Enid Blyton Der Zirkus der Abenteuer - Dtv

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Gefangen. 93. 13. Der blinde Passagier. 101. 14. Jack ist ganz auf sich gestellt. 109. 15. Eine nützliche Karte. 117. 16. Beim Zirkus. 125. 17. Endlich in Borken!
Enid Blyton Der Zirkus der Abenteuer

Enid Blyton wurde 1897 in Südlondon geboren und wollte schon als Kind Schriftstellerin werden. Ihr erstes Kinderbuch wurde 1922 veröffentlicht. Seither erschienen über 700 Titel mit spannenden und fantasievollen Geschichten, die in viele Sprachen übersetzt wurden und Enid Blyton schon zu Lebzeiten zur erfolgreichsten Kinderbuchautorin der Welt machten. Enid Blyton starb 1968. Weitere Titel von Enid Blyton bei dtv junior: siehe Seite 4

Enid Blyton

Der Zirkus der Abenteuer Aus dem Englischen von Johanna Ellsworth

Deutscher Taschenbuch Verlag

Von Enid Blyton sind außerdem bei dtv junior lieferbar: Der Fluss der Abenteuer Das Schiff der Abenteuer Die Insel der Abenteuer Die See der Abenteuer Die Burg der Abenteuer Der Berg der Abenteuer Das Tal der Abenteuer

Das gesamte lieferbare Programm von dtv junior und viele andere Informationen finden sich unter www.dtvjunior.de

Ungekürzte Neuausgabe in neuer Übersetzung 5. Auflage 2012 2003 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © Enid Blyton Limited, London 1952 Titel der englischen Originalausgabe: ›The Circus of Adventure‹, 1952 erschienen bei Macmillan, London © der deutschsprachigen Ausgabe: 1953, 2001 Dressler Verlag GmbH (Imprint Klopp), Hamburg Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Dieter Wiesmüller Satz: Clausen & Bosse, Leck Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany · ISBN 978-3-423-70764-0

Inhalt

1. Zurück aus dem Internat

7

2. Gustavus trifft ein

15

3. Gussy und Kiki

22

4. Auf nach Little Brockleton

30

5. Das »Haus zum Steinbruch«

37

6. Alles dreht sich um Gussy

45

7. Eine überraschende Neuigkeit

53

8. Bills Erklärung

61

9. Ein Nachmittagsausflug

69

10. Ein dringender Anruf

77

11. Nächtliche Ereignisse

85

12. Gefangen

93

13. Der blinde Passagier

101

14. Jack ist ganz auf sich gestellt

109

15. Eine nützliche Karte

117

16. Beim Zirkus

125

17. Endlich in Borken!

132

18. Auf zur Burg

139

19. Ein Abenteuer in der Nacht

147

20. Der Weg nach draußen

155

5

21. Ein waghalsiger Plan

163

22. Die Flucht

171

23. Vorsicht vor den Bären!

179

24. Morgendämmerung

187

25. Der Zirkus wird durchsucht

195

26. Der fliegende Händler

202

27. Eine Überraschung – und ein Plan

210

28. Zurück zur Burg

218

29. Eine aufregende Zeit

226

30. »Gott schütze den König!«

233

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1. Kapitel

Zurück aus dem Internat In dem stillen Haus war es nicht länger still. Die vier Kinder waren aus dem Internat zurück und brachten gerade unter Rufen und Lachen ihre Koffer herein. Kiki, die Papageiendame, nahm natürlich an der allgemeinen Aufregung teil und kreischte laut. »Tante Allie! Wir sind wieder da!«, rief Jack. »Sei still, Kiki! Ich kann mein eigenes Wort nicht mehr verstehen!« »Mum! Wo bist du?«, rief Dina. »Wir sind wieder zu Hause!« Ihre Mutter eilte auf sie zu und strahlte über das ganze Gesicht. »Dina! Philip! Ich habe euch gar nicht so früh erwartet! Hallo, Lucy, du bist aber gewachsen! Und Philip, du strotzt ja vor Gesundheit!« »Ich weiß auch nicht, warum«, sagte Philip grinsend und umarmte Mrs Cunningham. »Das Essen in der Schule ist so grauenvoll, dass ich es grundsätzlich nicht anrühre!« »Immer dasselbe Lied«, sagte Mrs Cunningham und lachte. »Hallo, Kiki! Sag ›guten Tag‹!« »Guten Tag!«, sagte Kiki feierlich und streckte ihre linke Kralle vor, als wolle sie ihr die Hand schütteln. »Die neueste Nummer«, sagte Jack. »Aber der falsche Fuß, meine Liebe. Kannst du links und rechts immer noch nicht unterscheiden?« »Links, rechts, links, rechts, links, rechts«, plapperte Kiki sofort im Takt. »Links, rechts, links . . .« 7

»Das reicht«, sagte Jack. Er wandte sich an Mrs Cunningham. »Wie geht es Bill? Ist er auch zu Hause?« »Er wollte hier sein, um euch alle zu begrüßen«, sagte Mrs Cunningham, die seit einiger Zeit mit Bill verheiratet war. »Aber er hat heute Morgen einen unerwarteten Anruf bekommen, den Wagen genommen und ist gleich nach London gerast.« Die vier Kinder stöhnten. »Hoffentlich ist es kein Job, den er ausgerechnet jetzt machen muss, wo wir über die Osterferien nach Hause gekommen sind!«, sagte Lucy. »Bill muss immer zur falschen Zeit an irgendwelchen geheimen Projekten arbeiten.« »Hoffentlich nicht«, sagte Mrs Cunningham. »Ich warte bereits auf seinen Anruf um zu hören, ob er heute Abend nach Hause kommt oder nicht.« »Mum! Sollen wir unsere Koffer hier unten auspacken und unsere Sachen hinaufbringen?«, rief Dina. »Wenn vier Koffer oben im Flur herumstehen, kann man sich gar nicht mehr bewegen.« »Ja. Aber lasst zwei der Koffer unten, wenn sie leer sind«, sagte ihre Mutter. »Wir werden morgen alle miteinander verreisen!« Für die Kinder war das eine Überraschung. Sie drängten sich sofort um Mrs Cunningham. »Du hast in deinen Briefen kein Wort davon gesagt! Wo fahren wir hin? Warum hast du uns nichts gesagt?« »Ach, eigentlich war es Bills Idee, nicht meine«, antwortete Mrs Cunningham. »Er fand, es wäre mal etwas anderes. Ich war selber überrascht, dass er die Reise organisiert hat.« »Organisiert! Und uns kein Sterbenswort davon gesagt!«, sagte Philip. »Sag mal – ist da irgendwas im Busch? Komisch, dass Bill das so plötzlich einfällt. Das letzte Mal, als er uns im Internat besucht hat, hat er nur davon gespro8

chen, was wir in den vier Wochen Osterferien zu Hause alles unternehmen würden.« »Ich glaube nicht, dass irgendetwas daran sonderbar ist«, sagte seine Mutter. »Bill hat manchmal so spontane Einfälle, wisst ihr.« »Also – wohin fahren wir denn alle?«, fragte Jack neugierig und schubste Kiki vom Büfett, die dort gerade versuchte den Deckel von der Keksdose zu lösen. »Der Ort heißt Little Brockleton«, erwiderte Mrs Cunningham. »Sehr idyllisch. Mitten auf dem Land. Genau das, was euch allen gefällt. Dort könnt ihr den lieben langen Tag in alten Scheunen und Gemäuern herumstöbern.« »Little Brockleton«, sagte Philip. »Brock bedeutet Dachs. Ob es dort wohl Dachse gibt? Ich wollte schon immer mal Dachse beobachten. Das sind süße kleine, bärenartige Viecher.« »Na, dann wird es dir dort gefallen«, sagte Dina. »Das bedeutet wohl, dass du dir ein paar Dachse als Haustiere zulegen wirst, noch bevor wir die Gegend erkundet haben. Igitt!« »Dachse sind echt nette Tiere«, fing Philip an. »Sauber und mit ganz niedlichen Manieren und . . .« Lucy quietschte vor Vergnügen. »Oje – dann sind sie dir aber gar nicht ähnlich, Philip!« »Unterbrich mich nicht und mach keine dummen Bemerkungen«, sagte Philip streng. »Wie ich schon sagte, sind Dachse . . .« Doch niemand wollte es hören. Jack hatte eine Frage: »Gibt es in der Gegend von Little Brockleton interessante Vögel?«, wollte er wissen. »Und wo liegt es? Am Meer?« Jack war ganz verrückt nach Vögeln. Solange er Vögel beobachten konnte, war er überglücklich. Mrs Cunningham lachte. 9

»Du und deine Vögel, Jack, und dazu Philip und seine Dachse! Ich kann dir nichts über die Vogelarten sagen, die es dort gibt – ich nehme an, dieselben wie überall. Also, was ist jetzt mit den Koffern? Wir packen sie aus, bringen die Koffer der Jungen nach oben und lassen die der Mädchen hier unten für unsere Reise nach Little Brockleton – sie sind nicht ganz so ramponiert wie eure!« »Kriegen wir was zu essen, wenn wir ausgepackt haben?«, fragte Philip. »Ich verhungere gleich. Weißt du, das Essen im Internat ist so . . .« »Ja, Philip – das habe ich schon öfters gehört«, sagte seine Mutter. »In einer halben Stunde gibt es ein herzhaftes Mittagessen – genau, eure Lieblingsspeisen: kalten Braten, Salat, gebackene Bohnen in Tomatensoße, gebackene Kartoffeln und jede Menge Tomaten . . .« »Ach, klingt das gut!«, sagten alle auf einmal und Kiki hüpfte feierlich von einem Bein auf das andere. »Gut!«, sagte sie. »Gut! Guten Morgen, gute Nacht, gut!« Sie fingen an die Koffer auszupacken. »Kiki hat sich im Zug unmöglich benommen«, erzählte Jack, der mit einem Arm voller Klamotten kämpfte und die Hälfte fallen ließ. »Sie ist unter den Sitz gekrochen, um auf einem alten Bonbonpapier herumzuhacken, und dann stieg ein netter, alter Mann ein. Kiki stopfte ihm das Papier in den Aufschlag seines Hosenbeins – ihr hättet seinen Gesichtsausdruck sehen sollen, als er sich bückte und es entdeckte!« »Und dann fing sie an wie ein Hund zu bellen«, sagte Lucy kichernd, »und der arme alte Mann ist von seinem Sitz gesprungen, als hätte man auf ihn geschossen.« »Peng, peng«, machte Kiki sofort. »Auf die Plätze, fertig, los! Putz dir die Schuhe ab und mach die Tür zu.« »Ach, Kiki! Es ist schön, dich wiederzuhaben und dein 10

albernes Geschwätz zu hören«, sagte Mrs Cunningham lachend. Kiki stellte ihren Kamm auf und stolzierte zu ihr hinüber. Sie rieb ihr Köpfchen wie eine Katze an Mrs Cunninghams Hand. »Wenn du das machst, warte ich immer darauf, dass du gleich anfängst zu schnurren«, sagte Mrs Cunningham und kraulte den Kopf des Papageis. Bald waren sie mit Auspacken fertig. Eigentlich war es sehr einfach: Die dreckige Wäsche wurde in den großen Wäschekorb geworfen, der Rest in die Schubladen gestopft. »Ich weiß gar nicht, warum die Leute immer so eine große Sache ums Packen und Auspacken machen«, meinte Jack. »Kiki, nimm den Schnabel aus meiner Hosentasche! Warum bist du plötzlich so verrückt auf Karamell? Willst du, dass dir der Schnabel zuklebt und du nicht mehr sprechen kannst?« Kiki nahm den Kopf aus Jacks Tasche und kreischte triumphierend. Sie hatte ein Karamellbonbon gefunden. Jetzt würde sie genüsslich das Bonbon auswickeln und dabei Selbstgespräche führen. »Na, damit wird sie eine Weile beschäftigt sein«, sagte Dina dankbar. »Kiki ist immer so laut, wenn sie sich aufregt.« »Genau wie du«, gab Philip wie aus der Pistole geschossen zurück. Dina starrte ihn aufgebracht an. »Seid ruhig, ihr beiden«, sagte Jack. »Keine Streitereien an diesem wunderschönen ersten Ferientag. Mensch, seht euch bloß Lucy an – sie geht die Treppe rauf und lässt auf jeder Stufe ein Paar Socken fallen!« Das Telefon klingelte. Mrs Cunningham rannte an den Apparat. »Das ist Bill!« Es war tatsächlich Bill. Das Gespräch war kurz und bündig und bestand hauptsächlich aus : »Ja. Nein. Okay, ich 11

verstehe. Das stimmt. Nein, natürlich nicht. Ja. Ja. Nein, Bill. In Ordnung. Ja, ich erkläre es ihnen. Also, bis heute Abend. Tschüs.« »Was hat er gesagt?«, wollte Lucy wissen. »Kommt er bald nach Hause? Ich will ihn sehen.« »Ja, er kommt heute Abend gegen halb sechs zurück«, sagte Mrs Cunningham. Auf die vier Kinder machte sie keinen sehr glücklichen Eindruck. Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, zögerte und machte ihn wieder zu. »Mum, was willst du uns erklären?«, fragte Philip sogleich. »Wir haben gehört, wie du gesagt hast: ›Ich erkläre es ihnen.‹ Sollst du uns etwas sagen? Was ist es?« »Sag bloß nicht, dass es irgendwas Schreckliches ist«, sagte Lucy. »Bill kommt doch mit, oder?« »Ja«, sagte Mrs Cunningham. »Na ja, ich hoffe, es macht euch nichts aus, meine Lieben – aber er will unbedingt, dass wir noch jemanden mitnehmen.« »Wen?«, fragten alle gleichzeitig und blickten so grimmig, dass Mrs Cunningham ganz überrascht war. »Doch nicht etwa seine alte Tante?«, fragte Dina. »Ach, Mum, sag bloß nicht, es ist jemand, wegen dem wir uns ständig gut benehmen müssen!« »Nein, natürlich nicht«, sagte ihre Mutter. »Es ist ein kleiner Junge – der Neffe eines Freundes von Bill.« »Kennen wir ihn? Wie heißt er?«, wollte Jack wissen. »Bill hat mir nicht gesagt, wie er heißt«, sagte Mrs Cunningham. »Warum kann er in den Ferien nicht nach Hause fahren?«, fragte Dina empört. »Ich kann kleine Jungs nicht ausstehen. Warum müssen wir ihn mitschleppen? Wahrscheinlich wird er uns alles verderben!« »Nein, das wird er nicht«, sagte Philip sofort. »Kleine Jungs haben sich gefälligst nach uns zu richten, stimmt’s, 12

Jack? Im Internat haben wir genug von der Sorte – wir wissen, wie man mit eingebildeten kleinen Jungs umgeht.« »Okay, aber warum muss er ausgerechnet mit uns mitkommen?«, beharrte Dina. »Hat er keine Eltern?« »Doch – aber er ist Ausländer«, antwortete ihre Mutter. »Er wird in ein englisches Internat geschickt, um eine solide englische Schulbildung zu erhalten. Ich nehme an, seine Familie möchte, dass er ein paar Wochen bei einer britischen Familie verbringt, um unseren Lebensstil kennen zu lernen. Außerdem scheint es bei ihm zu Hause irgendwelche Probleme zu geben – jemand ist krank geworden oder so was.« »Na ja, dann müssen wir halt das Beste draus machen«, sagte Lucy. Sie stellte sich einen kleinen Jungen mit Heimweh vor, den sie trösten und umhegen konnte. »Okay, dann gehört er für die Ferien dir«, sagte Dina, die kleine Kinder nicht ausstehen konnte. »Du kannst ihn in einem Kinderwagen herumfahren und nachts ins Bettchen bringen!« »Sei nicht albern, Dina. So klein ist er nicht mehr«, sagte ihre Mutter. »Seid ihr fertig? Es ist fast Essenszeit, also wascht euch die Hände und kämmt euch.« »Wasch dir die Hände, kämm dir die Haare, wisch dir die Füße ab, putz dir die Nase«, krakeelte Kiki. »Kämm dir die Hände, putz dir die Füße, wisch dir die – die – die . . .« »Jetzt bist du ein bisschen durcheinander gekommen, meine Liebe«, sagte Jack und lachte. Kiki flog auf seine Schulter und fing an zärtlich an seinem Ohrläppchen zu knabbern. Als sie den Klang des Gongs hörte, der plötzlich ertönte, stieß sie ein lautes Kreischen aus und flog ins Esszimmer. Sie wusste genau, was dieses Geräusch bedeutete! »Jack! Kiki hackt auf allen Tomaten herum, wenn du 13

nicht aufpasst«, rief Mrs Cunningham. »Hol sie da weg, schnell!« Doch das war nicht mehr nötig – alle waren beim ersten Klang des Gongs ins Esszimmer gestürmt.

14

2. Kapitel

Gustavus trifft ein

Den Nachmittag verbrachten sie damit, Haus und Garten nach Veränderungen zu durchsuchen. Im Garten blühten schon die ersten Blumen und außer Kopfsalat gab es leider nichts Essbares. Bei ihrem Rundgang stellten sie Kiki den sechs neuen Hühnern vor. »Im Gästezimmer liegt ein neuer Teppich«, sagte Lucy. »Aber sonst hat sich nichts verändert. Ich bin so froh. Ich mag es gar nicht, wenn ich nach Hause komme und alles anders ist. Tante Allie, der kleine Junge schläft bestimmt im Gästezimmer, oder?« »Ja«, sagte Mrs Cunningham. »Ich werde es gleich für ihn vorbereiten. Geh doch zu den anderen in den Garten. Wenn du willst, kannst du ein paar Osterglocken pflücken – wir brauchen einen Strauß im Flur.« Glücklich zog Lucy davon. Der erste Ferientag war immer der allerschönste. Der Gedanke an die vielen, vielen Ferientage, die noch vor ihnen lagen, erfüllte sie mit tiefster Zufriedenheit. »Lucy! Komm her! Kiki amüsiert sich königlich!«, rief Jack. »Schau, wie sie vor den neuen Hühnern angibt!« Kiki saß auf einem Pfosten im Hühnergehege. Die sechs Hennen hatten sich voller Bewunderung um sie geschart. »Gluck-gluck-gluck«, gackerten die Hühner und eine stellte sich auf Zehenspitzen und schlug mit den Flügeln, als wollte sie fliegen. Kiki legte den Kopf auf die Seite, 15

stellte sich auch auf Zehenspitzen, breitete ihre Flügel aus und flog zu den überraschten Hennen hinunter. »Gluck-luck-luck, urrrrgh!«, sagte sie ernst. »Gluckluck-luck, urrrrgh!« »Gluck-uck-uck, gluck!«, antworteten die Hühner bewundernd und kamen näher. Eine Henne hackte mutig auf den Schwanzfedern des Papageis herum. Eine Unverschämtheit! Kiki tanzte um die erschrockenen Hennen herum und machte ein Geräusch wie ein Flugzeug, das Motorprobleme hat. Die Hühner machten sich schleunigst auf und davon, flüchteten zum Hühnerhaus und purzelten bei dem Versuch, alle gleichzeitig durch den engen Eingang zu kommen, wild durcheinander. Glucksend watschelte Kiki ihnen hinterher. »Kinder!« Mrs Cunningham rief aus einem offenen Fenster: »Die Hühner werden nie Eier für uns legen, wenn ihr zulasst, dass Kiki sie erschreckt.« »Kiki ist ins Hühnerhaus geschlüpft – wahrscheinlich wird sie sich in einen der Nistkästen setzen und versuchen auch ein Ei zu legen!«, rief Jack zurück. »Kiki, komm heraus!« Kiki tauchte wieder auf und spähte fragend aus dem schmalen Eingang. »Polly, setz den Teekessel auf«, sagte sie friedlich, »gluck-luck-luck, urrrrgh!« Dann flog sie auf Jacks Schulter und die Hennen sahen einander erleichtert an. Konnten sie es wagen wieder herauszukommen und spazieren zu gehen? »Da ist die Nachbarskatze«, sagte Dina. »Wahrscheinlich will sie sehen, was die ganze Aufregung zu bedeuten hat. Jack, pass auf Kiki auf.« »Ach, wenn die Katze noch näher kommt, bellt Kiki wie ein Hund«, erwiderte Jack. »Kommt – wir wollen sehen, was der Gärtner im Gewächshaus angepflanzt hat.« 16

Es war ein angenehmer, sonniger Nachmittag und die vier genossen das Nichtstun. Alle warteten sehnsüchtig auf Bill. Dann wäre die Familie vollständig – abgesehen davon, dass sie natürlich ein Mitglied zu viel hatte, wenn Bill wirklich den fremden Jungen mitbrachte! »Ich warte am Tor auf Bill«, verkündete Lucy nach dem Tee. »Wir kommen mit«, sagte Philip. »Der gute alte Bill! Wie gut, dass er nicht gerade jetzt eines seiner geheimen Projekte hat und mit uns verreisen kann!« Während sie warteten, stellte Kiki immer wieder aufgeregt ihren Kamm auf. Sie wusste genau, dass Bill bald kommen würde. »Bill! Kiki, sei still!«, wiederholte sie immer wieder. »Wo ist Bill? Peng macht Bill!« »Du bist ein silly Billy«, sagte Lucy und streichelte den Nacken des Papageis. »Ja, du bist ein alberner Billy!« »Du bist bescheuert, sie so zu nennen«, sagte Dina. »Gerade jetzt, wo wir Bill erwarten! Ich wette, sie wird ›silly Billy‹ kreischen, sobald sie ihn sieht!« »Silly-Billy, Billy-Silly!«, rief Kiki. Sie liebte Wörter mit ähnlichem Klang. Jack gab ihr einen Klaps auf den Kopf. »Nein, Kiki, hör auf damit. Seht mal, da kommt ein Auto. Vielleicht ist es Bill.« Aber es war nicht Bill. Als es vorbeifuhr, hupte Kiki laut – trööt, trööt, trööt –; es klang genau wie eine Autohupe. Das verwirrte den Fahrer. Er konnte kein anderes Fahrzeug entdecken. Er hupte zurück und glaubte wohl, dass irgendwo eine Kurve kommen müsste. Und dann stieß Lucy einen Freudenschrei aus. »Bill ist da!«, rief sie. »Ein großes schwarzes, schickes glänzendes Auto! Bill! Hey, Bill!« Sie hatte Recht. Es war tatsächlich Bills Wagen. Er fuhr 17

bis ans vordere Tor und grinste die Kinder fröhlich hinter der Windschutzscheibe an. Neben ihm saß jemand. War das der Junge? Bill machte die Fahrertür auf und sprang heraus. Die vier Kinder stürzten sich auf ihn. »Bill! Guter alter Bill! Wie geht’s, Bill?« »Silly-Billy!«, kreischte eine Stimme. »Ach – guten Abend, Kiki«, sagte Bill, als der Papagei auf seiner Schulter landete. »Immer noch derselbe unhöfliche alte Vogel! Du willst mich wohl zu Hause haben, damit ich dir Manieren beibringen kann, wie?« Kiki gackerte wie eine aufgeregte Henne. »Hör mal – leg mir bloß keine Eier in meinen Kragen!«, sagte Bill. »Warum gackerst du so? Dina, wo ist eure Mutter?« »Da ist sie«, sagte Dina, als Mrs Cunningham ans Tor gerannt kam. Bill wollte ihr etwas zurufen, als ein sehr lautes Hüsteln aus dem Wagen ertönte – ein Hüsteln, das nicht zu überhören war. »Ach – das hab ich ganz vergessen«, sagte Bill. »Ich habe einen Gast mitgebracht. Hast du es ihnen gesagt, Allie?« »Ja«, sagte Mrs Cunningham. »Wo ist er denn? Ach, er sitzt noch im Auto.« »Steig doch aus«, sagte Bill mitten in diese peinliche Stille hinein. Der Besitzer des lauten Hustens versuchte so würdig wie möglich auszusteigen. Alle starrten ihn an. Er war ungefähr elf Jahre alt und sah ziemlich exotisch aus. Sein blauschwarzes Haar war lockig und ungewöhnlich lang. Seine Augen waren so dunkel wie sein Haar und er hatte dichtere Wimpern als die Mädchen. Außerdem hatte er ausgezeichnete Manieren. Er ging zu Mrs Cunningham und nahm die Hand, die sie ihm hinstreckte. Doch statt sie zu schütteln, beugte er sich darüber und berührte sie mit den Lippen. Mrs Cunning18

ham musste lächeln. Die vier Kinder sahen ihm amüsiert zu. »Herzlichen Dank, meine Dame«, sagte er mit einem starken Akzent. »Kein Problem«, sagte Mrs Cunningham. »Hast du schon Tee getrunken?« Doch bevor der Junge sich herabließ, diese Frage zu beantworten, gab er noch eine Kostprobe seiner guten Erziehung. Er ging zu Dina, und bevor die wusste, wie ihr geschah, ergriff er ihre Hand und beugte sich darüber. Sie kreischte und riss ihre Hand zurück. »Lass das!«, sagte sie. Lucy versteckte ihre Hände auf dem Rücken. Sie wollte ebenfalls keinen Handkuss. Was für ein merkwürdiger Junge! »Gus, alter Kumpel – hier schüttelt man sich nur die Hände«, sagte Bill und bemühte sich, sein Vergnügen über die empörten Mienen der Mädchen zu unterdrücken. »Äh – das ist Gustavus Barmilevo, Allie. Er wird die nächsten paar Wochen bei uns verbringen, weil sein Onkel mich gebeten hat, mich um ihn zu kümmern.« Gustavus Barmilevo verbeugte sich tief, doch er versuchte nicht, noch weitere Hände zu küssen. Bill stellte den Rest der Kinder vor. »Dina, Lucy, Jack und Philip. Ich – äh – hoffe, dass ihr euch schnell anfreunden werdet.« Die beiden Jungen schüttelten Gus die Hand und musterten ihn voller Unbehagen. Du liebe Güte! Würden sie die ganzen Ferien mit diesem seltsamen Knaben verbringen müssen? Jedes Mal, wenn Gus eine Hand schüttelte, machte er eine komische kleine Verbeugung. »Es freut misch, disch kennen zu lärnen«, sagte er. »Was iss das für ein Vogel? Wie nennt ihr es?« 19

»Es ist ein Kiki-Vogel«, sagte Jack mit ernster Miene. »Gus, das ist Kiki. Kiki, das ist Gus.« Kiki streckte wie gewöhnlich ihre linke Kralle aus. Gus wirkte sehr überrascht, doch seine Manieren waren wirklich tadellos. Er streckte seine Hand aus und schüttelte Kikis Kralle. Leider grub Kiki ihre Krallen in seine Finger und er schrie laut auf. »Was für ein Krach, was für ein Krach!«, sagte Kiki erbost. »Wisch dir die Füße ab. Holt einen Arzt!« »Mein Finger bluttet«, sagte der Junge mit tränenreicher Stimme. »Seht, wie er bluttet.« »Holt einen Arzt, Polly hat sich erkältet, holt einen Arzt«, rief Kiki, die sich köstlich amüsierte. Plötzlich merkte der Junge, dass es der Papagei war, der sprach. Er vergaß sein »Blutten« und starrte Kiki überrascht an. »Es sprikt!«, verkündete er erstaunt. »Es sprikt. Es sprikt riktige Wörter. Es sieht meinen bluttig Finger und sprikt, um einen Arzt zu holen. Ich habe noch nie ein Kiki-Vogel gesehen.« »Komm rein, dann mache ich dir ein Pflaster auf deinen Finger«, sagte Mrs Cunningham, die das Theater satt hatte. »Ja. Er bluttet«, sagte Gus klagend und beobachtete, wie ein Blutstropfen auf den Boden fiel. Es sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Dann sagte er etwas sehr Seltsames. »Das Vogel«, sagte er und richtete den Blick auf Kiki, »das Vogel – es muss in einen Käfig. Ich befehle es.« »Sei kein Blödmann«, sagte Jack, dem es fast die Sprache verschlagen hatte. »Komm, Tante Allie – lasst uns ins Haus gehen. Sonst ›verbluttet‹ Gus womöglich noch.« Das war eine schreckliche Vorstellung und Gus rannte sofort ins Haus. Die anderen folgten ihm langsam. Was für ein merkwürdiger Junge! 20