Die in der Einleitung erwähnten Fragen lauten wie folgt. Erstens: Was sind
Sozialkompetenzen? Zweitens: Können Sozialkompetenzen in Schule und
Unterricht.
Förderung von Sozialkompetenzen im Unterricht – aber wie? Die Bedeutung und Wirkungsweise kooperativer Lernformen
Sozialkompetenzen gelten als eine der Schlüsselkompetenzen für eine erfolgreiche Lebensbewältigung und eine gut funktionierende Gesellschaft. Für die Schule geht dies mit einem erweiterten Erziehungsauftrag einher. Vor diesem Hintergrund versucht dieser Beitrag drei Fragen zu beantworten.
Die in der Einleitung erwähnten Fragen lauten wie
sationsprozessen aufgebaute Kompetenzen massgeb-
folgt. Erstens: Was sind Sozialkompetenzen? Zweitens:
lich beeinflusst werden können. Und selbst wenn man
Können Sozialkompetenzen in Schule und Unterricht
von Förderungsmöglichkeiten durch die Schule aus-
überhaupt gefördert werden? Und drittens: Wie kann
geht, so ist drittens keineswegs klar, mittels welcher
eine solche Förderung aussehen und welche Rolle spie-
Verfahren eine Unterstützung gelingt. In diesem
len dabei kooperative Lernformen.
Zusammenhang werden häufig kooperative Lernformen als zu bevorzugende Methode postuliert, ohne
1
EINLEITUNG
dass dazu eine differenzierte Begründung erfolgt.
Seit den 1970er Jahren hat der Begriff der Sozial-
Der vorliegende Beitrag widmet sich diesen Fra-
kompetenzen in vielen Bereichen zunehmend an
gen. In einem ersten Schritt wird präzisiert, was hier
Bedeutung gewonnen (Lindgren & Heikkinen, 2004;
unter Sozialkompetenzen verstanden wird (Kap. 2).
Roth, 1971). Inzwischen gibt es einen breiten Konsens
Nachfolgend erfolgt eine Erörterung zur Frage der
darüber, dass Sozialkompetenzen zu denjenigen
Förderbarkeit in der Schule (Kap. 3). Im Fokus stehen
Schlüsselkompetenzen zu zählen seien, die zum einen
dabei insbesondere die Möglichkeiten einer Unterstüt-
dem Einzelnen eine erfolgreiche Teilhabe an der Gesell-
zung durch kooperative Lehr-/Lernformen (Kap. 4). Im
schaft ermöglichen. Für die Gesellschaft als Ganzes sol-
empirischen Teil werden Befunde aus dem Forschungs-
len zum anderen sozialkompetente Bürger zu wirt-
projekt «Anwendungs- und Problemorientierter Unter-
schaftlichem Wachstum, zur Aufrechterhaltung der
richt in gymnasialen Lehr-/Lernumgebungen (APU)»
demokratischen Prozesse und zur Sicherung des sozi-
berichtet. Das APU-Modell, das vor knapp zwei Jahren
alen Zusammenhalts beitragen (Rychen & Salganik,
in der vorliegenden Zeitschrift vorgestellt wurde
2003). Abgeleitet aus diesen individuellen und kollek-
(Eberle, 2006), hat u. a. zum Ziel, soziale und kommu-
tiven Ansprüchen wird insbesondere die Schule
nikative Kompetenzen zu fördern (Kap. 5). Den Beitrag
zunehmend und über alle Bildungsstufen hinweg mit
schliesst eine zusammenfassende Diskussion ab.
Forderungen konfrontiert, die Sozialkompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu fördern.
1
2
WAS SIND SOZIALKOMPETENZEN?
Diesen Forderungen stehen jedoch eine Reihe
Wie Eberle (2006) in seiner theoretischen Herlei-
teils grundsätzlicher Unklarheiten gegenüber. Erstens
tung des APU-Modells darlegt, repräsentieren Sozial-
herrscht wenig Eindeutigkeit im Hinblick auf eine Defi-
kompetenzen1 eine Komponente einer umfassenden
nition des Terminus Sozialkompetenzen. Ein Blick in
Anwendungs- und Handlungskompetenz. Doch was
die Literatur zeigt sehr unterschiedliche Ansätze und
kann man nun unter Sozialkompetenzen verstehen?
Eberle (2006) spricht von
begriffliche Verwendungen. Zweitens ist ungewiss, ob
Man muss wohl Euler (2001) Recht geben, wenn er
sozial-kommunikativen
Sozialkompetenzen in Schule und Unterricht über-
sagt, dass der Begriff Sozialkompetenz zu jenen Termini
streicht er, dass derartige
haupt substanziell gefördert werden können. Gerade
gehört, die häufiger zitiert als definiert werden. Inso-
Kompetenzen i.d.R. in kom-
für die höheren Bildungsstufen wird von Kritikern
fern ist es nicht überraschend, dass die Bandbreite des-
bezweifelt, inwieweit derartige, in langjährigen Soziali-
sen, was darunter subsumiert wird, gross ist. Das Spek-
Kompetenzen. Damit unter-
munikativen Prozessen zur Anwendung kommen.
10
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
«DER BEGRIFF SOZIALKOMPETENZ GEHÖRT ZU JENEN TERMINI, DIE HÄUFIGER ZITIERT ALS DEFINIERT WERDEN.»
DR. STEPHAN SCHUMANN
trum reicht, um nur einige Aspekte zu nennen, von
einen Perspektive das konkrete Verhalten im Blick
sozialer Sensibilität über Offenheit bis zur ebenfalls
haben, verstehen andere unter Kompetenz Verhalten-
viel strapazierten Teamfähigkeit (Seyfried, 1995). Kan-
spotenziale (Kanning, 2003). Diese zweite Position
ning (2003) identifiziert als den kleinsten gemein-
fasst Kompetenz als Disposition auf, welche es erlaubt,
samen Nenner in den unterschiedlichen Ansätzen den
in einer bestimmten Anforderungssituation erfolgreich
Aspekt, dass Sozialkompetenz «irgendetwas» mit zwi-
zu handeln. Ein derartiges Kompetenzverständnis,
schenmenschlichen Interaktionen zu tun hat. Aufgrund
welchem sich im vorliegenden Beitrag angeschlossen
der Vielschichtigkeit des Begriffes schlägt er daher vor,
wird, beinhaltet auch, dass eine kompetente Person
besser die Pluralform zu verwenden und von Sozial-
in einer einzelnen Anforderungssituation auch einmal
kompetenzen statt von einer Sozialkompetenz zu
weniger
sprechen. Diesem Vorschlag wird im vorliegenden
Klebl & Gomez, 2006).
Beitrag gefolgt.
angemessen
handeln
kann
(Bauer-
b) Zur normativ begründeten Ausrichtung des
Aufgrund der Vielfalt der Zugänge zum Konzept
Verständnisses von Sozialkompetenzen: Euler (1997)
der Sozialkompetenzen wird im Folgenden dargelegt,
weist darauf hin, dass die übergeordnete Ausrichtung
was hier darunter verstanden wird. Einer Annäherung an
der Ansätze zu Sozialkompetenzen häufig nicht hinrei-
das Konzept folgt die dem Beitrag zugrunde liegende
chend expliziert wird. Der Blick in diverse Forschungs-
Begriffsdefinition. Im Abschnitt 2.3 wird in ein Modell
richtungen, in denen Sozialkompetenzen untersucht
eingeführt, welches verschiedene, noch zu erläuternde
werden, verweist dabei auf unterschiedliche Herange-
Facetten von Sozialkompetenzen einordnen helfen soll.
hensweisen (Kanning, 2003). So wird beispielsweise in der klinischen Psychologie (Fliegel, Groeger, Künzel,
2.1
ANNÄHERUNG AN DAS KONZEPT
Schulte & Sorgatz, 1998), in der Organisationspsycho-
Die Annäherung an das Verständnis erfolgt ent-
logie (Greif, 1987) und in der Erforschung unterneh-
lang der Beantwortung von drei Fragen: a) Was wird unter Kompetenz im Allgemeinen verstanden?
mensinterner Kommunikation (Theiss, 1995) häufig die Durchsetzung eigener Interessen als Zielhorizont angenommen. Umgekehrt verstehen z.B. manche ent-
b) Welche übergeordnete, normative Intention
wicklungspsychologischen Arbeiten Sozialkompeten-
ist mit dem Verständnis von Sozialkompetenzen
zen vorrangig als Fähigkeiten des Individuums zur
verbunden?
Anpassung an seine Umwelt (Kanning, 2003). Wie in
c) Wie stark sind Sozialkompetenzen bereichs-, inhalts- und situationsspezifisch verankert?
einer grossen dritten Gruppe von weiteren Ansätzen wird in der vorliegenden Studie eine integrierte Position vertreten. Demnach gilt als übergeordnetes Leit-
11
a) Zum Verständnis von Kompetenz im Allgemei-
ziel, dass ein Individuum dann sozialkompetent ist,
nen: Vereinfacht ausgedrückt existieren hierzu in der
wenn ihm in Interaktionsprozessen eine Ausbalancie-
einschlägigen Literatur zwei unterschiedliche Betrach-
rung und Verschränkung von Eigen- und Fremdan-
tungsweisen (Kanning, 2003). Während Vertreter der
sprüchen gelingt (Euler, 1997; Kanning, 2003).
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
c) Zur Bereichs-, Situations- und Inhaltsspezifität:
voll, Typen von Situationen voneinander abzugrenzen.
Solange man keinem Verständnis von Sozialkompe-
Zu den bereichs- und altersunspezifischen Situationen
tenzen folgt, das ausschliesslich auf vergleichsweise
gehören kommunikative Konflikte. Aus Perspektive
stabilen Persönlichkeitsmerkmalen wie z. B. Extra- oder
von Lernenden beziehen sich solche Konfliktsituationen
Introversion beruht, ist relativ einsichtig, dass Sozial-
in der Schule/im Unterricht i. d. R. auf andere Schüle-
kompetenzen neben personalen Faktoren in ihrer
rinnen oder Schüler bzw. auf Lehrpersonen. Andere
Anwendung durch Kontextbedingungen bestimmt sind
Situationen kommunikativen Handelns im Unterricht
(Reschke, 1995; vgl. auch Abbildung 2). Im Folgenden
sind über Konflikte hinaus gehende Formen der Schüler-
wird eine Unterscheidung im Hinblick auf Lebens-
Lehrer-Interaktion und der Schüler-Schüler-Interaktion
bereiche, auf Anforderungssituationen und auf Inhalte
(z. B. Interaktionen im Rahmen von Gruppenarbeiten;
vorgenommen (Behr et al., 2002; Euler, 2004). Je nach
vgl. Behr et al., 2002). Natürlich liessen sich innerhalb
Bedingungsgefüge wird dabei das Verhaltenspotential
der genannten Situationstypen «Konfliktsituation» und
unterschiedlich wirksam.
«Gruppenarbeit» wiederum spezifische Merkmalssets
Zentrale Bereiche zwischenmenschlicher Kommunikation im Kindes- und Jugendalter sind die Fami-
2
Euler (1997, S. 309f.) verwendet statt «Komponente» den Begriff «Welt».
unterscheiden, jedoch soll diese Differenzierung zunächst genügen.
lie, die peer group und die Schule. Zwar steht die Schule
Jede dieser Interaktionssituationen weist ver-
als Handlungsfeld im vorliegenden Beitrag im Vorder-
schiedene Inhaltskomponenten auf. Euler (1997) unter-
grund, allerdings macht der Verweis auf die beiden
scheidet dabei zwischen einer subjektiven Kompo-
anderen grossen Sozialisationsbereiche deutlich, dass
nente, einer intersubjektiven Komponente und einer
Sozialkompetenzen nicht nur in Schule und Unterricht
objektivierten Komponente.2 Die subjektive Kompo-
zur Anwendung kommen.
nente wird durch die die Emotionen, Einstellungen
Innerhalb eines Handlungsfeldes gibt es eine
und Absichten der Handelnden repräsentiert. Die inter-
Vielzahl an Situationen, in denen Sozialkompetenzen
subjektive Komponente beschreibt die Beziehungs-
relevant sind. Grundsätzlich sind solche Situationen
ebene zwischen den Kommunizierenden. Die Sach-
menschlichen Miteinanders aufgrund der grossen
verhalte, die den Gegenstand einer Kommunikation
Anzahl und der Interaktionskomplexität personaler
kennzeichnen, charakterisieren deren objektivierte
und kontextueller Faktoren einzigartig und kaum repli-
Komponente. Im Unterricht ist diese objektivierte
zierbar (Euler, 2004). Aus wissenschaftlicher, aber auch
Komponente im Regelfall durch curricular definierte
aus didaktischer Perspektive erscheint es jedoch sinn-
Lerninhalte repräsentiert. 2.2
Abbildung 1
DEFINITION
Die oben vorgelegte Annäherung an das Ver-
SOZIALKOMPETENZEN – EIN ORDNUNGSMODELL
ständnis von Sozialkompetenzen erlaubt eine Defini-
(IN ANLEHNUNG AN EULER, 1997)
tion, die den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt
Dispositionale Fähigkeiten
wird. Demnach sind Sozialkompetenzen eine Komponente einer umfassenden Handlungskompetenz. Einem
Sozialveranwortungsfähigkeit
allgemeinen Verständnis von Kompetenz als Disposition folgend, sind Sozialkompetenzen durch das
Leitziel: Ausbalancierung und Integration von Eigen- und Fremdansprüchen
Teamfähigkeit
Potenzial eines Menschen charakterisiert, innerhalb seiner Lebensbereiche in spezifischen Typen von kom-
Konsensfähigkeit
munikativen Situationen angemessen und zielgerichtet handeln zu können. Dabei sind Sozialkompetenzen
Konfliktfähigkeit
verständigungsorientiert ausgerichtet, d. h. ihre Anwendung fokussiert auf eine Ausbalancierung und Inte-
Interpretationsfähigkeit
gration von eigenen Ansprüchen und den Ansprüchen der Kommunikationspartnerinnen und Kommunika-
Artikulationsfähigkeit
tionspartner. Subjektive Komponente (Emotionen, Einstellungen, Absichten)
12
Intersubjektive Objektivierte Komponente Komponente (Beziehungsregeln (Kommunikationszwischen den gegenstände) Interaktionspartnern)
NETZWERK 2|08
Inhaltskomponenten
2.3
EIN ORDNUNGSMODELL
Nun wird der Leser vor dem Hintergrund der diversen in Abschnitt 2.1 vorgenommenen Differenzierungen und der Begriffsdefinition vielleicht fragen, ob
WISSENSCHAFT
Tabelle 1 EINZELASPEKTE DER FÜR SOZIALKOMPETENZEN RELEVANTEN DISPOSITIONALEN FÄHIGKEITEN NACH EULER (1997)
Artikulationsfähigkeit
Interpretationsfähigkeit
Konfliktfähigkeit
Fähigkeit …
Fähigkeit …
Fähigkeit …
… zur Aufnahme eines Gesprächs
… zur Einschätzung des
… zur Ambiguitätstoleranz
Gesprächsklimas … zur Offenhaltung eines
… zur Sachinterpretation
… zur Kritikeinbringung
Gesprächs … zum Abschluss eines Gesprächs
… zur Beziehungsinterpretation
… zur Identitätseinbringung
… zur Ausbalancierung von Nähe
… zur Gefühlsinterpretation
… zur authentischen
… zur Absichtsinterpretation
… im Umgang mit negativen
und Distanz zum anderen … zur Präsentation von
Argumentation
Sachinformationen … zum Ausdruck von Beziehungs-
Gefühlen gegenüber anderen … zur Wirkungsinterpretation
… zum Aufdecken und Ansprechen von
regeln
kritischen Punkten und Differenzen
… zum authentischen Ausdruck von Gefühlen und Wertungen
Konsensfähigkeit
Sozialverantwortungsfähigkeit
Teamfähigkeit
Fähigkeit …
Fähigkeit …
Fähigkeit …
… zur Selbstkritik
… zur Parteinahme für Schwächere
… zur Integration in die Teamarbeit
… zur Einbringung von Kompromiss-
… zur Bestimmung der Grenzen für
… zur Unterstützung des Team-
positionen … zur Verweigerung einer Kompromisszustimmung
das eigene Engagement im Team
zusammenhalts
… zur Wirkungsabschätzung auf unbeteiligte Betroffene
… zur Meta-Kommunikation
… zur Klärung von persönlichen
… zum Aufbau von Vertrauen
… zum angemessenen Umgehen mit
Belastungen in der Teamarbeit
Fehlern von Teamkollegen … zur Vermittlung in Kontroversen
13
… zum Umgehen mit eigenen Fehlern
denn nicht doch konstitutive Teilelemente von Sozial-
Modell einen heuristischen Rahmen zur Bestimmung
kompetenzen benannt werden können. Diese berech-
relevanter Fähigkeiten, welche dem Konstrukt Sozial-
tigte Frage steht vor dem Problem der oben berichteten
kompetenzen zugeordnet werden können. Da es bis-
Begriffsvielfalt zum Thema Sozialkompetenzen.
lang keine konsentierte und empirisch abgesicherte
Hilfreich in diesem Zusammenhang sind Litera-
Taxonomie von Sozialkompetenzen gibt, wird mit den
turanalysen, die Klassifikationen zu dem Thema vor-
vorgeschlagenen Fähigkeiten kein Anspruch auf Voll-
legen und damit zur Reduktion der Vielfalt beitragen.
ständigkeit erhoben.
Die Ergebnisse solcher Recherchen beschreiben u. a.
Das Modell greift die in Abschnitt 2.1 beschrie-
Prandini (2001) und Euler (1997). Prandini (2001)
bene Klassifizierung der Inhaltskomponenten auf und
extrahiert mit Bezug auf Roth (1971) drei Facetten so-
macht zudem das normativ begründete, übergeordnete
zialer Kompetenzen: 1. Kooperationsfähigkeit, 2. Kon-
Leitziel der Präzisierung von Sozialkompetenzen deut-
fliktfähigkeit und 3. Empathiefähigkeit (i.S. von Inter-
lich. Auf der Vertikalen sind sechs Fähigkeitsbereiche
pretationsfähigkeit). In der Analyse von Euler (1997)
aufgetragen, die Euler (1997) den 36 Einzelfähigkeiten
werden diese drei Aspekte ebenfalls identifiziert.
zuordnet, die seine Literaturrecherche ergab. Diese ein-
Darüber hinaus nennt er als zentrale Merkmale die
zelnen Fähigkeiten, die im Wesentlichen auch die
Artikulationsfähigkeit und die Konsensfähigkeit. Die
Grundlage des im Projekt APU verwendeten Instru-
Kooperationsfähigkeit unterscheidet Euler (1997) nach
ments zur Erfassung der Sozialkompetenzen darstellen
einer Sozialverantwortungsfähigkeit und einer Team-
(vgl. Abschnitt 5.2), sind in Tabelle 1 mit ihrer Zuord-
fähigkeit. Abbildung 1 veranschaulicht diese Facetten
nung zu den sechs Fähigkeitsbereichen dargestellt. Auf-
graphisch in einem Ordnungsmodell, das sich weitge-
grund der Extraktion aus verschiedenen Literaturquel-
hend an den Vorstellungen von Euler (1997, S. 309ff.)
len sind die genannten Fähigkeiten nur wenig an
anlehnt. Gemäss Euler (1997) markiert das dargestellte
spezifische
NETZWERK 2|08
Handlungsfelder
WISSENSCHAFT
bzw.
Situationstypen
gekoppelt. Dennoch lässt die Auswahl der Aspekte erkennen, dass einzelne Fähigkeiten insbesondere in
3.1
RAHMENMODELL ZUR GENESE VON SOZIALKOMPETENZEN
Situationen zur Anwendung kommen, in denen meh-
Kann eine sekundäre Sozialisationsinstanz wie
rere Interaktionspartner miteinander kommunizieren,
die Schule Sozialkompetenzen massgeblich fördern?
wie dies beispielsweise beim kooperativen Arbeiten im
Und wie kann diese Frage für das Gymnasium be-
Unterricht der Fall ist.
antwortet werden? Skeptiker führen häufig an, dass aus entwicklungspsychologischer Perspektive entspre-
3
KÖNNEN SOZIALKOMPETENZEN IN DER
chende Interventionen mit zunehmendem Alter erfolg-
SCHULE GEZIELT GEFÖRDERT WERDEN?
los seien (Euler, 2001). Zu prägend sei der davor lie-
Sieht man von dem Problem einer Definition von
gende Sozialisationsverlauf. Es erscheint insofern
Sozialkompetenzen ab, so stellt sich aus pädagogischer
lohnend, einen Blick auf die Genese von Sozialkom-
Perspektive die Frage, ob diese Kompetenzen in Schule
petenzen im Sozialisationsverlauf zu werfen. Als
und Unterricht gefördert werden können. Um den Leser
graphische Unterstützung wird hierzu ein Rahmenmo-
nicht zu lange hinzuhalten, soll die hier vertretene Ant-
dell angeboten, das sich an konzeptuellen Überle-
wort schon jetzt gegeben werden: Ja!
gungen von Wild, Hofer & Pekrun (2001) orientiert
Diese Aussage ist in ihrer Absolutheit jedoch ein-
(vgl. Abbildung 2).
zugrenzen. Sie gilt erstens nur, wenn man davon aus-
Das Modell veranschaulicht zentrale Aspekte
geht, dass Sozialkompetenzen in Abhängigkeit ihrer
der Entwicklung von Sozialkompetenzen. Der linke
situationalen Kontextbedingungen spezifisch und nicht
Block in der Abbildung 2 macht deutlich, dass
als stabiles Persönlichkeitsmerkmal zur Anwendung
Sozialkompetenzen durch Sozialisationserfahrungen
kommen. Würde man ausschliesslich von sehr allge-
und durch genetische Faktoren bedingt sind. In
meinen Sozialkompetenzen wie z. B. einem generellen
einer konkreten Interaktionssituation kommen diese
prosozialen Verhalten ausgehen, wäre eine substan-
Kompetenzen als Verhaltenspotenzial (Disposition)
tielle Förderbarkeit durch Schule und Unterricht
zur Anwendung. Inwieweit diese Anwendung gelingt,
weniger zu erwarten (Eisenberg, Carlo, Murphy & van
hängt massgeblich von den Kontextmerkmalen der
Court, 1995). Die zweite Eingrenzung bezieht sich auf
Anwendungssituation ab. Diese können im Anschluss
das Ausmass der erwartbaren Wirkungen einer gezielten
an Wild et al. (2001) in lokale und globale Situa-
Förderung von Sozialkompetenzen in Schule und
tionsmerkmale unterschieden werden. Dabei be-
Unterricht. Unter Rückgriff auf ein Rahmenmodell
zeichnen die globalen Merkmale solche Charakteristika,
zur Entwicklung von Sozialkompetenzen werden zu
die die gesamte Kommunikationssituation begleiten
diesem zweiten Punkt im Folgenden Überlegungen
(Herrmann, 1995). Diese wäre z. B. die Zusammen-
angestellt.
setzung eines Teams von Schülerinnen und Schülern im Rahmen einer schulischen Gruppenarbeit. Als lokales situatives Merkmal wird dagegen z. B. die
Abbildung 2
vorangegangene Aussage eines der Teammitglieder
RAHMENMODELL ZUR ENTWICKLUNG VON SOZIALKOMPETENZEN
aufgefasst.
(ANGELEHNT AN WILD ET AL. 2001)
Der Block am rechten Rand der Abbildung 2 macht deutlich, dass sich aus dem sozial-kommunikaLokale Situationsmerkmale (z.B. vorangegangene Äusserung des Interaktionspartners)
Sozialisationserfahrungen in der Familie, in der peer group, in der Schule und in anderen Handlungsfeldern
tiven Handeln in der betrachteten Situation Wirkungen auf die Sozialkompetenzen ergeben. Letztlich stellt der gesamte Sozialisationsverlauf eine Abfolge von Interaktionen dar, deren Effekte akkumulativ in die Disposition «Sozialkompetenzen» und damit als Vorbedin-
Sozialkompetenzen (i.S. einer Disposition)
Sozialkommunikatives Verhalten
Effekte auf die Sozialkompetenzen
gungen für nachfolgende Interaktionen einfliessen. Sozialisation und damit auch die Genese von Sozialkompetenzen ist in der Lebensspanne niemals vollstän-
sowie
dig abgeschlossen. Der wesentliche Aspekt sind folglich
genetische Anlagen
Globale Situationsmerkmale (z.B. Gruppenstruktur oder Gegenstand der Interaktion)
vielmehr
die
möglichen
Veränderungsraten.
instanz Schule wird im Folgenden zunächst ein Blick auf die zentralen Einflussfaktoren der Genese von Sozialkompetenzen geworfen.
14
NETZWERK 2|08
Zur
Abschätzung der potenziellen Effekte der Sozialisations-
WISSENSCHAFT
3.2
EINFLUSSFAKTOREN AUF DIE
rung in nur einem Unterrichtsfach über einen kurzen
ENTWICKLUNG VON SOZIALKOMPETENZEN
Zeitraum (z.B. einen Block von 20 Lektionen) lässt
IM SOZIALISATIONSVERLAUF
kaum nachhaltige Wirkungen erwarten. Ist eine Förde-
Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass die
rung dagegen systematisch in der didaktischen Kultur
wesentlichen Grundlagen für das Verhalten in sozial-
der verschiedenen Fächer, im besten Fall in der Schul-
kommunikativen Situationen schon in der frühen
kultur verankert, so sind umso eher Effekte erwartbar.
Kindheit gelegt werden (Cartledge & Milburn, 1995). Im Zusammenspiel mit genetischen Faktoren, deren
Annahme 2: Fokussierung auf spezifische Situations-
Wirkung bis ins höhere Alter nachgewiesen werden
typen im Unterricht
kann (Plomin, De Fries & MacLearn, 1990), kommt
In der Schule vergrössern sich die Potenziale zur Förde-
dem elterlichen Erziehungsverhalten zentrale Bedeu-
rung von Sozialkompetenzen, wenn deren Situations-
tung zu (Wild et al., 2001). So können beispielsweise
spezifität Rechnung getragen wird (vgl. Abschnitt 2.1).
mittels der empirisch abgesicherten Bindungstheorie
Dies bedeutet zunächst, eine abstrakt formulierte dis-
(Spangler, 1997) gut die Langzeiteffekte des familiären
positionale Fähigkeit (z. B. Konfliktfähigkeit) so präzise
Erziehungsstils auf das spätere Sozialverhalten der Kin-
zu operationalisieren, dass daraus konkrete Lernziele
der und Jugendlichen erklärt werden. Darüber hinaus
für den Unterricht abgeleitet werden können (Walzik,
spielt das weitere familiäre Umfeld und mit zuneh-
2007). Eine erste Präzisierung könnte beispielsweise
mendem Alter auch die Gruppe der Peers eine bedeut-
die Eingrenzung auf den Situationstyp «Konfliktverhal-
same Rolle. Ergänzend sollte jedoch hinzugefügt wer-
ten von Schülerinnen und Schülern im Rahmen einer
den, dass sich viele Untersuchungen auf die Erklärung
Gruppendiskussion» sein (Euler, 2004). Davon aus-
devianten vs. «normalen» Sozialverhaltens beziehen.
gehend können nun weitere Eingrenzungen folgen, die
Eine Identifikation der Prädiktoren und Erklärung der
die einzelnen Elemente und Komponenten in der Situa-
Varianz des Sozialverhaltens innerhalb der Gruppe der
tion betreffen. Diese Präzisierungen beziehen sich
nicht-devianten Kinder und Jugendlichen ist dagegen
dabei sowohl auf die lokalen, als auch auf die globalen
deutlich weniger intensiv erforscht.
Situationsmerkmale (vgl. Abbildung 2). Folgt man diesen Postulaten, dann sind Schul-
3.3
ZU ERWARTBAREN SCHUL- UND
effekte vor allem zu erwarten, wenn eine Förderung
UNTERRICHTSEFFEKTEN
zum einen genügend lang und möglichst systematisch
Folgt man dem oben vorgelegten Rahmenmodell,
erfolgt. Zum anderen sollte die Unterstützung auf
so sind hinsichtlich einer Förderung grundsätzlicher
bestimmte Situationstypen abzielen und in entspre-
sozialer Orientierungen und Einstellungen durch Schule
chende operationalisierte Lernziele überführt werden.
und Unterricht kaum substanzielle Effekte zu erwarten.
Allgemein sollte man wohl davon ausgehen, dass
Zu gross ist hierfür die Nachhaltigkeit der Grundlegung
die erwartbaren Schuleffekte mit zunehmender Klassen-
im Kindesalter. Zudem muss berücksichtigt werden,
stufe eher kleiner werden. Ein umfassender empirischer
dass Kinder und Jugendliche auch parallel zum Schul-
Beleg dieser These steht noch aus. Die Ergebnisse aus
besuch Sozialisationserfahrungen in der Familie, in der
dem APU-Projekt werden diesbezüglich weitere Hin-
peer group und in anderen Lebensbereichen machen.
weise geben (vgl. Kap. 5).
Welche Entwicklungspotenziale verbleiben für den schulischen Kontext? Der Antwort auf diese Frage wird sich im Folgenden über zwei Annahmen genähert:
4
ZUR BEDEUTUNG KOOPERATIVER LERNFORMEN IM UNTERRICHT FÜR DIE ENTWICKLUNG VON SOZIAL-
Annahme 1: Kriterium der zeitlichen Länge und der Systematik von Förderungsansätzen
15
KOMPETENZEN
Akzeptiert man die in Kapitel 3 vorgenommenen
Die durch pädagogische Anstrengungen erwartbaren
Eingrenzungen und Präzisierungen im Hinblick auf
Effekte der Förderung von Sozialkompetenzen in der
eine Förderbarkeit von Sozialkompetenzen im Unter-
Schule sind umso grösser, je länger und systematischer
richt, so stellt sich eine zweite, nicht zuletzt für Prak-
diese erfolgen. So benötigen wirksame Massnahmen in
tiker wichtige Frage: Wie sollten schulische Lernum-
diesem Bereich gemäss Elias et al. (1997) mindestens
gebungen gestaltet sein, um eine Unterstützung von
18 Monate. Zugleich ist zu erwarten, dass eine solche
Sozialkompetenzen zu ermöglichen?
Unterstützung dann bessere Erfolgsaussichten hat, je
Häufig trifft man dazu in der Literatur auf eine
systematischer diese im Schulkontext angegangen wer-
Favorisierung kooperativer Lernformen (Behr et al.,
den (Mihalic, 2004). Überspitzt formuliert: Eine Förde-
2002). Eine solche Sichtweise beinhaltet jedoch meh-
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
rere problematische Aspekte. Erstens erfahren durch die
Kooperatives Lernen: Wirksamkeit und
vorrangige Orientierung an Schüler-Schüler-Interakti-
Gelingensbedingungen
onen die Kommunikationsmuster zwischen den Ler-
Einen besonders guten Überblick über die Effektivität
nenden und den Lehrenden vergleichsweise wenig
kooperativen Lernens geben Meta-Analysen. Eine die-
Beachtung (Bauer-Klebl, Euler & Hahn, 2001). Damit
ser Meta-Studien legen Lou, Abrami, Spence, Poulsen,
bleibt ein wichtiger Teil zwischenmenschlicher Kom-
Chambers & d’Apollonia (1996) vor. Demnach ist
munikation in der Schule im Hinblick auf die Förde-
kooperatives Lernen – gemessen am «statistischen
rung von Sozialkompetenzen unterbelichtet (Wild et
Durchschnitt» der Effektstärken – durchaus eine Erfolgs-
al., 2001). Zweitens beruhen die Annahmen zur beson-
geschichte. Im Schulleistungsbereich liegt die durch-
deren Wirksamkeit kooperativer Arbeitsformen häufig
schnittliche Wirkung bei d = 0.34.3 Ausserhalb des
auf Plausibilitätsüberlegungen. Dieser Umstand hängt
Leistungsbereichs (z.B. Einstellungen, Selbstkonzept)
u. a. mit der insgesamt ungenügenden lerntheoretischen
sind die Effekte ebenfalls positiv, jedoch kleiner und in
Grundlegung der Genese von Sozialkompetenzen
Teilen praktisch unbedeutsam.
zusammen (Euler, 2001). Um verkürzten Sichtweisen
Ein Merkmal von Meta-Analysen ist die teils
auf die Förderung von Sozialkompetenzen entgegen zu
erhebliche Varianz zwischen den Effektstärken der
treten, werden folglich bessere Modelle zum Erwerb
einzelnen betrachteten Studien (Dubs, 2007). Die
von Sozialkompetenzen benötigt. Und drittens wird
Ursachen hierfür sind neben Designunterschieden der Einzeluntersuchungen vor allem in den unterschiedlichen
«DIE ANNAHMEN EINER BESONDEREN WIRKSAMKEIT KOOPERATIVER ARBEITSFORMEN BERUHEN HÄUFIG AUF PLAUSIBILITÄTSÜBERLEGUNGEN»
Gestaltungsmerkmalen
kooperativen
Lernens zu finden. Im Hinblick auf diese Gelingensbedingungen können in Anlehnung an Renkl & Mandl (1995) und Krause (2007) vier Einflussfaktoren unterschieden werden: Lerner-/Lehrermerkmale, Aufgabe, Strukturierung der Interaktion und Gruppenzusammensetzung.
gerade in der Schulpraxis nicht selten übersehen, dass Partner- und Gruppenarbeiten eine ganze Reihe von
Einflussfaktor Lerner-/Lehrermerkmale
Gelingensbedingungen erfordern (Renkl & Mandl,
Neben dem Vorwissensniveau spielen motivationale
1995). Berücksichtigt man diese nicht genügend,
Faktoren der Lernenden eine bedeutsame Rolle. So ist
können derartige Lernformen kontraproduktiv sein
insbesondere eine positive Einstellung und der Wille
(Krause, 2007).
zur Kooperation bedeutsam (Renkl & Mandl, 1995).
Im Folgenden wird sich dennoch – oder gerade
Huber (1996) zeigt in diesem Zusammenhang den
deshalb – dem kooperativen Lernen zugewendet. Dis-
Einfluss des kognitiven Orientierungsstils: Demnach
kutiert werden dabei die Wirksamkeit und die notwen-
favorisieren ungewissheitsorientierte Lernende eher
digen Bedingungen dieser Lernform. Dass dabei mehr-
kooperative Lernformen, während gewissheitsorien-
heitlich auf Effekte im kognitiven Bereich fokussiert
tierte Schülerinnen und Schüler eine grössere Affinität
wird, hat zwei Gründe. Zum einen bezieht sich die
zum lehrerzentrierten Unterricht aufweisen.
grosse Mehrheit der empirischen Studien auf diesen
Auffällig wenige Studien gibt es zum Einfluss von
Bereich (Slavin, 1995). Zum anderen – und dies ist der
Lehrermerkmalen und -einstellungen auf das Gelingen
bedeutsamere Grund – wird nicht zuletzt mit Bezug auf
kooperativen Lernens. Haag & Dann (2001) können
das APU-Konzept gefordert, dass die Förderung von
den Einfluss der subjektiven Theorien der Lehrkräfte
Sozialkompetenzen mit der Vermittlung von Fach-
über die Gestaltung von Gruppenarbeit nachweisen.
inhalten zu verknüpfen ist (Eberle, 2006). Insbeson-
Sind diese inhaltlich genügend «entfaltet», werden von
dere im Gymnasium ist und bleibt das Kerngeschäft
den Lernenden bessere Ergebnisse erzielt.
von Fachunterricht die Vermittlung von domänen-
3
Als Richtwerte für die Einordnung der Effektstärke d gibt Rost (2005) an: kleiner Effekt ab 0.20, mittlerer Effekt ab 0.50, grosser Effekt ab 0.80.
16
spezifischen Inhalten. Insofern sind die Bedingungen
Einflussfaktor Aufgabe
kooperativen Lernens, die sich im Hinblick auf kogni-
Vielfach wird betont, dass es sich um «echte» Gruppen-
tive Wirkungen als günstig erwiesen haben, auch
aufgaben handeln sollte, die in Kooperation bearbeitet
unmittelbar für eine Förderung von Sozialkompetenzen
werden (Cohen, 1994). Kennzeichen hierfür ist vor
relevant. Die Wirkungen dieser Bedingungen auf die
allem, dass die Gruppenmitglieder von Ressourcen
Entwicklung der Sozialkompetenzen wären mehrheit-
anderer Gruppenmitglieder abhängig sind, über die sie
lich jedoch noch empirisch zu prüfen.
selbst nicht verfügen (positive Interdependenz).
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
Damit korrespondiert der Aspekt der Verantwort-
mittlung von Lerninhalten haben die aufgeführten
lichkeit jedes einzelnen Teammitglieds für die Zielerrei-
Gelingensbedingungen jedoch in jedem Fall Relevanz.
chung. Zur Stärkung dieses Aspekts wird in der Literatur häufig auf die Bedeutung angemessener Assessmentver-
5
FÖRDERUNG VON SOZIALKOMPETENZEN
fahren hingewiesen (Dubs, 2007). Kollektive Verant-
IM «ANWENDUNGS- UND PROBLEMORIEN-
wortungsmechanismen und Anreizstrukturen helfen
TIERTEN UNTERRICHT (APU)»
bekannten Problemen von Gruppenarbeiten wie z. B.
Schon eingangs des Beitrags wurde erwähnt, dass
dem «Trittbrettfahrer-Verhalten» einzelner Teammit-
mit der Konzeption und Implementation des APU-
glieder zu begegnen.
Modells u. a. versucht wird, Sozialkompetenzen im gymnasialen Unterricht zu fördern. Da das APU-Kon-
Einflussfaktor Strukturierung der Interaktion
zept in der vorliegenden Zeitschrift von Eberle (2006)
Vielfach hat sich ungeleitetes und unstrukturiertes Koo-
ausführlich vorgestellt wurde, wird im Folgenden nur
perationsverhalten als wenig effektiv erwiesen (Renkl &
ein Überblick über das Unterrichtsmodell und das
Mandl, 1995). Positive Effekte durch Strukturierung
Design zur Prüfung dessen Wirksamkeit gegeben.
können dabei von der Kooperationsart (z. B. durch ein Gruppenpuzzle), vom Einsatz von Skripts (O’Don-
5.1
APU: KONZEPTION, BETEILIGTE,
nell & Dansereau, 1992) und von der instruktionalen
IMPLEMENTATION, FORSCHUNGSDESIGN
Unterstützung durch die Lehrperson ausgehen (King,
Das APU-Konzept beruht auf 11 Unterrichts-
1994). Zudem spielt die Qualität der Ergebnissicherung
leitlinien und ist für die beiden gymnasialen Fächer
einer Gruppenarbeit eine bedeutsame Rolle (Haag &
«Wirtschaft und Recht (W&R)» und «Geographie» kon-
Dann, 2001).
kretisiert. Mit APU sollen kognitive und nichtkognitive
Cohen (1994) weist jedoch darauf hin, dass zu
Bildungsziele (u. a. soziale und kommunikative Kom-
rigide Strukturierung im Hinblick auf die Lösung
petenzen) gefördert werden (vgl. dazu Schumann &
komplexer, anspruchsvoller Aufgaben negative Wir-
Eberle, im Druck).
kungen haben kann, da die Diskursqualität ein-
Am APU-Projekt nahmen im Schuljahr 2006/07
geschränkt wird. Solche ungewollten Beschränkungen
rund 450 Schülerinnen und Schüler aus sieben Gym-
sind in erster Linie dann zu befürchten, wenn die
nasien der deutschsprachigen Schweiz teil. Die Ler-
Lernenden über ein grosses Vorwissen und eine hohe
nenden verteilten sich dabei auf insgesamt 24 Schul-
Motivation verfügen.
klassen der 10. und 11. Jahrgangsstufe. Von diesen gehörten 13 Klassen der Experimentalgruppe (APU-
Einflussfaktor Gruppenzusammensetzung
Klassen) und 11 Klassen der Kontrollgruppe an. Das
In vielen Studien hat sich gezeigt, dass in Gruppen von
Fach W&R war stärker als das Fach Geographie vertre-
drei bis vier Lernenden die besten Ergebnisse erzielt
ten (14 vs. 10 Klassen).
werden (Lou et al., 1996). Dubs (1995) betont, dass
studien wurde den Lehrkräften der APU-Klassen keine
Schülerinnen und Schüler zu einem Team formiert
fertige Lerneinheit zu einem oder mehreren Unter-
werden sollten.
richtsthemen ausgehändigt. Die Implementation des
längerfristigen
Gruppenarbeiten
eher
Ein bemerkenswerter Befund ist, dass in leistungs-
Modells erfolgte mittels einer theoriegeleiteten Anwen-
heterogenen Gruppen die starken und die schwachen
dung der Unterrichtsleitlinien durch die Lehrpersonen.
Lernenden, nicht jedoch die durchschnittlich Befähigten
Dabei war der Einsatz der Unterrichtsmethoden grund-
vom kooperativen Lernen profitieren (Webb & Palins-
sätzlich freigestellt, jedoch zu begründen. Diese Refle-
car, 1996). Letztere sind dagegen in leistungshomogenen
xionen wurden in so genannten Logbüchern dokumen-
Gruppen bevorteilt (Klauer & Leutner, 2007).
tiert und hinsichtlich der Realisierung der Leitlinien
Es wird an dieser Stelle noch einmal betont, dass sich die referierten Ergebnisse auf Wirkungen im kogni-
17
Im Unterschied zu vielen anderen Treatment-
sechs
bei
mit Mitgliedern der Forschungsgruppe diskutiert und allenfalls korrigiert.
tiven Bereich beziehen. Inwieweit die oben genannten
Die Beurteilung der Wirkungen des APU-Modells
Einflussfaktoren ebenso für die Förderung von Sozial-
erfolgte im Rahmen eines quasi-experimentellen
kompetenzen durch kooperatives Lernen und Arbeiten
Designs. Um die Effekte prüfen zu können, wurden zu
im Unterricht gelten, kann aufgrund der wenig umfäng-
Beginn, in der Mitte und am Ende der Interventions-
lichen Befundlage derzeit nicht zuverlässig beantwortet
phase Schüler- und Lehrerangaben erfasst. Nähere
werden. Aufgrund der Forderung nach einer Anbindung
Informationen zum Forschungsdesign, zum Implemen-
der Unterstützung von Sozialkompetenzen an die Ver-
tationsprozess und zum Implementationsgelingen fin-
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
Tabelle 2 ENTWICKLUNG DER SOZIALKOMPETENZEN IM SCHULJAHR 2006/07 (ERGEBNISSE VON VARIANZANALYSEN MIT MESSWIEDERHOLUNG)
GRUPPE M
SD
M
SD
M
SD
Artikulationsfähigkeit
Experimentalgruppe
3.28
0.51
3.20
0.53
3.15
0.58
0.050 (Zeit)a
Kontrollgruppe
3.37
0.47
3.24
0.54
3.15
0.53
0.004 (Zeit ⳯ Gruppe)5
Experimentalgruppe
2.81
0.56
2.83
0.56
2.83
0.60
0.003 (Zeit)a
Kontrollgruppe
2.75
0.59
2.82
0.59
2.79
0.62
0.001 (Zeit ⳯ Gruppe)5
Experimentalgruppe
3.11
0.41
3.12
0.49
3.00
0.49
0.032 (Zeit)a
Kontrollgruppe
3.13
0.47
3.00
0.55
2.96
0.54
0.016 (Zeit ⳯ Gruppe)5
Experimentalgruppe
2.91
0.50
2.89
0.56
2.95
0.51
0.000 (Zeit)a
Kontrollgruppe
2.89
0.47
2.91
0.38
2.85
0.49
0.009 (Zeit ⳯ Gruppe)5
Experimentalgruppe
2.75
0.58
2.73
0.63
2.72
0.58
0.009 (Zeit)a
Kontrollgruppe
2.68
0.57
2.69
0.60
2.61
0.60
0.002 (Zeit ⳯ Gruppe)5
Interpretationsfähigkeit
Konfliktfähigkeit
Konsensfähigkeit
Sozialverantwortungsfähigkeit
MZP 1
MZP 2
MZP 3
2 partial
ABHÄNGIGE VARIABLE
MZP: Messzeitpunkt, Zeit: Haupteffekt, Zeit ⳯ Gruppe: Interaktionseffekt a
b
den sich bei Oepke et al. (2008) und Schumann &
werden. Die Reliabilität der fünf Faktoren ist über die
Eberle (im Druck). Das im Projekt verwendete Instru-
drei
mentarium sowie die Vorlage eines APU-Logbuchs kön-
(Cronbach’s ␣: 0.75 bis 0.86). Das Instrumentarium
nen bei Eberle et al. (im Druck) eingesehen werden.
zur Erfassung der weiteren in den Auswertungen ver-
Messzeitpunkte
zufrieden
stellend
bis
gut
wendeten Variablen wird an dieser Stelle aus Platzgrün5.2
EMPIRISCHE ERGEBNISSE
den nicht näher erläutert. Alle Angaben können in Eberle et al. (im Druck) nachgeschlagen werden.
5.2.1 Erhebungsverfahren, Instrumente, Stichprobe
In die Auswertungen gingen nur die Angaben von
Die hier vorgelegten Daten wurden mittels stan-
den Schülerinnen und Schülern ein, die an allen drei
dardisierter Schülerfragebögen erhoben. Das Instru-
Befragungen teilgenommen haben. Zudem wurden
mentarium zur Erfassung der Sozialkompetenzen
angesichts der Ausrichtung der vorliegenden Zeitschrift
beruht konzeptuell auf dem im Abschnitt 2.3 dargestell-
auf Fragen der Wirtschaftsbildung ausschliesslich Daten
ten Ordnungsmodell, welches sich weitgehend an Über-
von Lernenden aus dem Fach Wirtschaft und Recht
legungen von Euler (1997) anlehnt. In Übereinstimmung
berücksichtigt. Die Gesamtstichprobe umfasst damit
mit der hier verwendeten Definition wurden die Sozial-
insgesamt 224 Lernende. Zur Experimentalgruppe
kompetenzen situationsspezifisch erfasst. Dabei wur-
gehören acht Klassen (n = 141) und zur Kontrollgruppe
den die Schülerinnen und Schülern in die Situation
sechs Klassen (n = 83). Die Lernenden besuchten die
«Gruppenarbeit» mittels eines Texts im Fragebogen ein-
zehnte (n = 85) and elfte (n = 139) Jahrgangsstufe (Alter:
geführt. Davon ausgehend mussten die Lernenden ihr
M = 16.7 Jahre; SD = 1.0).4 Während Mädchen und Jun-
eigenes Verhalten in einer solchen Situation mit Hilfe
gen in der Experimentalgruppe exakt gleich verteilt
eines vierstufigen, standardisierten Antwortformats ein-
sind, dominieren die männlichen Jugendlichen anteils-
schätzen (zur Diagnostik von Sozialkompetenzen vgl.
mässig in der Kontrollgruppe (60% Schüler).
Bauer-Klebl & Gomez, 2006; Kanning, 2003). Das Instrument zur Erfassung der Sozialkompe-
4
Die Altersangaben beziehen sich auf den Beginn des Schuljahrs 2006/07.
18
5.2.2 Einsatz kooperativer Lernformen in den
tenzen wurde im Rahmen einer im Mai 2006 durchge-
APU-Klassen
führten Pilotuntersuchung mittels faktorenanalytischer
Schumann & Eberle (im Druck) berichten über
Verfahren präzisiert. In Verbindung mit einer Ergän-
einen veränderten Unterrichtsstil in den APU-Klassen,
zung um einzelne Items liess sich in den drei Haupt-
dessen Kennzeichen in methodischer Hinsicht insbe-
untersuchungen eine stabile Fünf-Faktoren-Struktur
sondere eine Ausweitung von kooperativen Lernformen
extrahieren. Die Faktoren werden in Übereinstimmung
ist. Während die Lernumgebungen in den Klassen der
mit dem zugrunde gelegten Modell als Artikulations-
Kontrollgruppe durch lehrergesteuerte Unterrichts-
fähigkeit, Interpretationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Kon-
gespräche (58%) dominiert sind, haben in den Experi-
sensfähigkeit und Sozialverantwortungsfähigkeit bezeich-
mentalklassen Lehrgespräche ein wesentlich geringeres
net. Der Faktor Teamfähigkeit konnte nicht repliziert
Gewicht (41%). Der Anteil kooperativer Lern- und
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
Arbeitsformen ist hier dagegen mit 42% mehr als dop-
theoretische Mitte: M = 2,5) schätzen die meisten der
pelt so gross wie in der Kontrollgruppe (18%).5 Es stellt
befragten Schülerinnen und Schüler ihre Sozialkompe-
sich die Frage, ob vor dem Hintergrund dieser sub-
tenzen als gut ein. Dies gilt insbesondere für die Artiku-
stanziell verschiedenen Art der Unterrichtsinszenierung
lations- und für die Konfliktfähigkeit.
unterschiedliche Entwicklungen der Sozialkompe-
Zu den allgemeinen Entwicklungen über die Zeit
tenzen zwischen Experimental- und Kontrollgruppe
(Haupteffekte): Die betrachteten Sozialkompetenzen
identifiziert werden können.
zeichnen sich innerhalb eines Schuljahres mehrheitlich durch Stabilität aus. So zeigen sich für die Interpreta-
5.2.3 Lassen sich in APU Treatmenteffekte beobachten?
Tabelle 2 veranschaulicht die Ergebnisse von
tionsfähigkeit, für die Konsensfähigkeit und für die Sozialverantwortungsfähigkeit
keine
bedeutsamen
Varianzanalysen mit Messwiederholung für die Ent-
Entwicklungen. Veränderungen lassen sich für die
wicklung der Sozialkompetenzen im Schuljahr 2006/07.
Artikulationsfähigkeit und für die Konfliktfähigkeit
Im Hinblick auf die Identifizierung von durch APU aus-
beobachten. Beide entwickeln sich im Zeitverlauf nega-
gelösten Wirkungen ist die Höhe der Interaktionsef-
tiv mit kleiner bis mittlerer Effektstärke (2).6 Allerdings
fekte (Zeit ⳯ Gruppe) von Interesse. Die Interaktions-
weisen diese beiden Merkmale auch die höchsten Aus-
effekte geben darüber Auskunft, ob sich über allgemeine,
gangswerte auf. Zu
für die Gesamtstichprobe geltende zeitliche Entwick-
den
gruppenspezifischen
Entwicklungen
lungen (Haupteffekte) hinaus gruppenspezifische Pro-
(Interaktionseffekte): Die Darstellung der Interaktions-
zesse abgespielt haben.
effekte in der rechten Spalte der Tabelle 2 macht deut-
Bevor auf die Entwicklungen Bezug genommen
lich, dass nur für die Konfliktfähigkeit ein kleiner Effekt
wird, zunächst einige Bemerkungen zur Höhe der Aus-
zugunsten der Experimentalgruppe nachgewiesen wer-
prägungen der Sozialkompetenzen: Vor dem Hinter-
den kann (F = 3.19, p = 0.04, 2 = 0.016). Für die vier
grund des möglichen Antwortraums (eins bis vier,
anderen Sozialkompetenzen zeigt sich kein statistisch
Tabelle 3 PRÄDIKTOREN DER ENTWICKLUNG AUSGEWÄHLTER SOZIALKOMPETENZEN (ERGEBNISSE LINEARER REGRESSIONSANALYSEN)
Unabhängige Variable
Entwicklung Konfliktfähigkeit
Entwicklung Artikulationsfähigkeit
(MMZP3 minus MMZP1)
(MMZP3 minus MMZP1)
Modellblöcke
Gesamtmodell
Modellblöcke
Gesamtmodell




Block I: Anteil kooperative Lernformen
n.s.
n.s.
Block II: Merkmale der Lernenden Intrinsische Motivation
n.s.
n.s. 0.19*
0.23**
Aufgabenorientierung Ich-Orientierung
–0.20**
Anstrengungsvermeidung
–0.11**
n.s. –0.23**
R2 = 0.07
0.21** –0.18*
n.s. n.s.
n.s. R2 = 0.05
Block III: Unterrichtsqualität 5
Die relativen Anteile der
Wahrgenomene Qualität der
Unterrichtsmethoden wurden
Gruppenarbeiten
mittels Items in den Schülerfragebögen zum zweiten
Transparenz der Lernziele
und dritten Messzeitpunkt
Störungsprävention
erfasst. Hier werden die Durchschnittswerte über die beiden Messzeitpunkte berich-
Block IV:
tet. Weitere Methoden sind
Klassen- bzw. Unterrichtsklima
Einzelarbeiten (Experimental-
Kohäsion
gruppe: 13%, Kontrollgruppe:
Störneigung
21%) und sonstige Formen
Unterrichtsdruck
wie z.B. Exkursionen (in bei-
–0.17**
–0.33*** 0.18*
n.s.
n.s.
n.s.
n.s.
R2 = 0.02
R2 = 0.08
0.14* –0.18*
n.s. –0.18*
n.s. R2 = 0.07
den Gruppen: 4%). 6
n.s.
n.s. –0.18*
n.s.
n.s. R2 = 0.11
R2 = 0.05
R2 = 0.10
Rost (2005) an: kleiner Effekt
Anmerkungen: In den Spalten Modellblöcke sind die Ergebnisse von Regressionsanalysen dargestellt, in denen die jeweiligen Blöcke einzeln geschätzt wurden. In den Spalten Gesamtmodell sind die Ergebnisse von Regressionsanalysen dargestellt, in die nur die Parameter aufgenommen wurden, die sich im Rahmen der blockweisen Schätzungen als signifikante Regressoren identifizieren liessen. Signifikanzniveaus: *p < 0.05, **p < 0.01, ***p < 0.001; n.s.: nicht signifikant.
ab 0.01, mittlerer Effekt ab
Abkürzungen: R2: Modellgüte (erklärte Varianz, korrigierter Wert), ß: standardisierter Beta-Koeffizient, MZP: Messzeitpunkt
Als Richtwerte für die Einordnung der Effektstärke gibt 2
0.06, grosser Effekt ab 0.25.
19
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
abgesicherter Treatmenteffekt, auch wenn sich die Ent-
formen an der Unterrichtszeit (Block I), Merkmale der
wicklung in der Experimentalgruppe tendenziell gün-
Lernenden (Block II), Merkmale der Unterrichtsquali-
stiger darstellt als in der Kontrollgruppe. Der deutlich
tät (Block III) und Klassen- bzw. Unterrichtsklimava-
erhöhte Anteil kooperativer Lernformen in den APU-
riablen (Block IV). Um deren Einfluss auf die Entwick-
Klassen korrespondiert insofern vermutlich nur unwe-
lung abzuschätzen, wurden lineare Regressionsmodelle
sentlich mit einer Förderung von Sozialkompetenzen.
geschätzt. Als abhängige Variablen fungierten dabei
Im folgenden Abschnitt wird diese Vermutung geprüft
die Mittelwertsdifferenzen der Sozialkompetenzen
und nach weiteren Erklärungsfaktoren für die Entwick-
Konfliktfähigkeit und Artikulationsfähigkeit. Hierfür
lung der Sozialkompetenzen gesucht.
wurden die Prätest-Werte (MZP 1) von den PosttestWerten (MZP 3) abgezogen. Für die anderen drei Sozialkompetenzen wurden aufgrund deren Zeitstabilität im
5.2.4 Prädiktoren der Entwicklung der Sozialkompetenzen
Schuljahr 2006/07 keine Analysen durchgeführt (vgl.
Da im Projekt APU eine detaillierte Untersuchung
Tabelle 2).
der Kausalzusammenhänge in den Entwicklungspro-
In Tabelle 3 sind die Ergebnisse der Regressions-
zessen der Sozialkompetenzen nicht im Fokus stand,
schätzungen dargestellt. Als erster zentraler Befund
hatte die hier vorgenommene Suche nach Prädiktoren
bestätigt sich die oben geäusserte Vermutung: Das
zum Teil exploratorischen Charakter. Konzeptuell
quantitative Ausmass kooperativer Lern- und Arbeits-
wurde zwischen vier Blöcken von möglichen Einfluss-
formen im Unterricht hat keinen Einfluss auf die Ent-
faktoren unterschieden: Anteil kooperativer Lern-
wicklung der Sozialkompetenzen (Block I). Sollen
Peter Eisenhut / Hannes Kampfer / Heinz Teuscher
Einführung in die Finanzbuchhaltung 12. Auflage 2007: A4 WIRO, 288 Seiten, durchgehend 3-farbig, CHF 69.-, ISBN 978-3-85612-056-6
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20
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
Gruppenarbeiten entsprechende Wirkungen hervor-
Betrachtet man die Anteile der erklärten Varianz
rufen, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein (vgl.
in den einzelnen Modellschätzungen (R 2), so wird
Kap. 4). Zu den Merkmalen kooperativen Arbeitens
deutlich, dass nur rund 10% der Entwicklungsvariati-
liegt im APU-Projekt im engeren Sinne nur eine Varia-
onen in den Sozialkompetenzen durch die unabhän-
ble vor: die von den Schülerinnen und Schülern wahr-
gigen Variablen vorher gesagt werden können. Mit ca.
genommene Qualität der Gruppenarbeiten (Block III).
90% bleibt ein sehr grosser Anteil der Entwicklung
Diese Variable repräsentiert einen Faktor mit drei Items
unerklärt. Dies würde die in Abschnitt 3.3 geäusserte,
(ein Item lautet z. B. «Im W&R-Unterricht verlaufen die
eher defensiv formulierte Annahme bezüglich der erzielbaren Effekte schulischer Massnahmen in diesem
«WIRKSAMES KOOPERATIVES LERNEN IST SEHR VORAUSSETZUNGSVOLL.»
Bereich stützen, zumal einige der identifizierten Prädiktoren nur bedingt durch pädagogische Interventionen beeinflussbar erscheinen. Detaillierte wissenschaftliche Prüfungen stehen dazu jedoch noch aus.
Gruppenarbeiten häufig ziemlich chaotisch»). Während die Qualität der Gruppenarbeiten keinen Einfluss
21
6.
ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION
auf die Entwicklung der Konfliktfähigkeit hat, lässt sich
Der zunehmenden Bedeutung von Sozialkompe-
für die Entwicklung der Artikulationsfähigkeit ein signi-
tenzen und der daraus abgeleiteten Forderung, dass die
fikanter Einfluss beobachten. Selbst in der hier als
Schule diese fördern solle, stehen einige zentrale
Gesamtmodell bezeichneten Schätzung bleibt der Ein-
Schwierigkeiten entgegen. Zum einen entpuppt sich der
fluss statistisch überzufällig (rechte Spalte in Tabelle 3).
Begriff Sozialkompetenzen bei näherer Betrachtung als
Der Strukturierung der Interaktion während der Grup-
ein terminologischer «Sack», in den vieles hinein
penarbeiten scheint somit ähnlich wie bei kognitiven
gestopft werden kann, ohne dies detailliert begründen
Zielvariablen auch für die Entwicklung von Sozialkom-
zu müssen. Zumindest ist als eine Konsequenz aus der
petenzen Bedeutung zuzukommen.
Begriffsdiffusion ableitbar, besser von Sozialkompe-
Mit Blick auf andere mögliche Einflussfaktoren
tenzen in der Pluralform zu sprechen. Zum anderen ist
zeigt sich in den einzelnen blockweisen Regressions-
weit gehend unklar, ob und wie Sozialkompetenzen
analysen insbesondere die prädiktorische Kraft von
durch Schule und Unterricht überhaupt massgeblich
Klimavariablen (Block IV) und Zielorientierungen der
gefördert werden können. Bezüglich des «Wie» wird in
Lernenden (Block II, vgl. Tabelle 3). Die Sozialkompe-
der Literatur häufig das Unterstützungspotenzial koo-
tenzen entwickeln sich umso günstiger, je grösser der
perativer Lern- und Arbeitsformen angeführt. Überse-
Zusammenhalt in der Klasse und je geringer die Stör-
hen wird dabei jedoch nicht selten, dass die Gelingens-
neigung der Lernenden ist. Dieser Befund ist sicherlich
bedingungen zur Förderung von Sozialkompetenzen
nicht überraschend, bietet jedoch nur bedingt pädago-
durch kooperatives Lernen noch nicht hinreichend
gische Interventionsmöglichkeiten. Am ehesten liesse
erforscht sind.
sich der Störneigung der Schülerinnen und Schüler ent-
Die im vorliegenden Beitrag vorgenommene
gegensteuern, allerdings zeigt sich im hier analysierten
konzeptuelle Annäherung kennzeichnet Sozialkompe-
Datensatz kein direkter Effekt störungspräventiven
tenzen als dispositionale Fähigkeiten eines Individu-
Handelns der Lehrpersonen. Interessant, aber ebenfalls
ums, in bestimmten kommunikativen Situationen
nicht unerwartet ist der Zusammenhang mit den Ziel-
angemessen und zielgerichtet handeln zu können.
orientierungen der Lernenden: Schülerinnen und
Dabei sind Sozialkompetenzen auf eine Ausbalancie-
Schüler mit einer hohen Aufgabenorientierung und
rung und Verschränkung von Fremd- und Eigeninteres-
Anstrengungsbereitschaft sowie niedrigen Ich-Orientie-
sen ausgerichtet.
rung weisen günstigere Entwicklungen in den Sozial-
Die situationsspezifische Anbindung von Sozial-
kompetenzen auf. Da es sich dabei jedoch um ver-
kompetenzen wird als ein Argument dafür gesehen,
gleichsweise stabile Persönlichkeitsmerkmale handelt
dass dieses Bildungsziel tatsächlich in der Schule geför-
(Köller, 1998), müssen auch diesbezüglich die pädago-
dert werden kann. Würde man primär eine Auffassung
gischen Handlungsmöglichkeiten als eher beschränkt
von so genannten allgemeinen Sozialkompetenzen
bezeichnet werden. Massnahmen wie z. B. eine Stärkung
(wie z.B. Extra- oder Introversion) verfolgen, wäre eine
der individuellen Bezugsnormorientierung der Lehr-
substanzielle Förderung durch die Schule aufgrund der
kräfte bieten hier zwar sicherlich Handlungsansätze,
Bedeutung von in der Kindheit gemachten familiären
stossen in der Praxis jedoch häufig auf Umsetzungspro-
Sozialisationserfahrungen kaum erwartbar. Eine Unter-
bleme (Köller, 2005).
stützung in der Schule erscheint dabei umso aussichts-
NETZWERK 2|08
WISSENSCHAFT
reicher, je systematischer und langfristiger diese erfolgt.
in der Regel das Lehrgespräch, das den Unterricht im
Obwohl belastbare Befunde für diesen Bereich noch
Sekundarschulbereich dominiert. Insofern erscheint es
weitgehend ausstehen, sollte man zumindest für die
durchaus lohnenswert, sich auch im Hinblick auf eine
höheren Jahrgangsstufen von eher kleinen Effekten
Förderung von Sozialkompetenzen den Potenzialen
ausgehen, die durch pädagogische Massnahmen erzielt
der vielfältigen Varianten und Bedingungen dieser
werden können.
Lehr-Lernform stärker als bisher zuzuwenden.
Die hier vorgelegten empirischen Daten aus dem
DR . S TE P H AN S C H U M AN N
Projekt APU bestätigen eine solche defensive Einschätzung. Die mittels eines quasi-experimentellen Ansatzes geprüften Wirkungen des Unterrichtsmodells APU zei-
tenzen. Unveröffentlichtes Manuskript. Universität St. Gallen: Institut
gen nur im Falle einer Facette von Sozialkompetenzen,
für Wirtschaftspädagogik. | Bauer-Klebl, A., Euler, D. & Hahn, A.
der Konfliktfähigkeit im Rahmen von Gruppenarbeiten,
(2001). Das Lehrgespräch – (auch) eine Methode zur Entwicklung von
einen kleinen positiven Effekt. Für die übrigen erfassten
Sozialkompetenzen? Paderborn: Eusl-Verlagsgesellschaft. | Behr, U., Biskupek, S., Brodbeck, M., Creuzburg, C., Dreher, H. & Hofmann, C. et
Sozialkompetenzen kann keine Wirkung durch APU
al. (2002). Entwicklung von Sozial- und Selbstkompetenz durch koope-
nachgewiesen werden.
ratives Lernen. Konzeption für die Umsetzung eines Schwerpunkts der
Der Unterricht in den APU-Klassen ist u. a. durch
Lehrplanimplementation in Thüringen. Bad Berka: Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM). | Brans-
eine starke Betonung kooperativer Lernformen gekenn-
ford, J. D., Brown, A. L. & Cocking, R. R. (2000). How People
zeichnet. Mehr als 40% der Unterrichtszeit ist durch
Learn: Brain, Mind, Experience, and School. Washington, D.C.: Natio-
diese Lernform geprägt. Jedoch hat das rein quantita-
nal Academy Press. | Cartledge, G. & Milburn, J. F. (1995). Teaching social skills to children and youth: Innovative approaches (3rd ed.). Bo-
tive Ausmass kooperativen Lernens keinen Einfluss auf
ston: Allyn & Bacon. | Cohen, E.G. (1994). Restructuring the classroom:
die Entwicklung der Sozialkompetenzen. Für die Schul-
Conditions for productive small groups. Review of Educational Re-
praxis ist dies mit der Einsicht verbunden, dass das
search, 64 (1), 1–35. | Dubs, R. (1995). Lehrerverhalten. Zürich: Verlag des Schweizerischen Kaufmännischen Verbandes. | Dubs, R. (2007).
Motto «Viel hilft viel» unzureichend verfasst wäre. Viel-
Kognitive Kompetenzen. In D. Euler, G. Pätzold & S. Walzik (Hrsg.), Ko-
mehr unterliegen kooperative Lernprozesse im Hin-
operatives Lernen in der beruflichen Bildung (S. 147–164). Stuttgart:
blick auf eine Förderung von Sozialkompetenzen ver-
Franz Steiner Verlag. | Eberle, F. (2006). Anwendungs- und problemorientierter Unterricht (APU). Ein Unterrichtsmodell für Gymnasien. Netz-
schiedenen, mehrheitlich noch nicht hinreichend
werk – Zeitschrift der Wirtschaftsbildung Schweiz, 3, 20–30. | Eberle,
erforschten Gelingensbedingungen. Die Daten aus dem
F., Schumann, S., Oepke, M., Müller, C., Barske, N., Pflüger, M. et al.
APU-Projekt können dazu nur ansatzweise Auskunft
(im Druck). Instrumenten- und Skalendokumentation zum Forschungsprojekt «Anwendungs- und problemorientierter Unterricht in gymnasi-
geben. Es deutet sich jedoch an, dass einer Strukturie-
alen Lehr-/Lernumgebungen (APU)». Universität Zürich: Institut für
rung der in Kooperation stattfindenden Interaktions-
Gymnasial- und Berufspädagogik. | Eisenberg, N., Carlo, G., Murphy, B.
prozesse – ähnlich wie im Hinblick auf kognitive
& Van Court, P. (1995). Prosocial development in late adolescence: A longitudinal study. Child Development, 66, 1179–1197. | Elias, M. J.,
Zielvariablen – auch für die Entwicklung der Sozial-
Zins, J. E., Weissberg, R. P., Frey, K. S., Greenberg, M. T. & Haynes, N.
kompetenzen Bedeutung zukommt.
M. et al. (1997). Promoting social and emotional learning: Guidelines
Effektive Lernumgebungen sind wissenszentriert
for educators. Alexandria, VA: Association for Supervision and Curriculum Development. | Euler, D. (1997). Sozialkompetenz als didaktische
(Bransford, Brown & Cocking, 2000). Deshalb wird
Kategorie – vom «didaktischen Impressionsmanagement» zu einem
empfohlen, eine Förderung von Sozialkompetenzen
Forschungsprogramm. In R. Dubs & R. Luzi (Hrsg.), 25 Jahre IWP: Ta-
grundsätzlich an das Kerngeschäft unterrichtlichen
gungsbeiträge: Schule in Wissenschaft, Politik und Praxis (S. 279–318). St. Gallen: Hochschule St. Gallen. Institut für Wirtschaftspädagogik. |
Handelns, die Lerninhaltsvermittlung anzuknüpfen.
Euler, D. (2001). Manche lernen es – aber warum? Lerntheoretische
Daher erscheint es sinnvoll, sich zunächst auch hin-
Fundierungen zur Entwicklung von sozial-kommunikativen Handlungs-
sichtlich der Sozialkompetenzunterstützung an den
kompetenzen. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 97 (3), 346–374. | Euler, D. (2004). Sozialkompetenzen bestimmen, fördern
deutlich besser erforschten Gelingensbedingungen
und prüfen: Grundfragen und theoretische Fundierung. St. Gallen: Insti-
kooperativen Lernens im kognitiven Bereich zu orien-
tut für Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen. | Fliegel, S.,
tieren. Im Einzelnen wäre nachfolgend zu prüfen, ob
Groeger, W. M., Künzel, R., Schulte, D. & Sorgatz, H. (1998). Verhaltenstherapeutische Standardmethoden (4. Aufl.). Weinheim: Psycholo-
diese Bedingungen auch auf die Entwicklung von So-
gie Verlags Union. | Greif, S. (1987). Soziale Kompetenzen. In D. Frey &
zialkompetenzen positiven Einfluss haben.
S. Greif (Hrsg.), Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen
Allgemein ist davon auszugehen, dass erfolg-
22
Bauer-Klebl, A. & Gomez, J. (2006). Die Messung von Sozialkompe-
(S. 312-320). München: Psychologie Verlags Union. | Haag, L. & Dann, H.-D. (2001). Lehrerhandeln und Lehrerwissen als Bedingungen erfolg-
reiches kooperatives Lernen sehr voraussetzungsvoll ist
reichen Gruppenunterrichts. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie,
und sorgfältig implementiert werden muss. Ein didak-
15 (1), 5–15. | Herrmann, T. (1995). Allgemeine Sprachpsychologie –
tischer Selbstläufer ist es keinesfalls. Darüber hinaus
Grundlagen und Probleme. Weinheim: Beltz PVU. | Huber, G. L. (1996). Orientierungsstil und Lernverhalten von Studierenden. In
wird dafür plädiert, für eine gezielte Förderung von
J. Lompscher & H. Mandl (Hrsg.), Lehr-Lern-Probleme im Studium: Be-
Sozialkompetenzen den Blick über die Potenziale koo-
dingungen und Änderungsmöglichkeiten (S. 70–85). Bern: Huber. |
perativen Lernens hinaus zu weiten. Immer noch ist es
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