen kann, einte unsere Bemühungen und führte zu neuen Ideen, neuen Wegen, um uns selbst zu verstehen, und zu praktischen Schritten in Richtung auf eine bessere Welt, sei es im Kleinen oder im Großen. Erstmals traf ich den Dalai Lama im Jahr 2000, als ich an einer kleinen Konferenz zum Thema „destruktive Emotionen“ teilnahm, die vom Mind and Life Institute in Boulder (Colorado) organisiert wurde.1 Seit 1987 hat das Institut Forscher zu Konferenzen über unterschiedliche wissenschaftliche Themen

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nach Dharamsala in Indien gebracht, wo der Dalai Lama im Exil lebt. Auf der Konferenz im Jahr 2000 war ich einer von sechs wissenschaftlichen Teilnehmern, die fünf Tage lang mit dem Dalai Lama sprachen. Mir oblag es, die darwinistische Auffassung zu Emotionen darzustellen und meine wissenschaftliche Forschung über die Universalität des Ausdrucks von Emotionen und deren Physiologie zu erläutern. Schwer zu sagen, ob es der uns gemeinsame Sinn für spielerische und erkundende Neugier war oder unser Wunsch, menschliches Leiden zu verringern, oder die Überzeugung, dass wir wahrscheinlich voneinander lernen würden, in jedem Fall stießen der Dalai Lama und ich sofort auf eine unerwartet starke Verbindung, die die tiefe Kluft der geistigen Hintergründe überbrückte, für die wir beide stehen. In den folgenden Jahren nahm ich als Mitglied einer Wissenschaftlergruppe an drei weiteren Konferenzen mit dem Dalai Lama teil. Außerdem saß ich im Publikum einer Podiumsdiskussion, die unter der Überschrift „Opening the Heart“ 2004 in Vancouver (British Columbia) veranstaltet wurde; hier war der Dalai Lama einer von mehreren geladenen religiösen Führern. Die spirituellen Führer hielten ihre Reden, einer nach dem anderen: Desmond Tutu sprach darüber, wie seine Religion ihm geholfen hat, sein Herz zu öffnen. Jo-Ann Archibald, eine Indianerin aus dem Nordwesten Amerikas sprach darüber, wie ihre Religion ihr geholfen hat, ihr Herz zu öffnen. Der iranische Richter Shirin Ebadi und Rabbi Zalman Schachter-Shalomi sprachen ebenfalls darüber, wie ihre Religionen ihnen geholfen haben, ihr Herz zu öffnen. Seine Heiligkeit war als Letzter an der Reihe.* Er schaute * Man sagte mir, der Dalai Lama habe, wenn er den Sitz des Exilregierung in Dharamsala verlässt, um sich für die tibetische Sache auf der ganzen Welt einzusetzen, den Ehrentitel „Seine Heiligkeit“ als Anrede akzeptiert, weil seine tibetische Anrede sehr lang und sperrig ist; man entschied sich für „Seine Heiligkeit“, weil der Papst, das Oberhaupt einer weiteren Weltreligion, so angeredet wird. In unseren Gesprächen verwendete ich den Ehrentitel nur selten, weil ich als nichtreligiöser Mensch ihn als eine außergewöhnliche Person, aber nicht als heilig ansehe.

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die an, die vor ihm gesprochen hatten, und sagte mit einem breiten Lächeln im Gesicht etwa das Folgende: „Doch Religionen teilen die Welt oft. Was uns eint, sind die Emotionen. Wir alle wollen glücklich sein und Leiden verringern.“ Ich dachte mir: Stimmt genau – aber unsere Emotionen trennen uns auch. Als ich das Treffen in Vancouver verließ, schwirrten mir viele Fragen, die der Dalai Lama aufgeworfen hatte, im Kopf herum: Fragen zum Wesen von Emotionen, von denen ich meinte, dass sie es verdient hätten, untersucht zu werden. Er hatte recht, wenn er sagte, Emotionen seien das, was wir gemeinsam hätten. Aber er hatte ausgelassen, auf welch vielfältige Weise unsere Emotionen uns trennen und uns in KonÁikte treiben. Ich machte mir Gedanken, ob ich die Sache in meinem vier Jahre zurückliegenden Vortrag über Emotionen vielleicht zu sehr vereinfacht hatte. Ich begann, eine Liste unerforschter Fragen aufzustellen; einige von ihnen konzentrierten sich darauf, wie die Menschen durch die verbindende Kraft der Emotionen die Trennlinien zwischen ihnen auÁösen könnten, andere beschäftigten sich damit, wie sich der destruktive EinÁuss abbauen lässt, den Emotionen häuÀg in unser Leben bringen. Mein ursprünglicher Fragenkatalog war 20 Seiten lang. Vor dem Hintergrund, dass wir beide aus unterschiedlichen Traditionen kommen, aus der westlichen Psychologie und aus der buddhistischen Philosophie, und motiviert durch das Gefühl, ein Streitgespräch könne als zündender Funke zwischen uns zu neuen Ideen führen, bat ich zwei Kollegen, die ich am Mind and Life Institute getroffen hatte, um ihre Meinung. Einer von ihnen war Matthieu Ricard. Er hatte 1972 seinen Doktor in Biologie gemacht und sich dann dafür entschieden, die Welt der Wissenschaft zu verlassen und Mönch in einem tibetischen Kloster zu werden; er ist zudem Autor und Fotograf.2 Seit mehr als 30 Jahren wohnt er im nepalesischen Klos-

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ter Shechen und arbeitet für den Dalai Lama als Übersetzer aus dem Französischen. Matthieu war schon oft als Gast in meinem Haus und willigte ein, als Versuchsperson an einer Reihe von Experimenten für eine Studie über Gesichtsausdrücke und physiologische Reaktionen teilzunehmen.3 Ich schickte den Fragenkatalog auch an B. Alan Wallace, der 1973 als Mönch ordiniert wurde und beim Dalai Lama studierte, bevor er das Kloster wieder verließ und in die USA zurückkehrte, um seine Ausbildung fortzusetzen und zu heiraten. Alan ist Autor vieler Bücher über Meditation und hat das gemeinnützige Santa Barbara Institute for Consciousness Studies gegründet. Auch er ist zu einem guten Freund geworden und hat in der Vergangenheit als Meditationstrainer an einem meiner Forschungsprojekte teilgenommen. Sowohl Matthieu als auch Alan brachten in den Fragenkatalog zusätzliche Ideen ein und ermutigten mich, mit dem Dalai Lama über sein Büro Kontakt aufzunehmen. Da mir bewusst war, dass der Dalai Lama bereits viel zu viele Termine wahrnehmen musste, widerstrebte es mir, ihn um die zehn bis zwölf Stunden zu bitten, die wir meiner Meinung nach für ein Gespräch über diese Fragen brauchen würden. Aber ich wandte mich mit meiner Bitte an Thupten Jinpa, den bekannten tibetischen Gelehrten und früheren Mönch, der für den Dalai Lama als Englischübersetzer arbeitet, wenn er in Länder außerhalb Indiens reist. Jinpa ist ein gutmütiger und sanfter Mann, mit dem man leicht eine warmherzige Beziehung aufbauen kann. In meinem Brief fragte ich ihn, ob er meine, dass die Fragen, die ich skizziert hatte, wichtig genug seien, um eine private Konferenz mit dem Dalai Lama zu rechtfertigen. Jinpas Antwort war enthusiastisch. Er schlug weitere Fragen vor, die man ebenfalls behandeln sollte, und sprach sich dann für ein dreitägiges Treffen aus. Es sollte 14 Monate dauern, bis wir im Kalender des Dalai Lama einen Termin Ànden konnten.

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Weil sich Jinpa so entschlossen dafür einsetzte, führten der Dalai Lama und ich während des Wochenendes vom 22. und 23. April 2006 ein elf Stunden dauerndes intensives Gespräch. Es befasste sich mit meinen 24 Seiten umfassenden Fragen über Emotionen und Mitgefühl, aber auch mit zahlreichen anderen Fragen, die sich aus dem natürlichen GesprächsÁuss und aus dem Augenblick heraus ergaben. Dies führte zur ersten von drei Gesprächsrunden mit insgesamt 39 Stunden eines innigen Austauschs, den wir während einer Zeit von 15 Monaten miteinander hatten. Unser erstes Treffen fand in Libertyville (Illinois) im luxuriösen Wohnzimmer einer Farm statt, die der Familie Pritzker gehört, der Besitzerin der Hyatt Corporation. Die Wände waren mit einem Teil der (dem Vernehmen nach) besten Privatsammlung asiatischer Kunst in den Vereinigten Staaten geschmückt. Ich saß unmittelbar links vom Dalai Lama. „Hockte“ wäre ein besseres Wort dafür, denn ich hing während des gesamten Gesprächs auf der Stuhlkante und beugte mich zum Dalai Lama hinüber. Vor mir, auf dem Couchtisch, lagen der 24-seitige Fragenkatalog, den ich vorbereitet hatte, und ein paar Vorlagen, die ich im Laufe der Diskussion verteilte und die im Buch zusammen mit dem Gespräch abgedruckt sind. Wir sprachen über alle Fragen im Katalog und über viele andere Punkte, von denen einige unmittelbar relevant waren und andere zu spannend, als dass man sie hätte auslassen wollen. Wegen des schwierigen Problems, dass wir unser Denken im Angesicht des anderen neu organisieren mussten, waren wir beide ein wenig aufgeregt; unsere Fokussiertheit und unsere Konzentration waren spürbar. Aber wir brachten auch Freude und Begeisterung ein; sie kamen in unserer Lautstärke und in schallendem Gelächter zum Ausdruck. Wir hatten hoch entwickelte Auffassungen, die auf gänzlich andere Quel-

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len zurückgingen, und wir waren beide Experten auf unserem Gebiet. Wir waren uns aber auch bewusst, dass sich eine solche Gelegenheit vielleicht nie wieder ergeben würde: Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war der Dalai Lama 73 Jahre alt, und ich war 72. Als wir uns dazu entschlossen, drei Tage in intensivem Gespräch zu verbringen – etwas, was ich nie zuvor mit irgendjemandem gemacht hatte, und den Berichten nach war das auch für den Dalai Lama ein eher seltenes Ereignis –, waren wir uns bereits der starken Verbundenheit bewusst, die wir bei unseren früheren Begegnungen auf eher öffentlichen Konferenzen füreinander empfunden hatten. Wenige Tage vor der Konferenz im Jahre 2000 kam in mir ein Déjà-vu-Gefühl auf, als hätte ich den Dalai Lama schon lange Zeit gekannt. Auch der Dalai Lama hatte das Gefühl einer starken Verbundenheit. In seinem Buch The Universe in a Single Atom (dt. Die Welt in einem einzigen Atom) hat er geschrieben: „Von Anfang an gab es zwischen uns ein tiefes Gefühl des Einvernehmens, und ich spürte, dass seine Arbeit von aufrichtigen ethischen Motiven getragen wird. Paul untersucht die Universalität unserer Emotionen, die, wenn wir sie erkennen könnten, uns ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit innerhalb der menschlichen Familie vermitteln würde.“ Und in seinen nächsten Satz Áocht er einen Witz ein, der wie all seine Witze etwas Wahres enthielt: „Davon abgesehen sprach Paul genau mit der richtigen Geschwindigkeit, die es mir möglich machte, seinen englischen Ausführungen ohne Schwierigkeiten zu folgen.“ Wie man es beim Oberhaupt einer Weltreligion, vor allem bei einem, das Staatsoberhaupt ist und Todesdrohungen bekommen hat, erwarten muss, waren wir nicht allein. Am Eingang saß ein zu seinem Schutz abgestellter Sicherheitsbeamter des US-Außenministeriums, der in regelmäßigen Abständen von 30 Minuten durch einen Kollegen ersetzt wurde. Andere

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Mitglieder der Wachmannschaft befanden sich im Umfeld des Hauses; vor der Eingangstür wartete ständig ein Wagen, falls ein schnelles Verschwinden erforderlich werden sollte. Auf der anderen Seite des Zimmers, in zwölf Meter Entfernung, blickte ein Mitglied der Begleitmannschaft der tibetischen Exilregierung von einem hohen Balkon herunter. Zur Rechten des Dalai Lama saß mein Verbündeter bei dieser Unternehmung, Thupten Jinpa, der bei diesem Treffen als Übersetzer mitwirkte; und direkt neben ihm befand sich ein weiterer Tibeter, Geshe Dorji Damdul. (Geshe ist der Begriff, den man für Gelehrte verwendet, die beim Studium des tibetischen Buddhismus eine Stufe erreicht haben, die im Westen dem Doktorgrad entspricht.) Gelegentlich antwortete Dorji bei unserem Gespräch auf eine Frage, die an den Dalai Lama gerichtet war; dabei ging es dann darum, wie mein Kommentar zur tibetischen Wissenschaft passt. Er spricht Áüssig Englisch und verstand mich ohne die Hilfe eines Übersetzers, doch mit dem Dalai Lama sprach er tibetisch, und er sagte nie etwas, ohne darum gebeten worden zu sein. Es waren noch mehrere weitere Personen bei dem Gespräch anwesend: Barry Kerzin, der amerikanische Arzt des Dalai Lama, der drei Jahre zuvor als buddhistischer Mönch ordiniert worden war, und der tibetische Leibarzt Tsetan Sadutshang. Beide Ärzte waren sowohl wegen ihres Interesses am Thema als auch wegen der Sorgen um die Gesundheit des Dalai Lama anwesend; er war gerade einen Tag vorher aus der Mayo-Klinik entlassen worden, in die er wegen einer regelmäßig stattÀndenden Untersuchung gegangen war. Am anderen Ende des Zimmers in vier bis fünf Meter Entfernung saß meine Familie: mein Sohn Tom Ekman, der kürzlich sein Examen als Jurist abgelegt hat und der dem Dalai Lama vorher noch nicht begegnet war, meine Frau Mary Ann Mason, die zu diesem Zeitpunkt Dekanin des Graduiertenkollegs der University of California

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in Berkeley war und 2003 (als stille Beobachterin) an meiner 20-minütigen Audienz beim Dalai Lama teilgenommen hatte, bei der eine Frage erörtert wurde, die ich wissenschaftlich untersuchen wollte („Warum ist die Meditation, bei der man sich auf die Atmung konzentriert, gut für die Emotionen?“), und meine Tochter Eve Ekman, Künstlerin, Schriftstellerin und Sozialarbeiterin, die als Beobachterin an der fünftägigen Konferenz über destruktive Emotionen im Jahre 2000 teilgenommen hatte, bei der ich den Dalai Lama erstmals getroffen hatte. Das letzte Mitglied der Gruppe war Clifford Saron, Psychologe, Neurowissenschaftler, technikbegeisterter Mensch und ein persönlicher Freund von mir. Cliff, dessen Wissen über das Gehirn und über den Buddhismus viel umfangreicher ist als meins, war nicht nur eingeladen worden, um die unerlässliche Tonaufzeichnung in hoher Qualität zu gewährleisten, sondern auch um mir während der Pausen mit seinem Rat bei der Formulierung von Fragen über den Buddhismus zur Seite zu stehen. Schwer zu beschreiben ist das Erlebnis, einen Tag nach dem anderen über Fragen zu sprechen, mit denen ich mich in meinen Gedanken und in meinen Veröffentlichungen den größten Teil meines Lebens beschäftigt habe: Es war weit mehr als Konversation, aber eigentlich auch kein Streitgespräch. Für beide Seiten stellten sich neue Herausforderungen und, wie ich gehofft hatte, sprudelten immer wieder neue Ideen hervor, auf die ich noch nicht gekommen war. Ich bin stets von Neuem fasziniert, wenn sich eine neuartige Idee herausbildet. Doch diesmal war die Faszination dadurch um ein Vielfaches größer, dass ich mehr über das buddhistische Denken erfuhr, diesen bemerkenswerten Mann besser kennenlernte und mitbekam, wie sich seine Auffassungen im Laufe unserer Diskussion änderten. Mit „Hochstimmung“ wäre meine Gefühlslage nach unserem Treffen nur unzureichend beschrieben, auch „tiefe Befriedigung“ träfe nur einen Teilaspekt. Ich

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war nicht im Mindesten erschöpft und obwohl ich spürte, dass dies nicht unser letztes Gespräch war, ahnte ich nicht, dass wir im darauffolgenden Jahr mehr als dreimal so viel Zeit miteinander verbringen sollten. In den nächsten Monaten spielte ich die Bänder einer Gruppe von Kollegen und Freunden vor, die sich für das Thema interessierten und die viele Fragen zu einzelnen Punkten stellten, die einer von uns angesprochen hatte; dies verdeutlichte mir, dass ich mich noch einmal mit dem Dalai Lama treffen musste.4 Ein Jahr später kamen wir in Indien bei einer fünftätigen Konferenz zusammen, die im April 2007 vom Mind and Life Institute Ànanziell unterstützt wurde. Während dieser Konferenz wurden alle Wissenschaftler in der Gruppe gebeten, ihre Reaktionen auf das vom Dalai Lama verfasste Buch The Universe in a Single Atom (dt. Die Welt in einem einzigen Atom) zu erläutern; in diesem Buch beschreibt er, was er aus seinen vielen Begegnungen mit Wissenschaftlern gelernt hat. Wir, der Dalai Lama und ich, schafften es, uns während der Konferenzpausen zweimal zu treffen, jedes Mal anderthalb Stunden. Diese Privatgespräche fanden in einem Zimmer statt, das für Treffen mit Einzelpersonen oder kleinen Gruppen genutzt wurde; die Wände waren voller Thangkas*, und es gab eine Klimaanlage. (Der Dalai Lama mag es gern viel kühler als ich, obwohl seine Mönchsrobe seine Haut weniger bedeckt als die herkömmliche westliche Kleidung.) Wie immer bei diesen vertraulichen Begegnungen zog er seine Schuhe * Ein Thangka ist ein gemaltes oder gesticktes fahnenartiges Bild, das in einem Kloster oder an einem Familienaltar aufgehängt wird und bei zeremoniellen Prozessionen von den buddhistischen Lehrmeistern (Lamas) getragen wird. Thangka-Bilder waren ursprünglich unter reisenden Mönchen beliebt, weil sich die Rollbilder leicht ausrollen und von Kloster zu Kloster transportieren ließen. Die Thangkas wurden zu wichtigen Hilfsmitteln für die Verbreitung der Lehre und stellten das Leben des Buddha, einÁussreicher Lehrmeister, von Gottheiten und Bodhisattvas dar. Nach Auffassung der Buddhisten sind diese Rollbilder eine Manifestation des Göttlichen.

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aus und kreuzte seine Beine. Wir saßen sehr nah beieinander, keiner lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Man hatte mich gewarnt, dass er, wenn er sich zurücklehnt, das Interesse verloren hat; aber dazu kam es nicht. Geshe Dorji Damdul gesellte sich zu uns, übersetzte und trug bisweilen etwas zum Gespräch bei. Gelegentlich vertieften sich die beiden in ein langes Gespräch auf Tibetisch und versuchten zu entscheiden, ob meine wissenschaftliche Sichtweise irgendeine Entsprechung in den buddhistischen Texten fand. Am Ende der Sitzungen erläuterte ich meinen Plan, einen großen Teil des hier Besprochenen an den Stellen in den ursprünglichen Dialog einzufügen, wo die Leser ausführlichere Erklärungen benötigten. Ich schlug vor, Jinpa den neu zusammengestellten Text zu geben, der ihn dann gegenüber der wörtlichen Mitschrift auf Ungenauigkeiten überprüfen könnte. Aber ich wollte auch wissen, ob sich der Dalai Lama selbst noch einmal das Manuskript ansehen wolle, bevor ich es an den Verlag schicke. „Wer sind die Autoren“, fragte er zur Klärung. „Der Dalai Lama und Paul Ekman“, erwiderte ich. Daraufhin sagte er, er würde mich gerne einladen, wieder nach Indien zu kommen und ihm das gesamte Manuskript laut vorzulesen, damit er es prüfen und überarbeiten könne. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte in nächster Zeit Termine in Europa, die ich nicht absagen konnte. Doch einer der leitenden Angestellten des Dalai Lama beruhigte mich, ich solle mir keine Sorgen machen: Ich müsse mindestens ein Jahr warten; denn in seinem Kalender seien keine Termine mehr frei für ein Projekt, das wahrscheinlich eine Woche in Anspruch nehmen würde. Als Jinpa, der an der Konferenz teilnahm, davon hörte, legte er sich noch einmal für das Buch ins Zeug und argumentierte, es sei falsch, seine Veröffentlichung zu verzögern. Und deshalb reiste ich Ende Januar 2007 kurz vor Beginn der Monsunzeit erneut nach Indien. Täglich

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trafen wir uns fünf Stunden, fünf Tage hintereinander. Es war anregend und anstrengend. Diesmal waren wieder andere Menschen als Beobachter dabei. Bernard Schiff, ein Psychiater im Ruhestand und enger Freund, las meinen Part der vergangenen Gesprächen laut vor. Ich dachte, er könne mir in seiner Doppelrolle gut nützliche Empfehlungen geben, aber es stellte sich heraus, dass ich zu sehr mit dem Thema beschäftigt war, als dass ich irgendwelche Empfehlungen haben wollte. Diese Gelegenheit, dem Dalai Lama zu begegnen, bereitete Bernard große Freude, obwohl es ihn manchmal frustrierte, dass er nur Vorleser, aber nicht Teilnehmer sein konnte. Ich las laut vor, was der Dalai Lama gesagt hatte. Wir kamen selten weiter als eine Seite, bis er oder ich oder wir beide das Vorlesen unterbrachen oder auf das eingingen, was gesagt worden war. Zu uns gesellten sich der Bruder des Dalai Lama – der ein paar Mal Kommentare zu dem Wortwechsel abgab – und dessen Sohn. Ein tibetischer Gelehrter vom nahe gelegenen Institut für Dialektik war anwesend, um jegliche Ungewissheit darüber aus dem Weg zu räumen, wie bestimmte Problemstellungen in buddhistischen Texten erklärt wurden; während der Lesung sprach er nie englisch. Diese letzten Begegnungen steuerten ein weiteres außerordentlich wertvolles Drittel zu diesem Buch bei. Und das überzeugte mich, die ursprünglichen Diskussionen nach Themen neu zu organisieren und miteinander zu verbinden, was wir zu jeder angesprochenen Problemstellung zu sagen hatten, gleichgültig ob dies nun während der ersten, der zweiten oder der dritten Gesprächsrunde ausgesprochen worden war.5 Die Neuorganisation half mir auch, die Augenblicke in unserem Zwiegespräch auszumachen, wo – über das Zusammenspiel zwischen dem Dalai Lama und mir hinaus – weitere Erklärungen hilfreich gewesen wären. Diese erscheinen nun als gelegentliche Fußnoten (Erläuterungen zu buddhistischen

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oder wissenschaftlichen Begriffen bzw. im Text erwähnten Personen) und als Kommentare buddhistischer Denker oder westlicher Wissenschaftler; zu Ersteren gehören Geshe Dorji Damdul sowie die Meditationslehrer Margaret Cullen und B. Alan Wallace, zu Letzteren Frans de Waal, Richard J. Davidson, Margaret Kemeny, Robert Levenson und Cliff Saron. Wenn ich mit dem Sprechen an der Reihe war, versuchte ich klarzustellen, ob ein Kommentar auf wissenschaftlichen Befunden beruhte – von mir oder von anderen. Aber zu vielen der interessantesten und wichtigsten Fragen, über die wir nachdachten, gab es noch keine wissenschaftlichen Befunde. Daher bat ich andere Wissenschaftler, ihre Auffassung zu einigen dieser Fragen, aber auch zu Fragen über ihre eigene Arbeit, auf die wir in unserer Diskussion gekommen waren, darzustellen. Obwohl ich der Meinung bin, dass meine Ideen Extrapolationen aus be-

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stehenden Befunden sind, sollten sie eher als etwas bewertet werden, was in der Tradition der Philosophie steht als in der der Naturwissenschaft; sie sollten angenommen oder zurückgewiesen werden, je nachdem ob sie sich als nützlich beziehungsweise interessant herausstellen oder nicht. Ich sollte noch vom Dalai Lama erfahren, dass Buddha seine Leser zur Vorsicht gemahnt hatte, nur das zu akzeptieren, was sie als nützlich empfanden. Zum Einstieg sprachen wir darüber, wie die Menschen die Welt sehen (ein Thema, das meiner Auffassung nach beim Dalai Lama für sein Konzept des Mitgefühls grundlegend ist), und beschäftigten uns eingehender mit dem vermeintlichen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion. Nachdem diese Voraussetzungen geschaffen worden waren, lenkten wir unsere Aufmerksamkeit auf das Wesen unserer Emotionen, das Thema, das uns angeregt hatte, uns im Einzelgespräch zu treffen. Als wir die Unterschiede zwischen Emotionen und anderen geistigen Zuständen ausloteten, berichtete ich dem Dalai Lama über einige der Befunde aus einem Experiment, das ich zusammen mit meinem Kollegen Robert Levenson durchgeführt hatte. Hier ging es um Matthieu Ricards Fähigkeit, eine schwierige Person, mit der er sich in ein Gespräch einließ, zu beruhigen. Handelt es sich um einen tief verwurzelten Bestandteil von Matthieus Temperament, oder ist es ein Ergebnis seiner buddhistischen Ausbildung? Der Fall Matthieu schien aufschlussreich zu sein, wenn wir uns die Probleme ansehen, mit denen Menschen konfrontiert sind, die sehr schnell emotional werden. Wir erörterten taktische Maßnahmen zur Erlangung eines emotionalen Gleichgewichts, wie sie durch die buddhistische Tradition und durch die westliche Psychologie zur Verfügung gestellt werden. Später beschäftigten wir uns mit den Emotionen des Ärgers, des Grolls und des Hasses, bevor wir uns der Frage zuwandten, wie man Mitgefühl fördern könne. Während wir

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von Anfang an darin übereinstimmten, dass Ärger konstruktiv sein kann, überzeugte mich der Dalai Lama, dass Hass stets langfristig unser Leben zerfrisst. Wir dachten darüber nach, wie man Zustände des Grolls und der Unzufriedenheit, auf die viele KonÁikte zwischen den Menschen auf der Welt zurückgehen, abstellen kann. Als wir in unserem Gespräch auf das Mitgefühl kamen, erlebte ich mit, wie der Dalai Lama an dieser Stelle zu einem Darwinisten wurde und mir gegenüber Darwin zitierte! Als wir Beispiele für Mitgefühl und moralische Tugenden bei anderen Lebewesen vor unserem geistigen Auge vorüberziehen ließen, dachten wir schon bald über die Möglichkeiten nach, Mitgefühl auf alle menschlichen Wesen zu auszudehnen. Im Schlusskapitel unseres Gesprächs werde ich von meiner persönlichen Wandlung berichten, die sich vor sechs Jahren

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während einer Pause bei meinem ersten Treffen mit dem Dalai Lama ereignet hatte. Als meine Tochter Eve eine Frage zu Ärger und Liebe stellte und der Dalai Lama antwortete, hatte ich eine ungewöhnliche Wahrnehmung, die mein eigenes emotionales Leben veränderte. Ganz Wissenschaftler teilte ich dem Dalai Lama meinen Befund und meine Erklärung für das mit, was sich damals ereignet hatte, und bat ihn, mir seine eigene Erklärung dafür zu geben. Obwohl diese Themen bereits in einigen Büchern behandelt worden sind (unter anderem auch vom Dalai Lama und von mir selbst), bietet unser Gespräch ein Maß an Unmittelbarkeit, Hingabe und Tiefe, das im Hin und Her unseres Wortwechsels zum Ausdruck kommt. Der Dialog liefert auch einen besonders anschaulichen Einblick in die bemerkenswerte Persönlichkeit des Dalai Lama. An einem bestimmten Punkt sagte ich ihm, wie erleichtert ich sei, dass ich in unserem Gespräch meine Begeisterung oder die Nachdrücklichkeit meines Arguments nicht verstecken müsse. Gewöhnlich fühle ich mich verpÁichtet, dies zu tun, weil die Menschen meine Aufregung oder meine Leidenschaft irrigerweise als Ärger interpretieren könnten. Der Dalai Lama erwiderte: „Warum sollten wir miteinander reden, wenn wir keine leidenschaftlichen Gefühle hätten?“ Weil ich klarer, lauter und deutlicher sprach als bei meinem gewöhnlichen Genuschele, war oft keine Übersetzung erforderlich; dies ermöglichte einen besseren GesprächsÁuss, als es der Fall gewesen wäre, wenn jedes meiner Worte hätte übersetzt werden müssen. Obwohl der GesprächsÁuss häuÀg unterbrochen wurde, wenn der Dalai Lama etwas auf Tibetisch erwiderte, was dann übersetzt werden musste, war er manchmal so bedacht darauf voranzuschreiten, dass er Englisch sprach; dies zeigt auf einzigartige Weise, wie er denkt. Er sprach etwa ein Drittel der Zeit englisch, bei unseren späteren Begegnungen sogar noch häuÀger. Ich habe es vermieden,

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seine Grammatik zu korrigieren, nur manchmal habe ich ein Wort oder einen Satz in eckigen Klammern eingefügt, damit das, was er sagte, verständlich wird. Er spricht in vielen Nuancen der Intonation und der Betonung, was natürlich beim gedruckten Text verloren geht; aber das Gefühl dafür, wie es ist, mit diesem Mann zu reden, kommt am deutlichsten in den ursprünglich englisch formulierten Aussagen zum Ausdruck.* Ich hoffe, Sie empÀnden unsere Gespräche als genauso spannend und zum Nachdenken anregend wie wir. Paul Ekman

* Anmerkung des Übersetzers: In der englischen Ausgabe des Buchs sind die Textteile, in denen der Dalai Lama tibetisch und nicht englisch sprach, besonders gekennzeichnet. In der deutschen Übersetzung werden diese Textteile mit ( T ) markiert. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Textarten können natürlich in der deutschen Übersetzung nicht mehr so deutlich hervortreten. Wenn das, was der Dalai Lama sagte, durch Paul Ekman ergänzt wurde, so steht dies (wie in der englischen Ausgabe) in eckigen Klammern.

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