Ganzes Heft zum Download (Pdf) - Neue Justiz - Nomos

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Bürgermeisterin und Senatorin für Justiz des Landes Berlin .... OVG Greifswald: Gewährung von Altersteilzeit in der Justiz . ..... Handbuch der Justiz 2004. R. v.
E 10934

Neue Justiz Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern

11 04 58. Jahrgang

Aus dem Inhalt: P. Macke: »Des Glückes Unterpfand« trotz allem S. 481 Ch. Tetzlaff: Die überschuldete Fiskalerbschaft S. 485 H.-J. Mayer: Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen: Teil 3 V V (I) S. 490 R. Hefendehl: Vorne einsteigen, bitte ! Zum Für und Wider technischer Prävention S. 494 K. W. Slapnicar: Liselotte Kottler (1909-2003) S. 497 Aus dem Rechtsprechungsteil: BVerfG: Verfassungswidrige Begrenzung der Arbeitsentgelte von DDR - Zusatz- und Sonderversorgten in staats-/systemnahen Funktionen S. 504 BGH: Abgrenzung von Kleingarten- und Erholungsgrundstücksanlagen S. 510 OLG Naumburg: Wertausgleich für Erben des Eigentümers eines restitutionsbelasteten Vermögensgegenstands S. 517 BVerwG: Bindungswirkung des Rehabilitierungsbescheids im nachfolgenden Restitutionsverfahren S. 522 VG Potsdam: Sozialhilfeleistung für Brillengläser S. 526 BAG: Betriebsbedingte Änderungskündigung als unternehmerische Ermessensentscheidung S. 527

NJ Seiten 481-528

Nomos

In diesem Heft … Herausgeber: Prof. Dr. Marianne Andrae Universität Potsdam Prof. Dr. Ekkehard Becker-Eberhard Institut für Anwaltsrecht der Universität Leipzig Dr. Michael Burmann Präsident der Rechtsanwaltskammer Thüringen Dr. Bernhard Dombek Rechtsanwalt und Notar, Berlin Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer Dr. Frank Engelmann Präsident der Rechtsanwaltskammer Brandenburg Dr. Margarete von Galen Präsidentin der Rechtsanwaltskammer Berlin Lothar Haferkorn Präsident der Rechtsanwaltskammer Sachsen-Anhalt Georg Herbert Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gerhard Hückstädt Präsident des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern und Präsident des LG Rostock Dr. Günter Kröber Präsident der Rechtsanwaltskammer Sachsen Prof. Dr. Martin Posch Rechtsanwalt, Jena Dr. Erardo Cristoforo Rautenberg Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg Dr. Axel Schöwe Präsident der Rechtsanwaltskammer Mecklenburg-Vorpommern Karin Schubert Bürgermeisterin und Senatorin für Justiz des Landes Berlin Prof. Dr. Horst Sendler Präsident des Bundesverwaltungsgerichts a.D., Berlin Manfred Walther Rechtsanwalt, Berlin Dr. Friedrich Wolff Rechtsanwalt, Berlin

AUFSÄTZE

S. 481

»Des Glückes Unterpfand« trotz allem Peter Macke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Die überschuldete Fiskalerbschaft Christian Tetzlaff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

S. 490

KURZBEITRÄGE Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen: Teil 3 Vergütungsverzeichnis (I) Hans-Jochem Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Vorne einsteigen, bitte! Zum Für und Wider technischer Prävention Roland Hefendehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Liselotte Kottler (1909 - 2003) – Deutschlands längstens praktizierende Anwaltsnotarin Klaus W. Slapnicar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

I N F O R M AT I O N E N

S. 499

Bundesgesetzgebung / Gesetzesinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Neue Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

D O K U M E N TAT I O N

S. 502

Petitionsbericht 2003

S. 503

REZENSIONEN Matthias Winkler: Vorsorgeverfügungen Von Ingo Fritsche

S. 504

RECHTSPRECHUNG  01 Verfassungsrecht

Neue Justiz Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern 58. Jahrgang, S. 481-528

NJ 11/04

BVerfG: Verfassungswidrige Begrenzung der Arbeitsentgelte von DDR-Zusatz- und Sonderversorgten in staats-/systemnahen Funktionen (m. Anm. Brandt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504

 02 Bürgerliches Recht BGH: Kaufvertrag über GmbH-Geschäftsanteile und Gewinnverwendungsbeschluss zum Nachteil der Alt-Gesellschafter (bearb. v. Ehlers). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

BVerfG: Zulässige Begrenzung der Arbeitsentgelte von Angehörigen des Sonderversorgungssystems des MfS/AfNS (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507

BGH: Abgrenzung von Kleingarten- und Erholungsgrundstücksanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510

LVerfG Mecklenburg-Vorpommern: Fraktionsmindeststärke in kommunalen Vertretungen und einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (bearb. v. Jutzi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507

BGH: Zivilrechtliche Wirkungen der Anordnung des Sofortvollzugs eines Restitutionsbescheids (bearb. v. Kolb) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512

I

In diesem Heft … BGH: Umdeutung eines nichtigen Gebäudekaufvertrags in einen Kauf der Rechte nach dem SachenRBerG (bearb. v. Zank) . . . . . . . . 514 BGH: Unwirksame Gebührenvereinbarung eines Rechtsanwalts (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 BGH: Angaben zu Einkünften der Unterhaltsberechtigten im Zwangsvollstreckungsverfahren (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 BGH: Rechtliches Interesse an Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Umfang der Insolvenzmasse (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515

OVG Greifswald: Gewährung von Altersteilzeit in der Justiz

.......

524

OVG Bautzen: Ausbildungsförderung und Aufteilung des Freibetrags bei getrennt lebenden Ehegatten (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 OVG Greifswald: Gebühr für Erteilung einer Abbruchgenehmigung (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 OVG Weimar: Erstattungsansprüche nach fehlgeschlagener Zweckverbandsgründung (Leits.) . . . . . . . . . 525 VG Potsdam: Sozialhilfeleistung für Brillengläser (bearb. v. Neubauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526

BGH: Betriebskostennachforderung und Aufklärungspflicht des Vermieters (Leits.) . . . . . . . . 516

 05 Arbeitsrecht

BGH: Abfindungsansprüche nach dem LwAnpG (Leits.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516

BAG: Betriebsbedingte Änderungskündigung als unternehmerische Ermessensentscheidung (bearb. v. Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

OLG Jena: Räum- und Streupflicht zum Schutz des Fußgängerverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 OLG Naumburg: Wertausgleich für Erben des Eigentümers eines restitutionsbelasteten Vermögensgegenstands (bearb. v. Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . 517 OLG Rostock: Insolvenzanfechtung bei inkongruenter Direktzahlung des Schuldners eines insolventen Schuldners an dessen Gläubiger (bearb. v. Biehl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 OLG Brandenburg: Erlassvertrag für Bürgschaftsansprüche und Insolvenzanfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

BAG: Zusage einer Versorgungszusage und Unverfallbarkeitsfrist (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 BAG: Gewährung eines höheren Ortszuschlags nach BAT-O für geschiedene Angestellte (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 LAG Erfurt: Schadensersatz wegen Mobbings am Arbeitsplatz (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 LAG Halle/Saale: Abschluss eines Aufhebungsvertrags und Störung der Geschäftsgrundlage (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528

OLG Jena: Auskunfts- und Einsichtsrecht der GmbHGesellschafter (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

 04 Verwaltungsrecht BVerwG: Voraussetzungen eines Vorkaufsrechts nach dem VermG (bearb. v. Gruber) . . . . . . . . . . . . 521

NJ aktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Buchumschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI Veranstaltungstermine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

BVerwG: Bindungswirkung des Rehabilitierungsbescheids im nachfolgenden Restitutionsverfahren (bearb. v. Keßler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 BVerwG: Zuverlässigkeit von Flughafenbediensteten und frühere MfS-Tätigkeit (Leits.) . . . . . . . . . . . . . . . 524 BVerwG: Planfeststellung und Entschädigung im nachfolgenden Enteignungsverfahren (Leits.) . . . . 524

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt je ein Prospekt des C. H. Beck Verlages und der Nomos Verlagsgesellschaft bei. Wir bitten freundlichst um Beachtung.

Redaktion: Rechtsanwältin Adelhaid Brandt (Chefredakteurin) Barbara Andrä Redaktionsanschrift: Französische Str. 13, 10117 Berlin Tel.: (030) 22 32 84-0 Fax: (030) 22 32 84 33 E-Mail: [email protected] http://www.nomos.de Erscheinungsfolge: einmal monatlich Bezugspreise 2004: Jahresabonnement 129,– € jeweils inkl. MwSt., zzgl. Porto und Versandkosten Vorzugspreis: (gegen Nachweis) für Studenten jährlich 35,– € inkl. MwSt., zzgl. Porto und Versandkosten Einzelheft: 14,– € inkl. MwSt., zzgl. Porto und Versandkosten Bestellungen beim örtlichen Buchhandel oder direkt bei der NOMOS Verlagsgesellschaft Baden-Baden. Abbestellungen bis jeweils 30. September zum Jahresende. Verlag, Druckerei: Nomos Verlagsgesellschaft Waldseestr. 3-5, 76530 Baden-Baden, Tel.: (0 72 21) 21 04-0 Fax: (0 72 21) 21 04-27 Anzeigenverwaltung und Anzeigenannahme: sales friendly ˘ Bettina Roos Reichsstr. 45-47, 53125 Bonn, Tel.: (0 2 28) 9268835 Fax: (0 2 28) 9268836 E-Mail: [email protected] Urheber- und Verlagsrechte: Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Das gilt auch für die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen und ihre Leitsätze; diese sind geschützt, soweit sie vom Einsender oder von der Redaktion erarbeitet und redigiert worden sind. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags verwendet werden. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISSN 0028-3231 Redaktionsschluss: 18. Oktober 2004

Neue Justiz Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern 58. Jahrgang, S. 481-528

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II

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NJ aktuell Bundesgerichte BGH: Dresdner »Modrow-Käufe« aus dem Jahre 1996 sind wirksam Der BGH hat in einem Musterprozess mit Urt. v. 17.9.2004 (V ZR 339/03) die klageabweisenden Entscheidungen des LG Dresden (NJ 2003, 379) und des OLG Dresden (NJ 2004, 132 [Leits.]) hinsichtlich des von der Stadt Dresden mit den bekl. Eheleuten geschlossenen Kaufvertrags nach dem sog. Modrow-Gesetz v. 7.3.1990 mit folgenden Erwägungen bestätigt: Die Kaufverträge sind nicht an den engeren Maßstäben der Vorschriften über die Veräußerung kommunalen Vermögens zu messen, weil die Stadt Dresden das Grundstück an die Bekl. aufgrund einer besonderen Verfügungsbefugnis verkauft hat. In Ausnutzung dieser Befugnis unterlag sie nicht den kommunalverfassungsrechtlichen Bindungen, sondern nur dem allgemeinen Grundsatz, dass der Staat nichts verschenken darf. Dieser Grundsatz ist nicht schon dann verletzt, wenn die Stadt die ihr 1994 durch das SachenRBerG eingeräumte Möglichkeit, den halben Bodenwert als Kaufpreis zu verlangen, nicht nutzt. Sittenwidrig ist ein Verkauf erst dann, wenn der Preisnachlass unter keinem Gesichtspunkt als durch die Verfolgung legitimer öffentlicher Aufgaben im Rahmen einer an den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit orientierten Verwaltung gerechtfertigt angesehen werden kann. So liegt es hier nicht. Der Verkauf an die Bekl. diente der Beseitigung der Ungleichbehandlung, die die Bekl. – wie viele andere Bürger in den neuen Ländern auch – bei der Behandlung ihrer Kaufanträge nach dem Ges. v. 7.3.1990 erfahren haben. Diese sind von den zuständigen Stellen nicht nach der Reihenfolge ihres Eingangs oder nach anderen sachlichen, sondern nach nicht nachvollziehbaren Kriterien abgearbeitet worden. Durch einen nachträglichen Verkauf zu den damaligen Bedingungen, den amtlich festgesetzten, aber sehr niedrigen Preisen, hat die Stadt Dresden (wie auch die anderen Kommunen in den neuen Ländern) die Gleichbehandlung wieder herstellen wollen. Das ist eine legitime öffentliche Aufgabe, was sich auch daraus ergibt, dass diese Praxis von den obersten Kommunalaufsichtsbehörden stets gebilligt worden ist, und zwar auch nach dem In-Kraft-Treten des SachenRBerG, demzufolge die Kommunen den halben Bodenwert hätten verlangen können. (aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 104/04 v. 17.9.2004) Zur Kritik an der nunmehr vom BGH bestätigten Rechtsauffassung des LG Dresden siehe M. Kellner, NJ 2003, 345 ff. BGH: Abwicklung einer LPG in den neuen Bundesländern Die LPG, um die es in dem vorliegenden Verfahren geht, hatte Ende 1990 ihr gesamtes Vermögen ungeteilt auf eine von ihr gegründete GmbH & Co. KG übertragen. Das entsprach nicht dem LwAnpG und wurde deshalb vom BGH im Jahre 1997 für unwirksam erklärt. Danach bestand die LPG als »unerkannte« Liquidationsgesellschaft fort. Tatsächlich wurde der landwirtschaftliche Betrieb aber von der neuen Gesellschaft geführt, die bereits Grundstücke hinzu erworben hatte. Um diesen Zustand zu bereinigen, schlossen die Liquidatoren der LPG 1999 mit der neuen Gesellschaft einen Unternehmenskaufvertrag, wonach das gesamte Vermögen der LPG auf die neue Gesellschaft rückwirkend zum 1.1.1991 übergehen sollte. Als Gegenleistung verpflichtete sich die neue Gesellschaft u.a., sämtliche Schulden der LPG zu übernehmen und den LPG-Mitgliedern die Stellung von Komman-

Neue Justiz 11/2004

Heft 11/2004 ditisten einzuräumen. Alle noch lebenden Mitglieder der LPG, deren Adresse bekannt waren, wurden zu einer Vollversammlung eingeladen. Dort stimmten die Mitglieder dem Vertrag mit großer Mehrheit zu. Der Kl., der gegen den Beschluss gestimmt hatte, verlangt mit der Klage, dass der Beschluss für nichtig erklärt wird. Das OLG hat die Klage abgewiesen. Der BGH hob mit Urt. v. 20.9.2004 (II ZR 334/02) dieses Urteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück. Den Haupteinwand des Kl., bei der Liquidation einer LPG sei deren Vermögen grundsätzlich in Geld umzusetzen und jede Abweichung davon bedürfe der Zustimmung sämtlicher LPG-Mitglieder, hat der BGH nicht gelten lassen. Denn im Rahmen der Abwicklung einer LPG i.L. ist es zulässig, das gesamte Vermögen auf eine KG zu übertragen, die dafür die Schulden der LPG übernimmt und deren Mitgliedern Kommanditbeteiligungen einräumt. Die Interessen der damit nicht einverstandenen LPG-Mitglieder sind ausreichend gewahrt, wenn der Vertrag vorsieht, dass die Mitglieder von ihrem Vorkaufsrecht und ihrem Recht zur Übernahme einzelner Vermögensgegenstände zum Schätzpreis gem. § 42 Abs. 2 LwAnpG Gebrauch machen könnten. Die Anfechtungsklage hatte aber im Ergebnis Erfolg, weil der Kl. behauptet hatte, zur LPG-Vollversammlung seien nicht alle Mitglieder eingeladen worden. Denn nach den allgemeinen Grundsätzen des Verbandsrechts wird eine Vollversammlung nur dann ordnungsgemäß einberufen, wenn entweder sämtliche Mitglieder des Verbands eingeladen wurden oder die Einladung durch Einrücken in öffentliche Blätter bekannt gemacht wird. Weiter hatte der Kl. mit der Behauptung Erfolg, ihm sei in der Vollversammlung das Wort entzogen und er sei gehindert worden, Fragen zur Bewertung des LPG-Vermögens zu stellen. Auch das wäre ein Verfahrensfehler gewesen, der zur Aufhebung des Beschlusses führen würde. Da die LPG die Behauptungen des Kl. bestritten hat, muss nun das OLG darüber Beweis erheben. (aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 106/04 v. 20.9.2004) BGH: Zum Anscheinsbeweis beim ec-Kartenmissbrauch Die Kl. unterhielt bei der bekl. Sparkasse ein Girokonto. Mit ihrer ec-Karte wurden an Geldausgabeautomaten zweier Sparkassen unter Eingabe der richtigen PIN im Sept. 2000 in drei Fällen insges. 2.000 DM abgehoben. Die Bekl. belastete das Girokonto der Kl. mit den abgehobenen Beträgen. Die Kl. hat mit ihrer auf Zahlung von 2.000 DM gerichteten Klage geltend gemacht, ihr seien kurz vor der ersten Abhebung ihr Portemonnaie mit der ec-Karte entwendet worden. Der Dieb müsse die persönliche Geheimzahl, die nicht schriftlich notiert gewesen sei, entschlüsselt oder Mängel des Sicherheitssystems der Bekl. ausgenutzt haben. Das AG gab der Klage statt, das LG wies sie ab. Der BGH hat mit Urt. v. 5.10.2004 (XI ZR 210/03) die Revision der Kl. zurückgewiesen. Die Bekl. hat das Konto der Kl. zu Recht mit den abgehobenen Beträgen belastet. Das LG hat zwar festgestellt, dass die Geldabhebungen durch einen unbefugten Dritten erfolgten. Die Kl. haftet aber für die durch die missbräuchliche Verwendung ihrer ec-Karte entstandenen Schäden, weil diese auf einer grob fahrlässigen Verletzung ihrer Sorgfalts- und Mitwirkungspflichten beruhen. Das LG hat zutreffend angenommen, zugunsten der hierfür beweispflichtigen Bekl. spreche der Beweis des ersten Anscheins, dass die Kl. ihre Pflicht zur Geheimhaltung der persönlichen Geheimzahl verletzt habe, indem sie diese auf der ec-Karte vermerkt oder zusammen mit dieser verwahrt habe. Ein solches Verhalten stellt nach der Rspr. des Senats eine grobe Fahrlässigkeit des Karteninhabers dar.

III

Die Grundsätze über den Beweis des ersten Anscheins greifen nur bei typischen Geschehensabläufen ein, d.h. in Fällen, in denen ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach allgemeiner Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist. Spricht ein Anscheinsbeweis für einen bestimmten Ursachenverlauf, kann der Inanspruchgenommene diesen entkräften, indem er Tatsachen darlegt und ggf. beweist, aus denen sich die ernsthafte, ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit einer anderen Ursache ergibt. Nach diesen Maßstäben streitet in einem Fall der vorliegenden Art der Beweis des ersten Anscheins für ein grob fahrlässiges Verhalten des Karteninhabers. Das LG hat sachverständig beraten festgestellt, es sei mathematisch ausgeschlossen, die PIN einzelner Karten aus den auf ihnen vorhandenen Daten ohne vorherige Erlangung des zur Verschlüsselung verwendeten Institutsschlüssels zu errechnen. Ohne Rechtsfehler hat das LG ferner sog. Innentäterattacken keine einem Anscheinsbeweis entgegenstehende Wahrscheinlichkeit zugemessen. Der BGH hat aber deutlich gemacht, dass kartenausgebende Kreditinstitute verpflichtet sein können, in Zivilprozessen der vorliegenden Art (im Rahmen berechtigter Geheimhaltungsinteressen) nähere Angaben über die von ihnen getroffenen Sicherheitsvorkehrungen zu machen, um ggf. auch deren Überprüfung durch Sachverständige zu ermöglichen. (aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 110/04 v. 5.10.2004) BGH: Richterernennungen in Brandenburg wirksam Im Rahmen einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in einem Urteil des OLG Brandenburg hatten die Beschwerdef. u.a. die Rüge erhoben, ihr Verfahrensgrundrecht auf eine Entscheidung durch den gesetzlichen Richter sei verletzt, da die Richterstellen in Brandenburg seit 1993 ohne rechtliche Grundlage besetzt worden seien. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde: In Brandenburg werden die Richter nach dem dortigen BbgRiG durch einen Wahlausschuss gewählt. Diesem gehören neben acht Landtagsabgeordneten drei Richter und ein Rechtsanwalt an. Sämtliche Mitglieder werden vom Landtag gewählt. Gewählt werden können nur Richter, die auf einer Vorschlagsliste benannt sind. Die dort aufzunehmenden Richter sind von den auf Lebenszeit ernannten Richtern nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu wählen. Die VO, die das Wahlverfahren für die Vorschlagsliste näher regelt, sieht in Abweichung von dem höherrangigen BbgRiG jedoch die Persönlichkeitswahl vor. Die Wahlen wurden entsprechend der VO nach den Grundsätzen der Persönlichkeitswahl durchgeführt. Die Beschwerdef. halten die VO wegen Verstoßes gegen das BbgRiG für nichtig, folgern daraus, dass der Richterwahlausschuss selbst nicht ordnungsgemäß besetzt sei, und leiten daraus als weitere Konsequenz die Unwirksamkeit der von dem Ausschuss vorgenommenen Richterwahlen ab. Der BGH hat in seinem Beschl. v. 16.9.2004 (III ZR 201/03) diese Rüge für unbegründet erachtet. Nach Bundesrecht wird der Richter durch die Aushändigung einer Urkunde ernannt (§ 17 DRiG). Selbst wenn die gesetzlich vorgeschriebene Beteiligung eines Richterwahlausschusses gänzlich unterblieben ist, begründet dies lediglich einen Grund für die Rücknahme der Ernennung, und das auch nur, wenn der Richterwahlausschuss die nachträgliche Bestätigung abgelehnt hat (§ 19 Abs. 1 Nr. 2 DRiG). Um so weniger können die Unstimmigkeiten zwischen dem BbgRiG und der genannten VO zur Unwirksamkeit der Ernennung der betreffenden Richter führen. (aus: Pressemitteilung des BGH Nr. 113/04 v. 11.10.2004) BVerwG: Befreiungsmöglichkeit des Insolvenzverwalters von der Sanierungspflicht nach dem BBodSchG Das BVerwG hat mit Urt. v. 23.9.2004 (7 C 22/03) entschieden, dass ein Insolvenzverwalter nicht zur Sanierung schadstoffbelasteter Grundstücke nach dem BBodSchG herangezogen werden darf, wenn

IV

er die zunächst zur Insolvenzmasse gehörenden Grundstücke freigegeben, d.h. aus der Insolvenzmasse entlassen hat. Der Kl. ist Insolvenzverwalter über das Vermögen eines Unternehmens. Eine Untersuchung ergab einen Altlastenverdacht bzgl. mehrerer zur Insolvenzmasse gehörender Grundstücke. Daraufhin ordnete das Landratsamt an, dass der Kl. zur Sanierung dieser Grundstücke in Anspruch genommen werden könne und diese Verpflichtung wie eine Masseverbindlichkeit iSv § 55 InsO zu behandeln sei; daneben wurde ihm aufgegeben, ein Fachbüro mit einer Untersuchung zur abschließenden Gefährdungsabschätzung zu beauftragen. Der Kl. gab die Grundstücke aus der Masse frei und erhob Klage gegen die Anordnung des Landratsamts. Diese wies das VG ab, weil der Kl. als Inhaber der umfassenden Sachherrschaft unabhängig davon in Anspruch genommen werden könne, zu welchem Zeitpunkt die von der Sache ausgehende Gefahr entstanden sei. Diese Verantwortlichkeit dauere trotz der durch den Kl. zwischenzeitlich erklärten Freigabe der betroffenen Grundstücke aus der Masse fort. Das BVerwG hat das VG-Urteil aufgehoben und der Klage stattgegeben: Der Kl. durfte zwar für die Sanierung herangezogen werden, solange ihm als Insolvenzverwalter die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Insolvenzmasse zugestanden und er damit die tatsächliche Gewalt über die Grundstücke ausgeübt hat; mit der Freigabe der Grundstücke ist jedoch seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis entfallen. Dies hat zur Folge, dass er nach dem BBodSchG nicht mehr zur Gefahrenabwehr verpflichtet werden kann. Die Freigabe kann entgegen der Auffassung des VG auch nicht wie eine Eigentumsaufgabe behandelt werden, welche die bodenschutzrechtliche Sanierungspflicht unberührt lässt; denn der Kreis der Verantwortlichen ist im BBodSchG abschließend geregelt worden, und die Freigabe kommt auch in ihren Wirkungen einer Eigentumsaufgabe nicht gleich. (aus: Pressemitteilung des BVerwG Nr. 56/04 v. 23.9.2004) BVerwG: Daueraufenthaltsrecht trotz Sozialhilfebezugs der Eltern Der Kl., ein 1982 geborener Iraner, lebt seit 1988 in Deutschland. Seit 1991 erhielt er eine jeweils verlängerte Aufenthaltsbefugnis aufgrund einer niedersächs. Bleiberechtsregelung für Flüchtlinge aus dem Iran. Die 2001 beantragte unbefristete Aufenthaltserlaubnis lehnte die bekl. Landeshauptstadt Hannover mit der Begründung ab, dass die Eltern des Kl., denen er zum Unterhalt verpflichtet sei, Sozialhilfe beziehen. Das VG wies die Klage ab. Der Kl. machte mit seiner – zugelassenen – Sprungrevision vor allem geltend, es könne nicht richtig sein, dass junge Ausländer, deren Eltern Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssten, nur dann Aussicht auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hätten, wenn sie entweder selbst Großverdiener oder die Eltern verstorben seien. Das BVerwG gab dem Kl. mit Urteil v. 28.9.2004 (1 C 10/03) im Ergebnis Recht, hob das VG-Urteil auf und verwies die Sache zurück. Das VG muss noch klären, ob der Kl. die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (nach § 35 Abs. 1 AuslG) erfüllt. Dem Kl. darf aber nicht mehr entgegengehalten werden, dass seine Eltern Sozialhilfe beziehen. Zwar sieht das AuslG vor, dass eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 dann nicht erteilt werden darf, wenn ein Ausweisungsgrund vorliegt. Dazu gehört auch der Bezug von Sozialhilfe durch Angehörige, denen der Ausländer zum Unterhalt verpflichtet ist (§ 35 Abs. 1 Satz 1 AuslG iVm § 24 Nr. 6 und § 46 Nr. 6 AuslG). Dadurch will das Gesetz aber nur sicherstellen, dass ein Daueraufenthaltsrecht für Ausländer, die sich seit mehr als acht Jahren legal in Deutschland aufhalten, nicht zusätzlich die Sozialsysteme belastet. Dieses fiskalische Interesse wird indessen nicht berührt, wenn – wie hier – die in Deutschland lebenden Eltern zwar Sozialhilfe in Anspruch nehmen, aber ein eigenes Aufenthaltsrecht besitzen, das vom Aufenthaltsstatus des Kl. unabhängig ist. (aus: Pressemitteilung des BVerwG Nr. 57/04 v. 28.9.2004)

Neue Justiz 11/2004

BAG: Einheitliches Arbeitsentgelt in Berlin Der Kl. ist seit 1992 bei der Bekl., einer Anstalt des öffentlichen Rechts, im Tarifrechtskreis Ost beschäftigt. Sein tariflicher Vergütungsanspruch belief sich seit Jan. 2002 auf 90 %, seit Jan. 2003 auf 91 % der »Westvergütung«. Bereits seit dem 1.10.1996 erhielt er aufgrund des Berliner EinkommensangleichungsG von 1994 die gleiche Vergütung wie die Arbeitnehmer im Tarifgebiet West. Danach wurde im Tarifgebiet Ost »die Bezahlungsquote für die Bezüge der Arbeitnehmer ... im öffentlichen Dienst des Landes Berlin und der landesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts« durch zusätzliche Zahlungen zunächst stufenweise, ab dem 1.10.1996 auf 100 % der Vergütung des Tarifrechtskreises West angehoben. Seit dem 1.7.2002 sieht dieses Gesetz eine Kürzung der zusätzlichen Zahlung von 1,41 % der Gesamtvergütung vor. Dem liegt zugrunde, dass die Arbeitnehmer des Tarifgebiets West im Gegensatz zu denen des Tarifgebiets Ost zu einem Eigenbeitrag in gleicher Höhe für ihre zusätzliche Altersversorgung herangezogen werden. Demgegenüber wird die erst 1997 eingeführte Zusatzversorgung der Arbeitnehmer des Tarifgebiets Ost ausschließlich durch Umlagen der Arbeitgeber finanziert. Der Kl. beruft sich auf eine stillschweigende vertragliche Zusage bzw. betriebliche Übung, dass ihm auch künftig 100 % der Westvergütung gezahlt werde. Das BAG hat die auf Feststellung der vollen Zahlungspflicht (100 %) gerichtete Klage mit Urt. v. 29.9.2004 (5 AZR 528/03) abgewiesen. Im Gegensatz zu den Vorinstanzen hat es angenommen, dass der Kl. nicht darauf vertrauen konnte, dass ihm unabhängig von der zugrunde liegenden gesetzlichen Regelung auf Dauer 100 % der Westvergütung gezahlt wird. Ein derartiger Wille des Arbeitgebers lässt sich aus der vorbehaltlosen Zahlung nicht entnehmen. Vielmehr hätte der Kl. erkennen müssen, dass die Bekl. nur die Vorgaben des AngleichungsG umsetzen wollte. Das gilt unabhängig davon, ob das Gesetz die zusätzliche Zahlung nur ermöglicht oder zwingend vorschreibt. Die begünstigten Arbeitnehmer mussten stets damit rechnen, dass der Zahlung eine gesetzliche Regelung zugrunde lag, die geändert werden konnte. Im Ergebnis fließt den Arbeitnehmern beider Tarifrechtskreise die gleiche Vergütung zu. (aus: Pressemitteilung des BAG Nr. 67/04 v. 29.9.2004) BAG: Wirksamer Widerspruch mehrerer Arbeitnehmer bei Betriebsübergang Die Kl. ist bei der Bekl., einem Unternehmen des Zeitungs- und Verlagswesens, seit langen Jahren, zuletzt in der Abteilung Anzeigenverkauf, beschäftigt. Auf ihr Arbeitsverhältnis ist ein BeschäftigungssicherungsTV anwendbar, der eine betriebsbedingte Kündigung bis zum Ablauf des TarifV am 30.4.2003 ausschließt. Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten beschloss die Bekl., die Aufgaben des Anzeigenverkaufs an ein noch zu gründendes Unternehmen fremd zu vergeben. Die Kl. und 18 ihrer 20 Kollegen widersprachen dem Betriebsübergang. Daraufhin kündigte die Bekl. das Arbeitsverhältnis am 25.6.2002 außerordentlich mit einer Auslauffrist zum 30.11.2002. Das BAG hat mit Urt. v. 30.9.2004 (8 AZR 462/03) den Widerspruch der Arbeitnehmer für wirksam gehalten und die der Kündigungsschutzklage stattgebende Entscheidung des LAG Potsdam bestätigt. Nach § 613 a Abs. 6 BGB kann ein Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses aufgrund eines Betriebsübergangs schriftlich widersprechen. Ein sachlicher Grund ist dafür nicht erforderlich. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn eine Mehrheit von einem Teilbetriebsübergang betroffener Arbeitnehmer gleichzeitig und mit gleich lautenden Schreiben widerspricht. Das Widerspruchsrecht unterliegt jedoch den allgemeinen Schranken der Rechtsordnung und somit der Kontrolle des Rechtsmissbrauchs gem. § 242 BGB. In diesem Zusammenhang kann es auf die Zweckrichtung oder Zielsetzung des Widerspruchs ankommen. Dient der kollektive Widerspruch lediglich als Mittel zur Vermeidung des Arbeitgeberwechsels, ist er wirksam. (aus: Pressemitteilung des BAG Nr. 71/04 v. 30.9.2004)

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Landesgerichte Thüringer VerfGH: § 130 b ThürKO teilweise verfassungswidrig und nichtig Mit ihren Verfassungsbeschwerden hatten sich die Landkreise SaaleOrla-Kreises und Sömmerda gegen Bestimmungen des mit Wirkung zum 1.4.2002 in die Thür. KommunalO (ThürKO) eingefügten § 130 b gewandt, durch den die Aufgaben des Veterinärwesens und der Lebensmittelüberwachung vom Land auf die Landkreise übertragen wurden. Die von den Beschwerdef. beanstandeten Abs. 8, 10 u. 11 des § 130 b ThürKO regeln die Personal- und Sachausstattung der kommunalisierten Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsämter sowie die Erstattung der den Landkreisen damit entstehenden Personal- und Sachkosten. Hierdurch sehen sich die Beschwerdef. in ihrer Personal- und Finanzhoheit und in ihrem finanziellen Ausgleichsanspruch verletzt. Außerdem wurden sie zu dem erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens in § 130 b ThürKO eingefügten Abs. 10 u. 11 nicht angehört. Der VerfGH hat auf die Verfassungsbeschwerde des Saale-Orla-Kreises mit Urt. v. 12.10.2004 (16/02) § 130 b Abs. 10 u. 11 ThürKO für verfassungswidrig und nichtig erklärt, weil der Beschwerdef. vor Erlass dieser, erheblich in sein Selbstverwaltungsrecht eingreifenden Regelungen nicht angehört wurde. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen § 130 b Abs. 8 ThürKO richtet, wurde sie zurückgewiesen. Diese Regelung, die – um überhaupt anwendbar zu sein – der Konkretisierung durch eine noch zu erlassende Rechtsverordnung bedarf, belastet zum jetzigen Zeitpunkt den Beschwerdef. nicht. Die Verfassungsbeschwerde des Landkreises Sömmerda (9/03) wurde als unzulässig zurückgewiesen, da sie nicht rechtzeitig innerhalb eines Jahres nach In-Kraft-Treten des § 130 b ThürKO erhoben worden war. (aus: Pressemitteilung des Thür. VerfGH v. 12.10.2004) OLG Dresden: Dresden haftet nicht für alte Inhaberschuldverschreibungen Die Stadt Dresden hatte im Jahre 1925 in New York eine Anleihe über 5 Mio. US-Dollar aufgenommen; die Gelder wurden zum Ausbau des städtischen Elektrizitätswerks sowie der Dresdner Straßenbahn verwendet. Die Anleihe war am 1.11.1945 zur Rückzahlung fällig. Die Rückzahlungsverpflichtung ist in Teilschuldverschreibungen mit verschiedenen Nennwerten verbrieft. Der Kl. ist Inhaber eines solchen Wertpapiers. Er hat die Landeshauptstadt Dresden auf Rückzahlung von amerikanischen Goldmünzen, hilfsweise auf Zahlung von 14.465 € sowie von mehr als 11.000 € Zinsen verklagt. Das LG wies die Klage ab, da die Landeshauptstadt Dresden mit der Stadt Dresden aus dem Jahre 1925 weder identisch noch deren Rechtsnachfolgerin sei. Diese Entscheidung hat das OLG mit Urt. v. 24.9.2004 (3 U 1049/03) im Ergebnis bestätigt und dazu ausgeführt: Die Landeshauptstadt Dresden ist rechtlich nicht mit der Emittentin der Wertpapiere, der Stadt Dresden aus dem Jahre 1925, identisch. Insbes. aus dem DDRGesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht von 1957 ergibt sich, dass die frühere Stadt Dresden »untergegangen« ist. Hieran hat sich durch den EinigungsV nichts geändert. Die aus den Wertpapieren resultierende Schuld ist auch nicht durch die Übernahme von Vermögen, auf dem die Verbindlichkeit lastet (Verkehrs- und Versorgungsbetriebe), auf die Landeshauptstadt übergegangen. Die betreffenden Betriebe sind spätestens seit 1930 selbständige juristische Personen gewesen, ohne die Verpflichtungen gegenüber den Inhabern der Schuldverschreibungen übernommen zu haben. Die streitgegenständliche Forderung ist deshalb nicht Bestandteil des »Negativvermögens», welches mit den Betrieben auf die Bekl. übergegangen ist. Im Übrigen war auch die Frist zur Einlösung der Schuldverschreibung (§ 801 BGB) bereits seit dem 1.11.1975 verstrichen. Die Revision wurde wegen höchstrichterlich nicht abschließend geklärter Fragen zur Einzelrechtsnachfolge und Vorlegungsfrist zugelassen. (aus: Pressemitteilung des OLG Dresden Nr. 37/04 v. 24.9.2004)

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OVG Berlin: Erfolgreiche Anträge gegen Schließung des Flughafens Tempelhof Mit Beschlüssen v. 23.9.2004 (1 S 45/004 u. 46/04) hat das OVG Berlin in zwei gegen die Stilllegung des Verkehrsflughafens Berlin-Tempelhof zum 31.10.2004 gerichteten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zugunsten der Ast. entschieden. Bei den Ast. handelt es sich um Fluggesellschaften und Luftfahrtserviceunternehmen, die ihren Sitz oder eine Betriebsstätte auf dem Flughafen Tempelhof haben. Gegenstand des Rechtsstreits war die für sofort vollziehbar erklärte Entscheidung der Berliner Luftverkehrsbehörde, die Berliner Flughafengesellschaft mit Wirkung v. 31.10.2004 von der Betriebspflicht für den Flughafen Tempelhof zu entbinden. Ziel der Maßnahme ist, den rückläufigen Flugverkehr schon vor dem Ausbau des Flughafens Schönefeld zum Single-Standort Brandenburg Berlin International (BBI) auf die bestehenden Flughäfen Tegel und Schönefeld zu verlagern. Zur Begründung wurde u.a. angeführt, dass der Flughafen Tempelhof von der Berliner Flughafengesellschaft, die im wirtschaftlichen Eigentum der Länder Berlin und Brandenburg sowie des Bundes steht, defizitär betrieben werde und die durch die Stilllegung frei werdenden Mittel für den Ausbau des Flughafens Schönefeld eingesetzt werden könnten. Das OVG hat die dadurch nur mittelbar betroffenen, allerdings bereits im Verwaltungsverfahren angehörten Ast. als antragsbefugt angesehen und ihrem Interesse, von einer sofortigen Stilllegung des Flughafens verschont zu bleiben, das ausschlaggebende Gewicht beigemessen. Das Luftverkehrsrecht sieht keine Befugnis der Luftverkehrsbehörde vor, einen genehmigten, planfestgestellten und betriebsbereiten Verkehrsflughafen auf unbestimmte Zeit durch bloße Befreiung des Flughafenunternehmers von der öffentlich-rechtlichen Betriebspflicht stillzulegen, um ihn für einen eventuellen künftigen Bedarf vorzuhalten und ggf. wieder in Betrieb setzen zu können. (aus: Pressemitteilung des OVG Berlin Nr. 35/04 v. 23.9.2004) VG Berlin: Klage gegen Versetzung zum Stellenpool erfolglos Das VG Berlin hat mit Urt. v. 29.9.2004 (5 A 210/04) die Klage einer Beamtin gegen ihre Versetzung zum Stellenpool abgewiesen. Die Kl. war Leiterin des Standesamtes im Bezirk M. Da nach der Zusammenlegung der Bezirke M. und H. von vorher zwei Standesamtsleiterstellen nur noch eine erhalten blieb, fand ein Auswahlverfahren zwischen der Kl. und der bish. Leiterin des Standesamtes H. statt. Im Juli 2001 wurde entschieden, die Stelle mit der bish. Leiterin des Standesamtes H. zu besetzen. Die Kl. erhielt daraufhin die Mitteilung, dass sie dem Personalüberhang zugeordnet werde. In der Folgezeit wurde sie mehrfach umgesetzt und arbeitete zuletzt in einem Sozialamt. Mit Bescheid v. 7.6.2004 wurde die Kl. schließlich zum Zentralen Personalüberhangmanagement (Stellenpool) versetzt. Das VG ging davon aus, dass die Versetzung zum Stellenpool wegen der im StellenpoolG (StPG) getroffenen Regelungen einen justiziablen Verwaltungsakt darstellt. In der Sache handelt es sich um eine durch das StPG modifizierte Versetzung, die vom Gericht lediglich daraufhin zu überprüfen war, ob die vorangegangene Zuordnung zum Personalüberhang rechtmäßig erfolgte. Der Anspruch des Beamten auf amtsangemessene Beschäftigung wird durch die Versetzung zu einem zentralen Stellenpool, der über keine eigenen Dienstposten verfügt, nicht verletzt. Gem. § 2 StPG bezweckt die Versetzung gerade, die Personalüberhangkräfte entsprechend ihrem statusrechtlichen Amt zu beschäftigen. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit der Versetzung zum Stellenpool die Vermittlung einer amtsangemessenen Beschäftigung effektiv gefördert und damit gegenüber dem Zustand bei einem Verbleib der Personalüberhangkräfte bei ihren bisherigen Beschäftigungsstellen verbessert wird. Ein Rechtsfehler bei der Zuordnung zum Personalüberhang war nicht erkennbar. (aus: Pressemitteilung des VG Berlin Nr. 40/04 v. 29.9.2004) Zur Zuordnung und Versetzung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu einem zentralen Stellenpool siehe R. Gottwald, NJ 2004, 197 ff.

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Buchumschau W. Nordemann/A. Nordemann/J. B. Nordemann

Wettbewerbsrecht und Markenrecht Nomos Verlagsgesellschaft, 10. Aufl., Baden-Baden 2004 750 S., brosch., 58,– €. ISBN 3-8329-0919-2 Die überarbeitete Auflage berücksichtigt die umfassende Reform des Wettbewerbsrechts mit seinen im Juli 2004 in Kraft getretenen Neuregelungen. In verständlicher Sprache geschrieben enthält der Band zahlreiche Beispiele und Formularmuster für Abmahnschreiben, Schutzschriften, Anträge und Erklärungen. Im Preis enthalten ist der Online-Zugang zu den wichtigsten BGH- und OLG-Entscheidungen.

Dirk Lehr

Wettbewerbsrecht Tipps und Taktik C. F. Müller Verlag, 2., neu bearb. Aufl., Heidelberg 2004 186 S., kart., 29,– €. ISBN 3-8114-1932-3 Das Buch bietet dem Benutzer einen Überblick über die besonders praxisrelevanten Sachverhalte und ermöglicht dem Ratsuchenden einen Einstieg in die Falllösung. Schlagwortartige Hinweise, Tipps und Fallbeispiele aus der Rechtsprechung machen die Grundprobleme einprägsam; Musterschreiben bieten Formulierungshilfen für die außergerichtliche und gerichtliche Korrespondenz.

Ursula Tschichoflos (Hrsg.)

Das erfolgreiche Erbrechtsmandat Der Praxisleitfaden für den Rechtsanwalt Deubner Verlag, Köln 2004 Loseblattwerk, 1 Band, ca. 900 S. mit CD-ROM, 118,– € ISBN 3-88606-522-7 Das Werk ist insbesondere für den auf Erbrecht nicht spezialisierten Anwalt konzipiert. Wie ein praktischer Leitfaden orientieren sich die nach Mandaten unterteilten Kapitel am Arbeitsablauf eines Anwalts. Neben der Angabe grundlegender Gerichtsentscheidungen finden sich Strategietipps und Hinweise auf besondere Fallkonstellationen. Die CD-ROM enthält praktische Arbeitshilfen (Checklisten, Muster und Formulierungshilfen) zu den einzelnen Mandatsphasen.

Harald Kinne

Mängel in Mieträumen Grundeigentum-Verlag, 4., akt. u. erw. Aufl., Berlin 2004 366 S., kart., 19,80 €. ISBN 3-926773-92-8 Das Spektrum der in Wohnungen auftretenden Mängel ist denkbar breit. Der Autor, Vors. Richter am LG Berlin, arbeitet die gesamte Rechtsprechung auf und berücksichtigt die bisherigen Reformen und Gesetzesänderungen. Besondere Praxisfreundlichkeit erfährt der Band durch zahlreiche sehr gut verständliche Fallbeispiele und eine umfangreiche aktualisierte Minderungsliste mit den durch die Gerichte zugebilligten Minderungsquoten.

Klaus-Peter Becker

Alkohol im Straßenverkehr Bußgeld und Strafverfahren Deutscher Anwaltverlag, 4. Aufl., Bonn 2004 453 S., brosch., 32,– €. ISBN 3-8240-0717-7 Der Autor erläutert sämtliche Alkoholdelikte im Straßenverkehr, die Ermittlungshandlungen der Polizei, die Verfahren der Bußgeldbehörde oder der Staatsanwaltschaft, das gerichtliche Bußgeld- oder Strafverfahren, die Vollstreckung und alle damit in Zusammenhang stehenden Fragen wie Nachschulung oder Wiedererteilung der Fahrerlaubnis. Ein weiterer Abschnitt behandelt die versicherungsrechtlichen Folgen nach Alkoholfahrten. Der Anhang enthält zahlreiche Musterschreiben.

Hermann Neidhart

Bußgeld im Ausland Deutscher Anwaltverlag, 2. Aufl., Bonn 2004 336 S., brosch., 29,90 €. ISBN 3-8240-0650-2 Der Autor, Rechtsanwalt und Leiter des Bereichs Auslandsrecht in der Jur. Zentrale des ADAC, gibt Anwälten, aber auch interessierten Kraftfahrern kompetent und leicht verständlich Auskunft auf viele Fragen im Zusammenhang mit der Verfolgung von Verkehrsverstößen in den zehn wichtigsten europäischen Reiseländern. Ein Novum ist dabei die Zusammenstellung von Bußgeldern im Ausland.

Neue Justiz 11/2004

Urs Kindhäuser

Strafgesetzbuch Lehr- und Praxiskommentar Nomos Verlagsgesellschaft, 2., Aufl. Baden-Baden 2004 1.044 S., geb., 39,– €. ISBN 3-8329-0874-9 Das Werk erscheint in neu bearbeiteter Auflage und zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es die Vorteile von Kommentar und Handbuch verbindet und durch Beispiele und Kurzfälle das Verständnis auch schwieriger dogmatischer Fragen fördert. Die kompakte Darstellung ermöglicht dem Strafverteidiger den schnellen Einstieg in die Probleme der täglichen Praxis.

Rolf Schaefer/Dagmar Göbel

Das neue Kostenrecht in Arbeitssachen Verlag C. H. Beck, München 2004 142 S., kart., 19,– €. ISBN 3-406-51963-6 Die Autoren erläutern die Auswirkungen des am 1.7.2004 in Kraft getretenen KostenrechtsmodernisierungsG auf die Kosten in Arbeitssachen. Behandelt werden das RVG, die Änderungen des GKG und das neue Justizvergütungs- und -entschädigungsG sowie die Besonderheiten im Rahmen von arbeitsrechtlichen Streitigkeiten.

Wolfgang Hamer

Personalvertretungsgesetz Brandenburg Basiskommentar mit Wahlordnung Bund Verlag, 3. Aufl., Frankfurt/M. 2004 331 S., kart., 24,90 €. ISBN 3-7663-2772-0 Der Basiskommentar betrachtet das BbgPersVG aus Sicht des Personalrats. Die rechtlichen Fragestellungen werden dabei unter Beachtung der neuesten Rechtsprechung beantwortet. In vielen Teilen wurde die Kommentierung erheblich erweitert und eine argumentative Auseinandersetzung mit anderen Kommentaren vorgenommen.

ISOR e.V. (Hrsg.)

Wertneutralität des Rentenrechts Strafrente in Deutschland? Kai Homilius Verlag, Berlin 2004 273 S., geb., 18,– €. ISBN 3-89706-881-8 Mit der Sammlung von Beiträgen sollen der »strafrechtsähnliche Rentenentzug« für ehem. DDR-Bürger sowie das politische und juristische Vorgehen des Vereins ISOR dagegen, die dabei erreichten Erfolge, aber auch die Niederlagen aufgezeigt werden. In diesem Sinne stellt die Publikation zugleich eine chronologische Wiedergabe der Bemühungen des Vereins um Rentengerechtigkeit dar und zeichnet ein eindrucksvolles Bild der Geschichte der wertneutralen Entwicklung des Rentenrechts in Deutschland

Deutscher Richterbund (Hrsg.)

Handbuch der Justiz 2004 R. v. Decker’s Verlag, 27. Jahrgang, Heidelberg 2004 760 S., geb., 83,– €. ISBN 3-7685-0523-5 Das Handbuch gewährleistet den schnellen Zugriff auf eine Fülle wichtiger, sonst oft nur schwer einzuholender Informationen und bietet einen vollständigen Überblick u.a. über Strukturen und personelle Besetzung der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Justizverwaltungen in Bund und Ländern. Enthalten sind Namen, Dienststellung und -alter von Richtern, Staatsanwälten und Beamten der Justizverwaltungen, aktuelle Postanschriften, Telefon- und Faxnummern, E-Mail-Adressen sowie die Pressestellen der Behörden.

Weitere Neuerscheinungen: Nomos Gesetze: Öffentliches Recht, Zivilrecht, Strafrecht 3 Bände, Nomos Verlagsgesellschaft, 13. Aufl., Baden-Baden 2004. Ca. 4.600 S., brosch., 39,– €. ISBN 3-8329-0832-3.

Schadstoffe in Wohnungen Hygienische Bedeutung und rechtliche Konsequenzen. Von H.-J. Moriske und R. Beuermann. Grundeigentum-Verlag, Berlin 2004. 124 S., kart., 19,80 €. ISBN 3-937919-08-2.

(ausführliche Rezensionen bleiben vorbehalten)

Neue Justiz 11/2004

Veranstaltungstermine Die Evangelische Akademie Loccum veranstaltet vom 22. bis 24. November 2004 die Tagung »Verschoben ist nicht aufgehoben … Die Umsetzung der Arbeitsmarktreform und das Ende der Verschiebebahnhöfe«. Es sind u.a. folgende Themen vorgesehen: • Was bringt die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Kontext der Arbeitsmarktreformen? Aktuelle Entwicklungen bei der Umsetzung (Ref.: Dr. Rolf Schmachtenberg, Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit) Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt (Ref.: Dr. Ulrich Walwei, stv. Dir. des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg) • Wege in den ersten Arbeitsmarkt? Einstiegsgeld und Zuverdienst (Ref. u.a.: Dr. Ulrich Cramer, Ministerium für Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt; Gunter Schmalz, Geschäftsf. der Sächsischen Aufbau- und Qualifizierungsgesellschaft mbH, Zwickau) • Zusatzjobs, 1-Euro-Jobs – oder was? (Ref.: Dr. Stefan Hoehl, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin; Bernhard Jirku, Ver.di, Berlin; Jürgen Kühl, Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Arbeit, Erfurt) • Die Zusammenarbeit zwischen der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen Herausforderungen – Lösungsansätze – Perspektiven (Ref.: Heinrich Alt, Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg; Dr. Matthias Schulze-Böing, Ltr. des Amtes für Arbeitsförderung und Statistik, Offenbach) Fallmanagement: Aktivierung – Vermittlung – Hilfe? (Ref. u.a.: Burkhard Walter, Sozialamt, Kassel) • ARGE – Option – tertium (non) datur? Institutionelle Ausgestaltung und rechtliche Aspekte der Zusammenarbeit (Ref. u.a.: Christian Armborst, Niedersächs. Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit; Sonja Gartemann, Kreisrätin, Landkreis Osnabrück; Udo Glantschnig, Agentur für Arbeit, Essen) • Wie kann die Beteiligung der Maßnahmeträger erfolgen? (Ref. u.a.: Katja Barloschky, Geschäftsf., bremer arbeit gmbH; Marc Hentschke, Geschäftsf., Neue Arbeit GmbH, Stuttgart) Tagungsort: Ev. Akademie Loccum, 31545 Rehburg-Loccum Tagungsgebühr: 120 € einschl. Übernachtung und Verpflegung Weitere Informationen und Anmeldung: Ev. Akademie Loccum, Postfach 2158, 31545 Rehburg-Loccum. Tel.: (05766) 81-0, Fax: (05766) 81-900; E-Mail: [email protected]; Internet: www.loccum.de

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Das Kommunale Bildungswerk e.V. führt im Dezember 2004 in Berlin folgendes Spezialseminar durch: »Pacht- und Garagenverträge – Vertragsneuabschlüsse in den Liegenschaftsämtern«. Schwerpunkte: • Grundzüge der Garagen- und Stellplatzmiete • Grundzüge des Pachtrechts • Pachtgegenstand und Inventarliste • Entgeltregelungen; Verzug • Kündigung und Beendigung der Pacht • Aufwendungsersatz und Entschädigung • Konsequenzen für den Grundstücksankauf und -verkauf Termin: 6.12.2004 Dozent: Rechtsanwalt Uwe Aderhold Seminargebühr: jeweils 175 € Weitere Informationen: Kommunales Bildungswerk e.V., Gürtelstr. 29 a/30, 10247 Berlin. Tel.: (030) 293350-0, Fax: (030) 293350-39; E-Mail: [email protected]; Internet: www.kbw.de

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Juristische Seminare in Berlin veranstaltet im Nov./Dez. 2004 unter Berücksichtigung aktueller Gesetzesänderungen den Lehrgang »Zwangsvollstreckungsrecht 2004 Block II: Immobiliarvollstreckung«. Kurs 6 (Aufbaukurs, praxisrelevante Spezialfragen): 8./9.11.2004 Kurs 7 (Gläubigertaktik in d. Immobiliarvollstreckung): 29.11.2004 Kurs 8 (Zwangsverwaltung): 6.12.2004 Referent: Prof. Dieter Eickmann, Berlin Tagungsort: Hotel Steigenberger, Berlin Weitere Informationen und Anmeldung: Juristische Seminare in Berlin, Karin Behr, Rackebüller Weg 2B, 12305 Berlin. Tel. u. Fax: (030) 743 19 36; E-Mail: [email protected]; Internet: www.behr-seminare.de

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Neue Justiz Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung in den Neuen Ländern Chefredakteurin: Rechtsanwältin Adelhaid Brandt Anschrift der Redaktion: Französische Straße 13 • 10117 Berlin • Tel. (030) 2232840 • Fax (030) 22328433

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58. Jahrgang • Seiten 481-528

»Des Glückes Unterpfand« trotz allem Dr. Peter Macke, Präsident des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, Brandenburg a.d. Havel

Anlässlich des Tages der Deutschen Einheit hat der Präsident des OLG Brandenburg am 3.10.2004 im Dom zu Brandenburg a.d. Havel in seiner Festrede ein paar Entwicklungen in unserem Staatswesen angesprochen, die er als ungut empfindet. Er sieht jedoch keinen Anlass zur Resignation: Einigkeit und Recht und Freiheit seien weiterhin – mit den Worten der Nationalhymne – »des Glückes Unterpfand«. Die Rede wird im Folgenden unter Beibehaltung des Vortragstils wiedergegeben.

Sehnsucht nach dem Rechtsstaat Am 3. Oktober 1990, heute vor 14 Jahren, wuchsen die beiden deutschen Staaten auch rechtlich wieder zusammen. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR, denen ihr eigener Staat, sichtbar an Mauer, Stacheldraht und Reisebeschränkungen, nicht traute, hatten diesem Regime den Laufpass gegeben. Die friedliche Revolution, die den Weg zur staatlichen Einheit bahnte, hatte verschiedene Ursachen. Die DDR war wirtschaftlich am Ende. Ihr Schutzschild, die UdSSR und das Lager der sozialistischen Staaten, begann auseinander zu brechen. Die Menschen in der DDR wollten reisen können, auch in den Westen und ans Mittelmeer, und sie wollten, wie es ihnen ja auch zustand, als Gegenwert für redliche Arbeit endlich auf ein Warenangebot zurückgreifen können, wie es in Westdeutschland und Westeuropa längst selbstverständlich war. Aber dies alles betrifft nur die äußeren Begleitumstände. Der Ursprung und eigentliche Beweggrund der friedlichen Revolution war der Sache nach die Sehnsucht nach dem Rechtsstaat.

Neue Justiz 11/2004

Damit sage ich nicht, dass die DDR durchgängig ein Unrechtsstaat war – Rechtsstaat ist mehr als das Gegenteil von Unrechtsstaat – und dass in der DDR alles und jedes schief gelaufen wäre. Das eine oder andere hätte man sich, bevor man alles sogleich über Bord warf, ruhig etwas genauer anschauen sollen. Aber die DDR war eben auch kein Rechtsstaat. Den Rechtsstaat kennzeichnet, dass die Grundrechte und Grundfreiheiten der Bürger obenan stehen, dass der Staat seinerseits an das Recht gebunden ist und dass er sich an diesem Maßstab messen lässt. Im Rechtsstaat gilt der Primat des Rechts. Und das war in der DDR eben nicht gesichert. In der DDR galt der Primat der Politik. Die DDR setzte sich, wenn es opportun erschien, über das Recht und zumal über die Grundrechte und Grundfreiheiten ihrer Bürger hinweg, ohne hierfür vor Gericht gezogen werden zu können. Damit sollte, so der ursprüngliche und eigentliche Ansatz der friedlichen Revolution, nun Schluss sein. Es sollte Schluss sein mit staatlichen Gunsterweisen je nach Parteinähe. Die Devise sollte fortan lauten: Recht und Gesetz für alle gleichermaßen ohne Ansehen der Person, ohne Bevorzugung oder Benachteiligung je nach Systemnähe, durchsetzbar vor Gericht, notfalls auch gegen den Staat selbst, und das Recht in der Hand von unabhängigen Richtern, unabhängig und deshalb frei von dem Verdacht, in ihren Entscheidungen dann doch wieder dem Einfluss der Politik zu unterliegen. Insofern ist die Gewaltenteilung, ist eine unabhängige Rechtsprechung als ebenbürtige Staatsgewalt für den Rechtsstaat unentbehrlich. Und das alles ist erreicht. Die Grundrechte gelten gleichermaßen für jedermann unbeschadet seiner politischen Grundeinstellung. Es gilt gleiches Recht für alle. Das letzte Wort in allen

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Aufsätze Konflikten zwischen Staat und Bürger und im Verhältnis der Bürger untereinander liegt bei den Gerichten. Die Richter sind unabhängig und unterliegen in ihrer Rechtsprechungstätigkeit keinerlei Weisungen. Die Justiz genießt Vertrauen. Sie macht ihre Sache ordentlich. Das gilt, gelegentlichen Unkenrufen zum Trotz, auch für das Land Brandenburg; bei jährlich rd. 150.000 Prozessen und rd. 400.000 anderweitigen Inanspruchnahmen der Gerichte von der Grundbucheintragung bis zum Erbschein liegt der Prozentsatz der Entscheidungen, in denen es Grund zur Aufregung gibt, nahe Null. Das gemeinsame Haus der Deutschen ist der Rechtsstaat. Bis dahin also: Grund zur Genugtuung.

Sozialstaatsgarantie und Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse Indes: Wir leben nicht im Paradies. Aktuell – und davon kann man sich auch am Tag der Einheit nicht freimachen – erleben wir, noch gestern in Berlin, massive Proteste gegen anstehende Veränderungen im Sozialsystem, Stichwort Hartz IV. Für eine detailliertere Bewertung des Komplexes bietet dieser Festakt freilich schon aus Zeitgründen keine Gelegenheit. Aber es wäre feige, dem Thema hier gänzlich auszuweichen. Lassen Sie mich dazu an das Grundgesetz anknüpfen. Deutschland ist nach Art. 20 GG ein demokratischer und sozialer – ich wiederhole: auch ein sozialer – Rechtsstaat. Diese Festlegung auf den Sozialstaat hat teil an der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 GG. Selbst eine verfassungsändernde Mehrheit könnte sich über die Sozialstaatsgarantie nicht hinwegsetzen. Das bedeutet zweierlei. Zum einen: Hartz IV wäre unzulässig, wenn Deutschland als Folge von Hartz IV kein sozialer Rechtsstaat mehr wäre. Das aber wird man schwerlich sagen können. Die Sozialhilfe, mit der die Arbeitslosenhilfe zusammengeführt wird, ist ihrerseits Ausweis des Sozialstaats, vorbildlich in der Welt. Zum anderen gilt aber auch, dass die Sozialstaatsgarantie des Grundgesetzes der Durchschlagskraft des so häufig gewordenen Hinweises auf wirtschaftliche Zwänge, dem Hinweis darauf, dass der Sozialstaat nicht mehr bezahlbar sei, eine Grenze setzt. Diejenigen, die jetzt Morgenluft wittern und immer neue Vorschläge zu immer neuen Einschnitten in das soziale Netz machen, dürfen deshalb den Bogen nicht überspannen und mögen sich hüten, den inneren Frieden zu belasten. Sie können sich, wenn das so weitergeht, immer weniger und im Gegenzug können sich diejenigen, die sich dagegen wehren, eben angesichts der Sozialstaatsgarantie, immer mehr auf dem Boden des Grundgesetzes fühlen. Ich setze auf Augenmaß auf beiden Seiten. Wer zündelt, darf sich nicht wundern, wenn ein Brand entsteht. Eine Unstimmigkeit ist allerdings insofern unterlaufen, als das sog. Arbeitslosengeld II im Osten niedriger ausfällt als im Westen. Es geht dabei um 14 € im Monat, genau um 14 € im Monat instinktlos und ohne Sinn und Verstand daneben gegriffen. Der lapidare Hinweis, die Löhne seien ja auch niedriger als im Westen, überzeugt nicht. Das Arbeitslosengeld II koppelt ja gerade vom Arbeitseinkommen ab und will – ähnlich wie die Sozialhilfe – die Grundversorgung abdecken. Die Kosten hierfür, die Preise etwa für Nahrungsmittel und Kleidung im Supermarkt, sind aber in Ost und West offensichtlich dieselben. Demzufolge muss auch das Arbeitslosengeld II gleich sein. Das gehört ausgebügelt. Soweit der Bundespräsident in diesen Wochen gemeint hat, in der Bundesrepublik bestünden »nun einmal große Unterschiede

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in den Lebensverhältnissen« und wer sie einebnen wolle, zementiere den Subventionsstaat, war damit ganz sicher nicht gemeint, dass es eine Ungleichbehandlung der Menschen je nach Region, wie sie uns bei diesen 14 € pro Monat beim Arbeitslosengeld II entgegentritt, geben dürfe. Auch diesbezüglich spricht das Grundgesetz eine klare Sprache. Niemand darf, so heißt es dort, wegen seiner Heimat und Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden (Art. 3 Abs. 3). Das Grundgesetz gibt dem Bund die Gesetzgebungskompetenz expressis verbis zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Art. 72 Abs. 2); und gleichwertig heißt gleichwertig und nichts anderes. Das Steueraufkommen, so das Grundgesetz an anderer Stelle, ist so auf Bund und Länder aufzuteilen, dass die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Ziff. 2). Das Grundgesetz verbietet also in dieser Weise, standortgebunden ungleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet hinzunehmen oder gar durch Minderleistungen noch zu verstärken. Es gebietet vielmehr zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse Solidarität und Ausgleichszahlungen zu Gunsten derjenigen, die es unverschuldet in ihrer Region nicht so gut getroffen haben; Solidarität und Ausgleichszahlungen, wie sie übrigens in früheren Jahren der Bundesrepublik auch solche Bundesländer, die sich heute zögerlich zeigen und zu zieren beginnen, mit der größten Selbstverständlichkeit und ohne sich zu zieren ihrerseits in Anspruch genommen haben, als es ihnen noch nicht so gut ging. Das Prinzip der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse durchzieht, wie ergänzend angemerkt sei, auch den Einigungsvertrag. Es gab Anfang der 90er-Jahre keine Festveranstaltung, in der nicht die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost und West geradezu als Leitmotiv der Wiedervereinigung immer wieder von neuem beschworen worden wäre. Es wäre schofel, jetzt davon wieder abzurücken. Die Menschen haben darauf vertraut und vertrauen weiter darauf. Der Staat darf Vertrauen, das er selbst gesät hat und das seine Bürger in ihn gesetzt haben, nicht enttäuschen, wenn er nicht auf die Anklagebank geraten will.

Recht und demokratischer Rechtsstaat Auch ansonsten kann die Freude über die endlich wiedergewonnene Einheit in Frieden und Freiheit nicht davon entbinden, sich Gedanken zu machen über Entwicklungen und Tendenzen, die unserem Staatswesen, wenn wir nicht aufpassen, einen Teil seiner Anziehungskraft nehmen könnten. Wie alles von Wert muss auch der Rechtsstaat gehegt und gepflegt werden. Da aber gibt es ein paar Punkte, die einen beunruhigen können. Erosion des Rechtsbegriffs Schon vom Wort her, erste Bemerkung, geht es beim Rechtsstaat ums Recht, ist sein eigentliches Substrat das Recht. Ist es nicht ein Alarmzeichen, dass dieser Topos – »Recht« – zunehmend unscharf geworden ist, ja seinen Zauber und seinen Glanz eingebüßt hat? In unserer Nationalhymne ist dieser Zauber noch lebendig. Da ist vom Recht als Unterpfand des Glücks für unser Vaterland die Rede. Das hat was. Und an solchem Maßstab gemessen wirkt das, was heutzutage in den Gesetzblättern als Recht daherkommt, meist eigenartig kleinkariert; und bürokratisch, umständlich und für den Normalbürger, manchmal auch für den Juristen, weitgehend unverständlich obendrein. Der Gesetzgeber überschlägt sich dabei gelegentlich bis an die Grenze des Kuriosen. Zum

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Beispiel ist das Einkommensteuergesetz in den letzten 14 Tagen des vergangenen Jahres neun Mal geändert worden, alles zum 1.1.2004 in Kraft tretend. Die Vorstellung, dass sich die Leute unterm Weihnachtsbaum mit Steuerrechtsänderungen befassen würden, ist geradezu komisch.

muss zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Wir wollen darauf achten, dass das nicht in Vergessenheit gerät.

Das Recht versinkt gewissermaßen in einem Regelungsbrei. Das verdunkelt die Rechtsidee, verspielt die Autorität des Rechts und ist damit dem Rechtsstaat, der das Recht im Namen führt, höchst abträglich. Neuerdings wird gar die Forderung erhoben, alle Regelungen zeitlich, z.B. auf fünf Jahre, zu limitieren. Das ist gefährlicher Unfug. Recht mit Verfallsdatum ist ein Widerspruch in sich selbst. Zum Recht gehört Unverbrüchlichkeit und Stetigkeit. Die Zehn Gebote lassen sich nicht limitieren. Unser Bürgerliches Gesetzbuch ist in seinen tragenden Teilen seit mehr als 100 Jahren in Kraft und prägt seither in segensreicher Weise unsere Rechtsund Wirtschaftsordnung. Recht braucht Vertrauen. Und Vertrauen gewinnt nur, was vertraut ist. Recht mit Verfallsdatum ist daher das falsche Rezept.

Unbehagen, so die dritte Bemerkung, bereitet ferner, dass immer häufiger wichtige und wichtigste Angelegenheiten im Verantwortungsbereich von Parlament und Regierung als den eigentlich zuständigen demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern in irgendwelche Ausschüsse, Kommissionen, »Pakt«-Gremien und Konsensrunden vorverlagert werden. Hinter der dort gefundenen Lösung steht dann, weil es sich um einen Kompromiss handelt, niemand mehr vollen Herzens; jeder versteckt sich dahinter, dass mehr halt nicht durchzusetzen gewesen sei. Aber es kommt auch niemand mehr davon herunter und der eigentlich berufene Verantwortungsträger, Parlament oder Regierung, ist »politisch« kaum mehr Herr seiner Entschlüsse. Das läuft auf eine fragwürdige Verantwortlichkeitsverwischung im Staate hinaus.

Ich hab’ gar nichts dagegen, den Normendschungel radikal zu lichten. Noch besser wäre es gewesen, ihn gar nicht erst aufwachsen zu lassen. Also: weg damit!, aber nicht mit der gleichzeitigen Einladung, etwas anderes an die Stelle zu setzen nach der Devise »Macht ja nichts, tritt in fünf Jahren sowieso außer Kraft und dann fällt uns schon wieder was anderes ein«. Nein: Was den Namen Recht verdient, muss stehen bleiben und vom Dickicht befreit umso markanter hervortreten. Und wo wirklich etwas neu geregelt oder geändert werden muss, hat das so treffend und so weise zu geschehen, dass es Fuß fassen und auf Jahre hinaus Bestand haben und Wirkung entfalten kann. Besser als Recht mit Verfallsdatum wäre es, einmal eine Zeitlang überhaupt keine neuen Gesetze mehr zu machen, um die Dinge sich setzen zu lassen. Dem Recht, seiner Vertrauenswürdigkeit, der Rechtskultur und der Rechtstreue würde eine solche Atempause nur gut tun! Ökonomieprinzip nicht Maß aller Dinge Ein ungutes Gefühl, zweite Bemerkung, verbindet sich auch mit den immer deutlicher hervortretenden Rückwirkungen der – freilich angespannten und komplizierten – Wirtschaftslage auf Politik und Gemeinwesen. Das gilt nicht erst seit Hartz IV. Die allgemeine Bewusstseinslage wird seit Jahr und Tag mehr und mehr, die Wertediskussion geradezu beiseite schiebend, von Sorgen wirtschaftlicher und haushaltspolitischer Art in Anspruch genommen. Die Politik interessiert sich inzwischen in der Hoffnung auf konjunkturelle Besserung mehr für den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen als für die Rechte der wirtschaftlich Schwächeren. Das ist eine schwierige Gratwanderung. Selbstverständlich brauchen wir eine solide wirtschaftliche Grundlage. Und unser Staat braucht Steuern, die nur bei Ertrag und Gewinn fließen; er braucht sie nicht zuletzt auch für Transferleistungen innerhalb der Gesellschaft im Interesse der sozialen Gerechtigkeit. Aber unbeschadet dessen: Das Ökonomieprinzip darf nicht zum Maß aller Dinge werden, darf nicht dazu führen, dass Großunternehmen, und seien sie noch so erfolgreich und steuerkräftig, immer noch größer werden und damit das wirtschaftliche Ungleichgewicht im Lande noch zunimmt. Wirtschaftsmacht hat als solche keine demokratische Legitimation. Die Wirtschaft muss sich vielmehr ihrerseits in den Dienst des Gemeinwohls stellen. Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen, so sagt es das Grundgesetz. Das gilt der Sache nach für Wirtschaftspotential schlechthin. Auch Wirtschaftspotential verpflichtet und

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Verwischung von Verantwortlichkeiten

Das Leitbild des Grundgesetzes ist nicht der paktierende Staat, in dem sich einer hinter dem anderen versteckt, sondern ein Staat der geschichteten Verantwortlichkeit, ein Staat, in dem die jeweils zuständige Staatsgewalt, und zwar nicht nur formal, sondern kraft eigener Kompetenz und aus eigener Überzeugung, zu ihrer Verantwortung zu stehen hat. Entscheidungskompetenz und Verantwortung gehören zusammen. Die Verantwortungsdiffusion, die wir stattdessen erleben, trägt zur Staatsverdrossenheit bei. Sie verstärkt das Gefühl, dass in der Politik alle unter einer Decke stecken und für Pleiten ja doch niemand haftbar gemacht werde. Mehr Vorsicht bei Privatisierungen Mehr Vorsicht geboten scheint mir auch, vierte Bemerkung, gegenüber dem fast schon zur fixen Idee gewordenen Ruf nach Privatisierung staatlicher Aufgaben. Richtig ist, dass nicht alles und jedes in die Hand des Staates gehört. Der totalitaristische Staat hat abgewirtschaftet. Aber der demokratische Staat bleibt, und zwar auch für den Fall von Krisenzeiten, der Gesamtheit seiner Bürger verpflichtet und darf die Mittel zur Wahrnehmung dieses Auftrags nicht leichtfertig aus der Hand geben. Es war durch das Mittelalter hindurch und bis in das 19. Jahrhundert hinein, Preußen auch in dieser Hinsicht durchaus als Motor, ein mühsamer Prozess, die private und für diesen Fall naheliegenderweise Privatinteressen – meist von Adelsfamilien und Kaufmannsdynastien – verfolgende Regie in Angelegenheiten von allgemeinem Interesse zurückzudrängen und dem unkontrollierten Handeln auf eigene Faust einen Riegel vorzuschieben, z.B. Privatfehden und Selbstjustiz zu unterbinden, privat aufgebotenen Söldnertrupps das Handwerk zu legen und für die Allgemeinheit bedeutsame Belange wie das Verkehrs- und Postwesen oder auch die Steuereintreibung dem privatnützigen Regalienwesen zu entziehen und – aus Gemeinwohlgründen sowie zur Sicherstellung fairer Bedingungen für alle – in staatliche Obhut zu nehmen. Inzwischen ist der Staat in breiter Front auf dem Rückzug und gibt das Zepter gewissermaßen wieder aus der Hand, wenn auch nicht mehr an den Adel, so doch, jedenfalls meistens, an Großkonzerne. Das geht gut, solange es gut geht. Aber es ist nicht ungefährlich. Der Staat kann in die Abhängigkeit der Geister geraten, die er da gerufen hat. Er muss ja daran interessiert sein, dass die ausgelagerten Bereiche reibungslos funktionieren, weil davon die Zufriedenheit der Bürger und Wähler abhängt, und er wird

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Aufsätze damit ein Stück weit für Pressionen der privaten Träger empfänglich. Und wenn es bei diesen privaten Trägern aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen dann doch einmal zu Ausfällen kommt, kann er ja nicht mir nichts dir nichts das Kommando zurückübernehmen und sieht sich dann womöglich einem Chaos gegenüber. Nicht dass es uns eines Tages einmal leid tut, den Staat durch allzu weitgehende Privatisierung aus seiner Verantwortung entlassen zu haben. Übrigens scheint mir auch noch keineswegs ausgemacht, dass Private wirklich preiswerter sind. Sie sind legitimerweise auf Gewinn aus und geben ihre Kosten, ihr Personal meist besser bezahlend als der öffentliche Dienst, über die Preise weiter. Nicht ganz selten begegnet man dem früheren Dezernatsleiter der Behörde bei verdoppeltem Gehalt als Geschäftsführer der neuen GmbH wieder. Das zahlt dann, wie gesagt, der Verbraucher. Auszug der Politik in die Medien Als problematisch empfinde ich, letzte meiner besorgten Bemerkungen für heute, etwa auch den zunehmenden Auszug der Politik aus dem Parlament in die Medien. Das geht inzwischen in bedenklicher Weise zu Lasten des Stellenwerts der Demokratie im allgemeinen Bewusstsein und hat geradezu Züge einer Mediokratie: »Mediokratie statt Demokratie«, heißt es schon. Bitte vergegenwärtigen Sie sich, dass auch die Presse und die anderen Medien, so wichtig eine freie Presse und die freie Berichterstattung für eine freie Gesellschaft sind, aus sich selbst heraus jedenfalls keine demokratische Legitimation haben. Dahinter stehen Private, stehen Verleger, Sendeanstalten, Herausgeber, Redakteure und Journalisten, sie alle mit privaten Interessen und privaten Ambitionen, interessiert an Auflagenhöhe und Einschaltquoten, an Berufserfolg und an Berufsrenommee, untereinander in Konkurrenz stehend und in ihren Mitteln allzu oft nicht wählerisch, um es milde auszudrücken. Die Politik muss sich der Presse und den Medien stellen, selbstverständlich, aber sie darf sich davon nicht wie von einer Droge abhängig machen. Das Forum der politischen Auseinandersetzung in einer parlamentarischen Demokratie ist das Parlament. Das aber muss sich inzwischen einiges gefallen lassen. Die großen politischen Themen werden, jedenfalls gewinnt man bisweilen diesen Eindruck, nurmehr als verspätete Pflichtübung im Deutschen Bundestag erörtert, nachdem sich die tonangebenden Politiker zuvor schon längst in Zeitungsinterviews und vor allem in Fernseh-Talkshows positioniert und damit zugleich die eigene Fraktion ungefragt schon mit festgelegt haben. Die Zeiten, in denen man gebannt einer Parlamentsdebatte am Radio oder im Fernsehen folgte und dabei noch was Neues hörte, sind weitgehend Vergangenheit – ein trauriger Befund, wie ich finde.

Einigkeit und Recht und Freiheit Trotz allem, meine Damen und Herren, besteht kein Grund zur Resignation. Bitte verstehen Sie die vorangegangenen besorgten Bemerkungen als eine verdeckte Liebeserklärung für den Staat, in dem wir leben. Das ist wie bei einem Menschen, den man schätzt. Man wünscht ihm, dass er gesund bleibt. Genauso müssen wir uns wünschen, dass unser Gemeinwesen, weil schätzenswert, gesund und stabil und vor Fehlentwicklungen bewahrt bleibt. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes hat sich, trotz allem, durch Jahrzehnte bewährt. Das Recht ist und bleibt die gemeinsame

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Klammer. Das Recht gibt der staatlichen Einheit, zu der wir endlich wiedergefunden haben, den äußeren Rahmen und den inneren Halt. Und erst das Recht sichert die Freiheit. Auch die Freiheit stünde nur auf dem Papier und wäre nichts wert, wenn sie nicht auch rechtlich und gerichtlich durchsetzbar wäre. Insofern ist und bleibt das Recht die eigentliche Grundlage für das Zusammenleben im Staate in Einheit und Freiheit. Es ist ein – natürlich zunächst nur der Sprachrhythmik geschuldeter, dann aber eben doch eine Botschaft enthüllender – schöner Zufall (auch Zufälle sprechen ja manchmal ihre eigene Sprache), dass in unserer Nationalhymne das Recht seinen Platz in der Mitte zwischen Einigkeit und Freiheit findet und damit in diesem Dreiklang von Einigkeit und Recht und Freiheit das verbindende Element bildet. Lassen Sie mich an diesem unserem Nationalfeiertag abschließend aus der Präambel des Grundgesetzes in der Fassung von Mai 1949 zitieren. Dort heißt es, formuliert in einer Zeit, als sich Deutschland nach einem von Deutschland selbst zu verantwortenden verheerenden Krieg gerade erst aus Schutt und Asche und Schmach und Verzweiflung zu erheben begann, unter den damaligen Verhältnissen fast irreal anmutend und geradezu Prophetie in Anspruch nehmend sowie in einer Sprache, wie sie eindrucksvoller nicht sein kann, dass sich Deutschland dieses Grundgesetz gebe – ich zitiere wörtlich – »im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«.

Und nach einem Hinweis auf die damalige deutsche Teilung folgt sodann, was die Älteren unter uns ein zu Ende gehendes Leben lang begleitet hat, ich zitiere wiederum wörtlich: »Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgerufen, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«.

Das alles, meine Damen und Herren, ist wunderbarerweise wahr geworden. Ich habe noch die Worte meines Vaters im Ohr, als er vor den rauchenden Trümmern unserer Kreisstadt meinte: »Aus diesem Land wird nie mehr was«. Es ist anders gekommen. Die Wunschträume der Präambel des Grundgesetzes sind wahr geworden. Die nationale und staatliche Einheit ist gewahrt. Unser Land ist gleichberechtigtes Glied in einem zusammenwachsenden Europa. Und dieses politisch zusammenwachsende Europa ist größer als man es sich 1949 vorstellen konnte. Dass z.B. Polen dabei ist, ist Grund zu tief empfundener Freude und stellt unser Land Brandenburg, als daran angrenzend, gleichsam in vorderster Linie in die historische Mission, den Ausgleich nach Osten ebenso unumkehrbar zu machen, wie es nach Westen hin gelungen ist. Deutschland dient, auch das ist wahr geworden und trägt zugleich zu unserer inneren Einheit bei, dem Frieden in der Welt, so gut es kann. Nicht zuletzt, meine Damen und Herren, ist die Selbstverpflichtung der Präambel des Grundgesetzes eingelöst, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Den entscheidenden Anteil daran hatten die Bürgerinnen und Bürger der DDR mit der friedlichen Revolution des Jahres 1989, die die Voraussetzungen für die dann am 3. Oktober 1990 vollzogene Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffen hat, an die der heutige Tag der Deutschen Einheit erinnert. Einigkeit und Recht und Freiheit bleiben des Glückes Unterpfand trotz allem. Wir sollten darum bemüht bleiben, brüderlich, so brüderlich wie möglich, und mit Herz und Hand.

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Die überschuldete Fiskalerbschaft Rechtsanwalt Dr. Christian Tetzlaff, Düsseldorf *

Der Fiskus ist nicht selten gesetzlicher Erbe überschuldeter Nachlässe. Dies birgt Risiken der Haftung in sich. Der Autor gibt einen Überblick über das Nachlassinsolvenzverfahren als ein Mittel der Haftungsbegrenzung.

I. Einleitung In den einzelnen Bundesländern und auf Bundesebene beschäftigen sich unterschiedliche staatliche Stellen mit Erbschaften, die dem Fiskus nach § 1936 BGB zugefallen sind, weil keine anderen Erben vorhanden sind oder weil alle vor dem Fiskus in Frage kommenden Erben die Erbschaft ausgeschlagen haben. Neben den (Einzel-)Fällen, in denen dem Fiskus über § 1936 BGB ein Millionenerbe zufällt, haben sich die zuständigen Behörden vor allem auch mit Nachlässen zu beschäftigen, die ganz klar überschuldet sind oder bei denen nicht feststeht, ob eine Überschuldung vorliegt. Häufig wird die Abwicklung dieser Nachlässe dadurch erschwert, dass sich Vermögenswerte des Erblassers nur schwer ermitteln lassen (z.B. Erblasser verstirbt in Sachsen, die grundpfandrechtlich belasteten Eigentumswohnungen befinden sich im Ruhrgebiet) oder dass sich der Wert von Bestandteilen des Vermögens des Erblassers nur schwer feststellen lässt (z.B. Ermittlung des Wertes von Gesellschaftsanteilen, wenn der Erblasser Gesellschafter einer GmbH oder Kommanditist einer KG war).1 Nicht selten sind schwierige gesellschafts- und insolvenzrechtliche Fragen zu lösen (z.B. Kombination der Fiskalerbschaft mit der Insolvenz einer Gesellschaft, bei welcher der Erblasser Gesellschafter war; hier sind Auseinandersetzungen mit dem Insolvenzverwalter über Eigenkapitalersatzrecht denkbar).2 Der Fiskus als Erbe muss sich diesen Problemen stellen, da er – anders als andere Erben – nicht die Option hat, die Erbschaft nicht anzutreten. Der Fiskus kann als gesetzlicher Erbe die Erbschaft nicht ausschlagen (vgl. § 1942 Abs. 2 BGB) und nach § 2346 BGB auch nicht darauf verzichten. Durch den Ausschluss eines Ausschlagungsrechts für den Fiskus wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Erbschaften herrenlos werden.3 Da der Fiskus damit keine Möglichkeiten hat, eine nach § 1967 BGB bestehende unbeschränkte Haftung als Erbe für die Nachlassverbindlichkeiten durch die Ausschlagung der Erbschaft abzuwehren, muss er seine Haftung nachträglich beschränken können. Ohne die nachträgliche Limitierung der Haftung würde der Fiskus nicht nur mit dem Wert des Nachlasses für die Nachlassverbindlichkeiten haften, sondern auch mit dem eigenen, also dem gesamten Vermögen des Fiskus. Um das Risiko einer eigenen Haftung möglichst zu minimieren, ist es für den Fiskus besonders wichtig, das Vorliegen von Insolvenzgründen zu erkennen und darauf ggf. mit der Einleitung von haftungsbeschränkenden Maßnahmen zu reagieren. Gibt es hier Verzögerungen, so können sich daraus Schadensersatzpflichten des Fiskus ergeben.

II. Möglichkeiten für eine Haftungsbeschränkung durch den Fiskus Der Fiskus als gesetzlicher Erbe kann seine Haftung gegenüber einzelnen Gläubigern oder gegenüber der Gesamtheit der Nach-

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lassgläubiger nachträglich beschränken.4 Die Einrede des Aufgebots der Nachlassgläubiger (§§ 1970 -1973 BGB, §§ 989 ff. ZPO) wirkt nur gegenüber den Gläubigern des Nachlasses, die im Aufgebotsverfahren nach § 1973 BGB ausgeschlossen worden sind. Letztlich kann das Aufgebotsverfahren nur dazu dienen, dem Erben Aufschluss über die zum Nachlass gehörenden Vermögenswerte und die Höhe der Nachlassverbindlichkeiten zu geben, um ihm den Entschluss über die Beantragung eines Nachlassinsolvenzverfahrens oder einer Nachlassverwaltung und die Errichtung eines Inventars zu ermöglichen. Der Erbe kann in der Folge die Anordnung der Nachlassverwaltung beim Nachlassgericht beantragen. Das Verfahren der Nachlassverwaltung dient der geordneten Tilgung der Nachlassverbindlichkeiten eines nicht überschuldeten Nachlasses. Beim Nachlassinsolvenzverfahren wird das gleiche Ziel verfolgt, allerdings steht hier fest, dass der Nachlass überschuldet ist. Das Nachlassinsolvenzverfahren (und natürlich auch die Nachlassverwaltung) werden nur durchgeführt, wenn die Erbmasse ausreicht, um die Kosten für die Durchführung des jeweiligen Verfahrens zu bezahlen.5 Liegt eine überschuldete Fiskalerbschaft vor, so taugt die Nachlassverwaltung nicht als Mittel zur Abwicklung des Nachlasses, da durch die Anordnung der Nachlassverwaltung nicht das Instrumentarium zur Verfügung gestellt wird, um einen Gläubigerwettlauf zu verhindern. So sind auch nach Anordnung der Nachlassverwaltung Zwangsvollstreckungen einzelner Gläubiger in den Nachlass möglich.6 Erst im Nachlassinsolvenzverfahren werden Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen nach § 89 InsO ausgeschlossen und Zwangsvollstreckungen für einzelne Nachlassgläubiger nach Eintritt des Erbfalls, die diesen Nachlassgläubigern ein Sicherungsrecht (Absonderungsrecht) verschafft haben, werden nach § 321 InsO für unwirksam erklärt. Kommt es zur Durchführung des Nachlassinsolvenzverfahrens, so haftet der Erbe nach der Schlussverteilung und der Aufhebung des Verfahrens nur dann unbeschränkt (mit seinem eigenen Vermögen), wenn er sein Recht zur Haftungsbeschränkung * Der Autor ist Rechtsanwalt bei Buchalik – Brömmekamp Rechtsanwälte/ Steuerberater in Düsseldorf. Der Beitrag geht auf eine Seminarveranstaltung zurück, die er für Mitarbeiter des Staatsbetriebes Sächs. Immobilien- und Baumanagement im Febr. 2004 in Dresden durchgeführt hat. Der Autor dankt den Seminarteilnehmern für die anregende Diskussion. 1 Diese Gesellschaftsanteile sind nicht am freien Markt handelbar. Für die Ermittlung des Wertes muss häufig das Gutachten eines Wirtschaftsprüfers eingeholt werden. Oft ist im Gesellschaftsvertrag vorgesehen, dass ein neuer Gesellschafter nur mit Zustimmung der anderen Gesellschafter aufgenommen werden kann. 2 Hat der Erblasser als Gesellschafter der notleidenden Gesellschaft statt Eigenkapital ein ihm gehörendes Grundstück mietweise zur Verfügung gestellt, so kann nach den Regeln der eigenkapitalersetzenden Nutzungsüberlassung der Insolvenzverwalter der Gesellschaft die Mietzahlungen vom Erben zurückfordern und das Grundstück ohne Mietzahlung weiter nutzen, vgl. dazu: v. Gerkan/Hommelhoff (Hrsg.), Hdb. des Kapitalersatzrechts, 2. Aufl. 2002, Teil 8. 3 Palandt-Edenhofer, BGB, 63. Aufl. 2004, § 1942 Rz 3. 4 Zu den Möglichkeiten einer Haftungsbeschränkung für einen »normalen« Gläubiger vgl. Firsching/Graf, Nachlassrecht, 7. Aufl. 1994. Zu den Privilegien für den Fiskus als gesetzlichen Erben vgl. § 2011 BGB (keine Inventarfrist für den Fiskus), § 780 Abs. 2 ZPO (Beschränkung der Haftung des Erben bei Verurteilung in einem ursprünglich gegen den Erblasser geführten Prozess). 5 Vgl. § 1988 Abs. 2 BGB für die Nachlassverwaltung und § 26 InsO für das Nachlassinsolvenzverfahren. 6 Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1984 Rz 5.

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Aufsätze verwirkt hat (§§ 1989, 2013 Abs. 1 BGB). Beim Fiskus kann dieser Fall praktisch (nahezu) nicht eintreten, da bei ihm keine unbeschränkte Haftung aufgrund der Versäumung der Errichtung eines Inventars oder einer falscher eidesstattlicher Versicherung und einer Inventaruntreue in Betracht kommt.7 Der Fiskus haftet dann also beschränkt auf den Nachlass und kann sich auf die § 1989 iVm § 1973 BGB berufen. Das bedeutet, dass er die Erfüllung der noch offenen Nachlassverbindlichkeiten insoweit verweigern kann, als der Nachlass durch das Insolvenzverfahren erschöpft wird, vgl. § 1973 Abs. 1 BGB.8 Diese sog. Dürftigkeitseinrede aus § 1973 BGB greift auch dann ein, wenn wegen fehlender Kostendeckung ein Nachlassinsolvenzverfahren (oder eine Nachlassverwaltung) nicht eröffnet werden kann.

III. Haftungsrisiken bei der Übernahme eines überschuldeten Nachlasses Gegen den Fiskus können aber Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden, wenn er ein Nachlassinsolvenzverfahren zu spät einleitet. Werden trotz vorliegender Überschuldung aus dem Nachlass an einzelne Gläubiger Zahlungen geleistet, so muss der Fiskus diese Zahlungen in einem späteren Insolvenzverfahren an die Masse erstatten (§ 1978 Abs. 1 BGB iVm Auftragsrecht). Machen einzelne Gläubiger gegenüber dem Nachlass Ansprüche geltend und wird nicht erkannt, dass noch eine große Anzahl weiterer Verbindlichkeiten existiert und der Nachlass nicht für die Befriedigung aller Forderungen ausreicht, und wird der Nachlass weitgehend dafür aufgebraucht, um diese Gläubiger zu befriedigen, so dass für die Befriedigung der Gläubigergesamtheit keine Mittel zur Verfügung stehen, so kann der Insolvenzverwalter vom Fiskus als Erben eine Erstattung dieser Zahlungen verlangen.9 Steht das Erbrecht des Fiskus fest, so ist es ratsam, eine Vermögensübersicht zu erstellen, um anhand dieser auch das Vorliegen von Insolvenzgründen prüfen zu können. Ist kein Know-how für die Erstellung dieser Übersicht vorhanden bzw. fehlen die finanziellen Mittel für eine Hinzuziehung von externem Sachverstand (z.B. zur Ermittlung des Wertes eines Gesellschaftsanteils, Beurteilung der rechtlichen Wirksamkeit von Forderungen/Verpflichtungen), so kann dies grundsätzlich den Fiskus nicht im Hinblick auf seine Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags bei Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung entlasten.10 § 1980 Abs. 2 BGB ordnet ausdrücklich an, dass der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung die auf Fahrlässigkeit beruhende Unkenntnis gleichsteht. Bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht aus § 1980 BGB besteht eine Schadensersatzpflicht gegenüber den Nachlassgläubigern, wenn diese durch die verspätete Antragstellung Schäden erlitten haben. In einem späteren Nachlassinsolvenzverfahren werden diese Schäden teilweise als Gesamtschaden durch den Insolvenzverwalter nach § 92 InsO geltend gemacht, teilweise können die geschädigten Gläubiger selbst die Schadensersatzansprüche verfolgen.11 Im Einzelnen bedeutet dies in der Praxis, dass Gläubiger, die in Unkenntnis des Vorliegens von Insolvenzgründen mit dem Nachlass Geschäfte gemacht haben (z.B. Auftrag des Fiskus an Bewachungsunternehmen zur Sicherung von zum Nachlass gehörenden Immobilien) und durch die Einleitung der Insolvenz Schäden erlitten haben (Ansprüche des Bewachungsunternehmens können nur zur Insolvenztabelle angemeldet werden), Ansprüche als sog. Neugläubiger geltend machen können. Die Gläubiger, welche Ansprüche gegenüber dem Nachlass hatten und die infolge der verzögerten Einleitung des Insolvenzverfahrens mit einer geringeren Quote rechnen müssen, haben ebenfalls einen Schaden in Form der geringeren Quote erlitten.

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Te t z l a f f , D i e ü b e r s c h u l d e t e F i s k a l e r b s c h a f t

Dieser Schaden der sog. Altgläubiger wird durch den Insolvenzverwalter geltend gemacht.12 Bei der Erstellung der Vermögensübersicht, aus der dann der Überschuldungsstatus erstellt werden kann, ist zu beachten, dass aktuelle und realistische Werte bei den einzelnen Vermögensgegenständen zugrunde gelegt werden müssen. Sind einzelne Vermögensgegenstände mit Sicherungsrechten zugunsten einzelner Gläubiger belastet, so sind diese ebenfalls zu berücksichtigen. Beispiel: Gehört zum Nachlass ein bebautes Grundstück und existiert ein Verkehrswertgutachten aus dem Jahre 1992, das den Verkehrswert der Immobilie mit 500 TDM beziffert, so muss überlegt werden, ob dieser Verkehrswert auch noch heute erzielt werden kann. Ggf. muss ein neues Gutachten eingeholt werden oder – falls dies zu hohe Kosten verursacht – zumindest ein aktueller Wert unter Berücksichtigung von Bodenrichtwerten ermittelt werden. Ist das Grundstück mit Grundpfandrechten zugunsten einer Bank belastet, so muss ermittelt werden, wie hoch die zu sichernde Forderung valutiert. Ist eine Grundschuld mit einem Nennbetrag von 200 TDM eingetragen, wird der (aktuelle) Verkehrswert des Grundstücks mit 320 TDM ermittelt und valutiert die zu sichernde Forderung bei 80 T€, so kann davon ausgegangen werden, dass die gesamte zu sichernde Forderung aus dem Erlös aus der Verwertung des Grundstücks zurückgeführt werden kann und dass ein Restbetrag dem Nachlass zusteht. Vom Verkehrswert des Grundstücks i.H.v. 320 TDM müsste die zu sichernde Forderung i.H.v. 80 T€ abgezogen werden. U.U. wären noch weitere Abschläge vorzunehmen, wenn nicht zu erwarten ist, dass der Verkehrswert bei einer Verwertung erlöst werden kann.

Die Werte in den Vermögensaufstellungen müssen bei Bedarf auch durch den Erben an die veränderten Umstände angepasst werden. Stellt sich z.B. heraus, dass ein Grundstück, das ursprünglich in der Vermögensaufstellung mit 1 Mio. € angesetzt worden war, nur für 700 T€ veräußert werden kann, so sind die Werte bei den Aktiva und auch bei den Passiva (nicht durch Grundpfandrechte abgedeckter Teil des valutierenden Darlehens) zu aktualisieren. Möglicherweise kann es dadurch auch zu einer Überschuldung kommen.

Aus der Vermögensaufstellung lässt sich ohne weiteres ein Überschuldungsstatus ableiten. Nicht in den Überschuldungsstatus aufzunehmen sind die Verbindlichkeiten aus Vermächtnissen und Auflagen.13

IV. Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens Ein Nachlassinsolvenzverfahren ist zu eröffnen, wenn ein Insolvenzgrund (vgl. §§ 17 ff. InsO) vorliegt und eine die Kosten für die Abwicklung des Insolvenzverfahrens ausreichende Masse vorhanden ist (vgl. § 26 InsO). Als Eröffnungsgrund kommen im Nachlassinsolvenzverfahren – wie im »normalen« Insolvenzverfahren – die Insolvenzgründe der Zahlungsunfähigkeit, der drohenden Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung in Frage. Bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit wird gem. § 17 Abs. 2 InsO untersucht, ob die im Nachlass vorhandenen Mittel ausreichen, um die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Bei einem 7 Palandt-Edenhofer, ebenda, § 2011 Rz 1. In Betracht kommt aber eine unbeschränkte Haftung nach §§ 25, 27 HGB, wenn der Fiskus ein Handelsgeschäft des Erblassers fortführt, vgl. dazu: MünchKomm-HGB/Lieb, 1996, § 27 Rz 18 ff., 49 ff. 8 MünchKomm-InsO/Siegmann, 2003, Vor §§ 315-331 Rz 14. 9 Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1979 Rz 4. 10 Vgl. dazu Palandt-Edenhofer, ebenda, § 1980 Rz 4. Im Einzelnen ist streitig, ob die Insolvenzantragspflicht schon dann verletzt ist, wenn der zur Antragstellung Verpflichtete durch Organisationsmängel keine Kenntnis vom Vorliegen eines Insolvenzgrundes erhält – vgl. dazu BGHZ 75, 96. 11 Zu Behandlung von Gesamtschäden und Individualschäden, von Altgläubigern und Neugläubigern vgl. ausführl.: Uhlenbruck-Hirte, InsO, 12. Aufl. 2003, § 92 Rz 10. 12 BGHZ 138, 211 = NJW 1998, 2667. 13 Viniol, in: Beck/Depre, Praxis der Insolvenz, 2003, § 30 Rz 22.

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Nachlassinsolvenzverfahren bleiben also die Vermögensverhältnisse des Erben außer Betracht.14 Reichen die vorhandenen flüssigen Mittel nicht aus, um alle fälligen Verbindlichkeiten zu erfüllen, kann aber innerhalb weniger Wochen15 dieser Zustand behoben werden (z.B.: ein Grundstück des Nachlasses wird veräußert und aus dem Erlös können die Verbindlichkeiten beglichen werden), so liegt nur eine Zahlungsstockung vor und es muss ebenfalls kein Insolvenzantrag wegen Zahlungsunfähigkeit gestellt werden.16 Kann nur ein sehr geringer Teil der fälligen Verbindlichkeiten nicht beglichen werden, so besteht ebenfalls keine Insolvenzantragspflicht. Der Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit wird allerdings schon dann bejaht, wenn nur 5 % der fälligen Verbindlichkeiten nicht bezahlt werden können.17 Der Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit liegt dann vor, wenn im Rahmen einer Prognose ermittelt wird, dass in der Zukunft eine Zahlungsunfähigkeit vorliegen wird (vgl. § 18 Abs. 2 InsO). Dies ist dann der Fall, wenn zu erwarten ist, dass größere Verbindlichkeiten zukünftig fällig werden, schon jetzt aber abzusehen ist, dass im Nachlass nicht die notwenigen finanziellen Mittel zur Bezahlung der Verbindlichkeiten zur Verfügung stehen werden.18 Bei Vorliegen des Insolvenzgrundes der drohenden Zahlungsunfähigkeit besteht keine Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags.19 Eine Überschuldung liegt dann vor, wenn das Vermögen die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (vgl. § 19 Abs. 2 InsO). Für das Nachlassinsolvenzverfahren gelten folgende Modifikationen: Dem Wert des Nachlasses zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung ist der Wert der ermittelten Nachlassverbindlichkeiten gegenüber zu stellen. Bei der Anfertigung eines Überschuldungsstatus sind die Verbindlichkeiten aus Vermächtnissen und Auflagen nicht in den Status aufzunehmen.20 Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Überschuldung ergeben sich insbesondere dann, wenn (im weitesten Sinne) wirtschaftliche Unternehmungen zum Nachlass gehören: Bei einem Unternehmen ist im Wege einer zweistufigen Prüfung zu ermitteln, ob eine Überschuldung vorliegt.21 Vereinfacht dargestellt wird zunächst eine Fortbestehensprognose gestellt. Fällt diese Prognose negativ aus, so sind im Überschuldungsstatus Liquidationswerte anzusetzen. Diese Liquidationswerte (auch: »Zerschlagungswerte«) liegen regelmäßig unter den bisher bilanzierten Werten, weil bei einer kurzfristigen Veräußerung aller Aktiva geringere Werte erlöst werden als bei einer Fortführung des Unternehmens. Fällt die Fortbestehensprognose hingegen positiv aus, so können im Überschuldungsstatus Fortführungswerte angesetzt werden. Auf dieser Grundlage ist dann zu ermitteln, ob eine Überschuldung vorliegt.22 Ein Nachlass ist natürlich nicht mit einer Gesellschaft gleichzusetzen, bei der die eben dargestellte zweistufige Überschuldungsprüfung durchgeführt werden muss. Trotzdem kommen die gleichen Überlegungen in vereinfachter Form auch bei der Prüfung einer Überschuldung des Nachlasses zum Tragen. Beispiel: Gehört zum Nachlass ein sog. Bauträgerprojekt, d.h., hatte sich der Erblasser gegenüber einem Käufer verpflichtet, ein schlüsselfertiges Haus auf einem von ihm, dem Bauträger, erworbenen Grundstück zu erstellen, so muss ermittelt werden, ob aus diesem Projekt Verluste auf den Nachlass zukommen und ob deshalb eine Überschuldung eintreten könnte. Im Beispiel hatte der Erblasser den Ankauf des Grundstücks mit Bankkrediten finanziert. Außerdem hatte er mit Handwerkern Verträge für den Bau des Hauses abgeschlossen. Die Handwerker haben Teile ihrer Leistungen erbracht und auch schon Abschlagszahlungen erhalten. Der Käufer hat an den Erblasser (nach Baufortschritt) ebenfalls erste Zahlungen geleistet. Das Projekt ist so kalkuliert, dass der Bauträger aus diesem Geschäft einen Gewinn i.H.v. 25 T€ realisieren kann. Bis zum Tod des Erblassers gab es bei der Abwicklung des Projekts auch keine ernsthaften Schwierigkeiten. Betrachtet

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man die bereits erbrachten Leistungen und die vom Käufer erhaltenen Anzahlungen, so stellt sich das Projekt bisher als positiv dar. Wird allerdings nicht weitergebaut, so kann der Käufer erhebliche Ansprüche gegenüber dem Bauträger geltend machen, die das positive Ergebnis in ein »Minusgeschäft« verkehren. Wurden nach dem Tod des Erblassers (des Bauträgers) die Maßnahmen am Bau eingestellt und droht jetzt der Käufer mit dem Rücktritt vom Kaufvertrag und der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen, so kann keine positive Fortbestehensprognose abgegeben werden. Hieraus kann eine Überschuldung des Nachlasses resultieren. Dieses »Bauträgerprojekt« kann realistischerweise nur mit Zerschlagungswerten im Überschuldungsstatus berücksichtigt werden. Fortführungswerte könnten nur dann angesetzt werden, wenn durch den sofortigen Weiterbau gewährleistet werden könnte, dass der Käufer sein Rücktrittsrecht nicht ausübt. Die Zugrundelegung von Zerschlagungswerten führt dazu, dass bei den Aktiva das Grundstück mit der im Rohbau befindlichen Immobilie erheblich abgewertet werden muss und bei den Passiva die Schadensersatzansprüche des Käufers zu berücksichtigen sind.

Der Erbe kann wegen aller drei oben beschriebenen Insolvenzgründe (Zahlungsunfähigkeit, drohende Zahlungsunfähigkeit, Überschuldung) einen Antrag auf Eröffnung des Nachlassinsolvenzverfahrens stellen. Nachlassgläubiger können wegen der Insolvenzgründe Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung Insolvenzantrag stellen, vgl. § 320 InsO. Für Nachlassgläubiger gilt eine Antragsfrist, vgl. § 319 InsO. Hat der Erbe Kenntnis vom Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Nachlasses erlangt, so hat er unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB), einen Insolvenzantrag zu stellen. Bei der Stellung des Insolvenzantrags sind keine besonderen Formalitäten zu beachten: Zuständig für die Einleitung des Insolvenzverfahrens ist das Insolvenzgericht. Welches Insolvenzgericht örtlich zuständig ist, ergibt sich aus § 315 InsO. Da die Fiskalerbschaft dem Bundesland zufällt, in dem der Erblasser sich niedergelassen hatte,23 und § 315 InsO auf den allgemeinen Gerichtsstand/den Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit des Erblassers abstellt, muss z.B. das Land Sachsen als Erbe den Antrag bei dem für den Bezirk örtlich zuständigen Insolvenzgericht in Sachsen stellen. In dem Insolvenzantrag ist der Insolvenzgrund zu nennen und es muss deutlich werden, dass der Fiskus als Erbe die Eröffnung eines Nachlassinsolvenzverfahrens beantragt. Dem Insolvenzantrag sollten Unterlagen beigefügt werden, aus denen sich das Vorliegen eines Insolvenzgrundes ergibt. In jedem Fall müssen dem Insolvenzverwalter (zunächst dem vom Insolvenzgericht bestellten Gutachter bzw. vorläufigen Insolvenzverwalter) Unterlagen zu den Vermögenswerten, die sich im Nachlass befinden, ausgehändigt werden. Den Fiskus als Erben treffen die üblichen Auskunfts- und Mitwirkungspflichten nach § 97 InsO, d.h., der Erbe ist verpflichtet, dem Insolvenzgericht, dem Insolvenzverwalter und den Gläubigerorganen über alle das Insolvenzverfahren betreffenden Fragen Auskunft zu geben. Die Erfüllung dieser Verpflichtungen kann nach § 98 InsO auch erzwungen werden.

14 Viniol (Fn 13), § 30 Rz 21. 15 In Rspr. und Lit. ist streitig, wie lange dieser Zeitraum dauern darf, vgl. BGH, WM 2001, 2181, 2182 (ein Monat oder kürzer); Burger/Schellberg, KTS 1995, 563, 567 (zwei bis drei Wochen); weitere Nachw. bei UhlenbruckUhlenbruck (Fn 11), § 17 Rz 9. 16 Uhlenbruck-Uhlenbruck, ebenda, § 17 Rz 9. 17 AG Köln, NZI 2000, 89, 91; Uhlenbruck-Uhlenbruck (Fn 11), § 17 Rz 10. 18 Uhlenbruck-Uhlenbruck, ebenda, § 18 Rz 3 ff. 19 Vgl. den Wortlaut des § 1980 Abs. 1 BGB. 20 Viniol (Fn 13), § 30 Rz 22. 21 MünchKomm-InsO/Drukarczyk/Schüler, 2001, § 19 Rz 42 ff. und Abb. 2 auf S. 343. 22 Ausführl. dazu die Kommentierung des § 19 InsO von Drukarczyk/Schüler, in: MünchKomm-InsO, 2001. 23 Vgl. dazu Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1936 Rz 5.

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Aufsätze

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V. Ablauf eines Nachlassinsolvenzverfahrens

Der Insolvenzverwalter kann auf vom Schuldner (hier: Erblasser und Erbe) vorgenommene Rechtshandlungen einwirken:

1. Überblick

Bei von beiden Seiten nicht vollständig erfüllten Verträgen kann er die Erfüllung oder die Nichterfüllung wählen (§ 103 InsO). Bei ungünstigen Verträgen kann er Nichterfüllung wählen und die Masse damit vor weiteren wirtschaftlichen Verlusten, die bei der Abwicklung des Vertrags entstehen würden, bewahren. Der andere Vertragspartner kann wegen Beendigung des Vertrags entstehende Schadensersatzansprüche nur als Insolvenzforderungen gegenüber der Masse geltend machen. Der Insolvenzverwalter kann u.a. die Sonderkündigungsrechte nach § 109 InsO (Mietverhältnisse mit Nachlass als Mieter) und § 113 InsO (Dienstverhältnisse mit Nachlass als Arbeitgeber) ausüben. Es gelten kürzere Kündigungsfristen als außerhalb des Insolvenzverfahrens. Der Insolvenzverwalter kann Rechtshandlungen des Erblassers und des Erben anfechten (§§ 129 ff., 322 InsO).

§ 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO bestimmt, dass über »einen Nachlass« ein Insolvenzverfahren eröffnet werden kann. Für die Abwicklung eines Nachlassinsolvenzverfahrens gelten die allgemeinen Bestimmungen der InsO, soweit nicht in den §§ 315 ff. InsO Abweichendes geregelt ist. Die Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens unterscheidet sich nicht wesentlich von der eines »normalen« Insolvenzverfahrens:24 Nach der Stellung eines Insolvenzantrags setzt das Insolvenzgericht eine mit der Abwicklung von Insolvenzverfahren vertraute Person als Gutachter ein. Dieser Gutachter prüft das Vorliegen von Insolvenzgründen und nimmt zu der Frage Stellung, ob die vorhandenen Mittel ausreichen, um die Kosten des Verfahrens zu decken. Teilweise ordnet das Gericht noch zusätzliche Sicherungsmaßnahmen an, um Vermögensverschiebungen und Zwangsvollstreckungen einzelner Gläubiger zu unterbinden. Dazu wird dann häufig ein vorläufiger Insolvenzverwalter eingesetzt, der in der Praxis personengleich mit dem Gutachter ist. Kommt dieser Gutachter zu dem Ergebnis, dass keine die Kosten des Verfahrens deckende Masse vorhanden ist, so empfiehlt er die Nichteröffnung des Verfahrens. Weist daraufhin das Insolvenzgericht den Insolvenzantrag mangels Masse nach § 26 Abs. 1 InsO ab, so steht dem Fiskus als Erben die »Dürftigkeitseinrede« oder auch »Erschöpfungseinrede« des § 1973 BGB zu. Seine Haftung beschränkt sich auf den Nachlassüberschuss.25 Dies ändert allerdings nichts daran, dass der Fiskus als Erbe weiterhin Eigentümer von nicht verwertbaren Grundstücken bleibt und dort für ordnungsgemäße Zustände sorgen muss. Empfiehlt der Gutachter die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, so wird das Insolvenzgericht einen Nachlassinsolvenzverwalter bestellen. Auf diesen geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über den Nachlass über, § 80 InsO. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens greift ein Vollstreckungsschutz (vgl. §§ 88, 89, 321 InsO). Das bedeutet, dass es für einzelne Gläubiger nicht mehr möglich ist, sich durch Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen vor allen anderen Gläubigern zu befriedigen (z.B. Eintragung einer Sicherungshypothek auf einem zum Nachlass gehörenden Grundstück, nachfolgende Zwangsverwertung und Befriedigung aus dem Erlös). Es gilt ein Vollstreckungsverbot für Gläubiger. Zwangsvollstreckungen einzelner Gläubiger innerhalb bestimmter Zeiträume vor der Einleitung des Insolvenzverfahrens werden für unwirksam erklärt, ohne dass es einer Insolvenzanfechtung durch den Verwalter bedarf. Mit Verfahrenseröffnung treten folgende weitere wichtige Rechtswirkungen ein: Nach § 240 ZPO werden laufende Prozesse unterbrochen; der Verwalter erhält so die Möglichkeit zu prüfen, ob diese Rechtsstreitigkeiten für die Masse vorteilhaft sind. Ist absehbar, dass die Prozesse verloren gehen werden, kann der Insolvenzverwalter diese beenden, ohne dass weitere Kosten auf die Masse zukommen. Nach §§ 81, 82 InsO sind Verfügungen des Schuldners unwirksam; an den Schuldner kann nicht mehr schuldbefreiend geleistet werden. Den Insolvenzverwalter trifft nach § 148 InsO die Pflicht zur Inbesitznahme der Insolvenzmasse. Er hat allerdings die Möglichkeit, nicht verwertbare Gegenstände aus der Insolvenzmasse freizugeben.26 Nach einer Freigabe ist wiederum der Fiskus für die freigegebenen Gegenstände/Grundstücke verantwortlich. Auf den Insolvenzverwalter gehen die handels- und steuerrechtlichen Pflichten über, § 155 InsO. Aufträge und Vollmachten erlöschen automatisch mit Verfahrenseröffnung (§§ 115 ff. InsO).

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2. Sonderregelungen im Nachlassinsolvenzverfahren Im eröffneten Verfahren ist es die Aufgabe des Nachlassinsolvenzverwalters, das gesamte Nachlassvermögen zu verwerten und den Erlös gleichmäßig unter den Gläubigern zu verteilen. Als Besonderheit gegenüber dem »normalen« Insolvenzverfahren (Verfahren über das Vermögen einer natürlichen Person oder einer Gesellschaft) hat das Nachlassinsolvenzverfahren die Aufgabe, eine Trennung der zeitweilig vermischten Vermögensmassen des Erblassers und des Erben herbeizuführen. Da den Nachlassgläubigern eine Befriedigung aus dem ungeschmälerten Nachlass gewährt werden soll, versucht das Gesetz, rückwirkend auf den Zeitpunkt des Erbfalls eine Trennung des Nachlasses vom übrigen Vermögen des Erben herbeizuführen.27 Vereinfacht gesagt: Hat der Erbe etwas von dem Vermögen des Erblassers in sein Vermögen überführt, so muss er es wieder herausgeben. Hat der Erbe unter Einsatz von Mitteln aus seinem Vermögen Verpflichtungen des Erblassers erfüllt, so muss geregelt werden, welche Ansprüche der Erbe in der Insolvenz des Nachlasses geltend machen kann. Die maßgeblichen Regelungen finden sich nicht nur in der InsO, sondern auch im BGB (u.a. §§ 1976 ff.). Wiederherstellung erloschener Rechte, insbesondere Unwirksamkeit von Aufrechnungen (§§ 1976, 1977 BGB): War der Erbe Schuldner und gleichzeitig Gläubiger des Erblassers, so fielen Gläubiger- und Schuldnerrolle mit der Feststellung der Erbschaft des Fiskus in der Person des Fiskus zusammen. Es muss die Rechtslage wie zum Zeitpunkt des Erbfalls wiederhergestellt werden. Haftung des Erben für die bisherige Verwaltung (§ 1978 BGB): Im Falle der Eröffnung des Nachlassinsolvenzverfahrens haftet der Erbe den Nachlassgläubigern für die von ihm vorgenommene Verwaltung. Diese Haftung richtet sich nach den Grundsätzen des Auftragsrechts. Umgekehrt steht dem Erben Aufwendungsersatz nach den Regeln des Auftragsrechts zu. Berichtigung von Nachlassverbindlichkeiten (§ 1979 BGB): Solange der Erbe davon ausgehen darf, dass der Nachlass zur Berichtigung aller Nachlassverbindlichkeiten ausreicht, darf er diese Verbindlichkeiten berichtigen. Haftung des Erben wegen verspäteter Insolvenzantragstellung (§ 1980 BGB): Verletzt der Erbe die Insolvenzantragspflichten, so haftet er den geschädigten Gläubiger zivilrechtlich auf Schadensersatz.

24 Bei den »normalen« Insolvenzverfahren gilt es zu unterscheiden zwischen Unternehmensinsolvenzen und Insolvenzen über das Vermögen natürlicher Personen. Für die Abwicklung von Insolvenzverfahren natürlicher Personen mit dem Ziel der Schuldbefreiung gibt es Sonderregelungen. Auch bei Unternehmensinsolvenzen können besondere Verfahren zur Anwendung kommen, z.B. die Eigenverwaltung oder das Insolvenzplanverfahren. 25 Vgl. dazu Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1973 Rz 2 ff. 26 BGH, ZIP 2002, 1043; Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der Insolvenz, 2002, Rz F 1 ff. mwN. 27 Viniol (Fn 13), § 30 Rz 25 ff.

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Die Regelungen in den §§ 315 ff. InsO modifizieren die allgemeinen Vorschriften zur Abwicklung von Insolvenzverfahren. Teilweise werden im Nachlassinsolvenzverfahren auch andere Begrifflichkeiten benutzt. Im Insolvenzverfahren sind folgende wichtige Gläubigergruppen zu unterscheiden: Gläubiger von Massekosten (§ 54 InsO), Gläubiger von Masseverbindlichkeiten (§ 55 InsO u.a.), Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) und nachrangige Insolvenzgläubiger (§ 39 InsO). Zu den Massekosten zählen die Gerichtskosten und die Vergütung und die Auslagen des Insolvenzverwalters. Masseverbindlichkeiten sind vor allem Verbindlichkeiten, welche der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet (z.B. Weiternutzung einer gemieteten Immobilie – Verpflichtung zur Zahlung der Miete). Beide Gläubigergruppen erhalten im Regelfall 28 vollständige Befriedigung. Insolvenzgläubiger sind alle diejenigen Gläubiger, deren Forderungen bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet waren. Im Insolvenzverfahren können diese Gläubiger ihre Forderungen zur Insolvenztabelle anmelden und im besten Fall mit einer Quote auf ihre Forderung rechnen. Nachrangige Insolvenzgläubiger rangieren noch nach dem Insolvenzgläubiger und erhalten im Regelfall keine Befriedigung. Zu den nachrangigen Insolvenzgläubigern gehören z.B. auch die Gesellschafter einer insolventen Gesellschaft; weiterhin fallen unter § 39 InsO auch Geldstrafen, Geldbußen und Zinsansprüche.

Im Nachlassinsolvenzverfahren sind folgende Gläubigerkategorien zu unterscheiden: – Nachlassinsolvenzgläubiger, § 325 InsO (vergleichbar mit den Insolvenzgläubigern), – Nachrangige Nachlassinsolvenzgläubiger: Im Range nach den Nachlassinsolvenzgläubigern und nach den nachrangigen Insolvenzgläubigern (§ 39 InsO) können gem. § 327 InsO die Pflichtteilsberechtigten, die Gläubiger aus vom Erblasser angeordneten Vermächtnissen und Auflagen u.a. ihre Ansprüche geltend machen, – Massegläubiger: Der Katalog der Masseverbindlichkeiten wird in § 324 InsO über die in den §§ 54, 55 InsO bezeichneten Verbindlichkeiten hinaus wesentlich erweitert. Zu nennen sind insbes. die durch den Erbfall ausgelösten Verbindlichkeiten. Daneben gibt es aussonderungsberechtigte Gläubiger (z.B. Leasinggeber), die Gegenstände aus der Insolvenzmasse herausverlangen können, und absonderungsberechtigte Gläubiger, die an bestimmten Gegenstände Sicherungsrechte geltend machen (z.B. Sicherungsabtretung von Forderungen, Sicherungsübereignung von Maschinen, Grundpfandrechte aus Grundstück des Schuldners) und daher in der Insolvenz abgesonderte Befriedigung aus dem Erlös der Verwertung dieser Gegenstände beanspruchen können. Das bedeutet bspw., dass eine Bank, die dem Schuldner/Erblasser einen Kredit i.H.v. urprünglich 650 T€ gegeben und diesen durch eine Grundschuld von nominal 650 T€ zzgl. dinglichen Zinsen abgesichert hat, bei einer Verwertung des Grundstücks aus dem Versteigerungserlös von angenommen 550 T€ einen Anteil von 400 T€ erhält, wenn der Kredit nunmehr i.H.v. 400 T€ valutiert.29

Hinsichtlich der Geltendmachung und Verwertung von Sicherungsrechten (Aus- und Absonderungsrecht, vgl. §§ 47 ff., 165 ff. InsO) sind im Nachlassinsolvenzverfahren keine Besonderheiten zu beachten. 3. Ansprüche des Fiskalerben im Nachlassinsolvenzverfahren In der Praxis besteht im Falle der Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens ein großes Interesse des Fiskus, eine möglichst umfassende Befriedigung der von ihm verauslagten Mittel für die Abwicklung des Nachlasses im Nachlassinsolvenzverfahren zu erhalten. Die Chancen für eine vollständige Erstattung der Kosten sind dann gegeben, wenn diese als Masseverbindlichkeiten zu

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klassifizieren sind. Allerdings werden Masseverbindlichkeiten im Nachlassinsolvenzverfahren nur dann vollständig befriedigt, wenn keine Masseunzulänglichkeit vorliegt. Im Fall der Masseunzulänglichkeit (vgl. §§ 208 ff. InsO) kommen die Sonderbestimmungen des § 209 Abs. 1 InsO zur Anwendung. Das bedeutet, dass nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit (ursprüngliche) Masseverbindlichkeiten zu Altmasseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO) herabgestuft werden. Altmassegläubiger können nur mit einer anteiligen (quotalen) Befriedigung ihrer Forderung rechnen.30 Die Verbindlichkeiten, die über den Katalog des §§ 54, 55 InsO und der Vorschriften des »Allgemeinen Teils« hinaus im Nachlassinsolvenzverfahren als Masseverbindlichkeiten geltend gemacht werden können, sind in § 324 InsO aufgeführt. Im nachfolgenden Beispielsfall soll exemplarisch gezeigt werden, wie Forderungen des Fiskalerben im Nachlassinsolvenzverfahren zu klassifizieren sind. a) Der Fiskus als gesetzlicher Erbe hat nach Feststellung seiner gesetzlichen Erbenstellung alte Steuerrückstände des Erblassers aus der Zeit vor dem Erbfall beim Finanzamt (also bei sich selbst) bezahlt. Einschlägig ist auf den ersten Blick § 326 Abs. 2 InsO: Bei den alten Steuerrückständen handelte es sich um eine Nachlassverbindlichkeit. Es würde darauf ankommen, ob bei Befriedigung der Nachlassverbindlichkeit der Erbe annehmen durfte, dass der Nachlass zur Berichtigung aller Nachlassverbindlichkeiten ausreicht (vgl. § 1979 BGB). Unterstellen wir, dass hier die Voraussetzungen des § 1979 BGB vorlagen,31 so wäre zu prüfen, ob der Erbe die Nachlassverbindlichkeit mit Nachlassmitteln getilgt oder aus eigenen Mitteln bezahlt hat. Erfolgte eine Tilgung mit Nachlassmitteln, so könnte der Erbe den vollen Betrag dem Nachlass als Ausgabe in Rechnung stellen; zur Erstattung wäre er bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 1979 BGB nicht verpflichtet, d.h., es würde bei der Befriedigung der Nachlassverbindlichkeit verbleiben und er könnte vom Insolvenzverwalter deshalb nicht in Anspruch genommen werden. Hätte der Erbe eigene Mittel zur Tilgung der Nachlassverbindlichkeiten eingesetzt, so wäre der Erbe mit seinem Erstattungsanspruch ohne Rücksicht auf den Rang des Gläubigers, den er befriedigt hat, nach § 324 Abs. 1 Nr. 1 InsO Massegläubiger.32 Dieses Ergebnis ist aber zu korrigieren, da im vorliegenden Fall der Fiskus als Erbe bei der Befriedigung der alten Steuerrückstände als Schuldner und als Gläubiger gehandelt hat. Hier findet der Rechtsgedanke des § 1976 BGB Anwendung. Die Vorschrift des § 1976 BGB regelt allerdings nicht unmittelbar die Wirksamkeit der vom Erben vorgenommenen Verfügungen.33 Das bedeutet, dass der Fiskus, wenn er aus seinen eigenen Mitteln die alten

28 Ausnahme: masseunzulängliches Verfahren, vgl. §§ 208 ff. InsO. Steht fest, dass die Insolvenzmasse nicht ausreicht, alle Masseverbindlichkeiten zu befriedigen, so werden nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter die schon bestehenden Masseverbindlichkeiten zu Altmasseverbindlichkeiten herabgestuft. Die Altmassegläubiger erhalten dann nur eine quotale Befriedigung ihrer Forderungen. Massegläubiger mit neuen Forderungen, die nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründet wurden, erhalten auf ihre Neumasseverbindlichkeiten im Regelfall eine vollständige Befriedigung, vgl. Smid, Grundzüge des Insolvenzrechts, 4. Aufl. 2002, § 23. 29 Vgl. zum Absonderungsrecht auch: Smid, ebenda, § 2 Rz 28 ff. 30 Ausführl. dazu: MünchKomm-InsO/Siegmann (Fn 8), § 324 Rz 2, 13. 31 Im vielen Fällen wird bei einer nachträglichen Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens davon auszugehen sein, dass der Erbe keine ordnungsgemäße Prüfung vorgenommen hat, ob der Nachlass zulänglich ist. Vgl. zu den Rechtsfolgen in diesem Fall: Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1979 Rz 2 ff., u. MünchKomm-InsO/Siegmann, ebenda, § 326 Rz 6. 32 MünchKomm-InsO/Siegmann (Fn 8), § 326 Rz 5. 33 MünchKomm-BGB/Siegmann, 3. Aufl. 1997, § 1976 Rz 10.

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Kurzbeiträge

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Steuerrückstände bezahlt hat, keinen Ersatz seiner Aufwendungen als Massegläubiger beanspruchen kann, sondern der Fiskus seine Steuerforderungen nur wie jeder andere Nachlassgläubiger zur Insolvenztabelle anmelden kann. Bei einer Befriedigung der alten Steuerrückstände aus Nachlassmitteln haftet der Fiskus als Erbe nach § 1978 BGB.34

lungsalternative wahrgenommen, sondern tatsächlich überschuldete bzw. zahlungsunfähige Nachlässe werden weiter abgewickelt. Dadurch werden personelle Kapazitäten des Fiskus gebunden und häufig müssen noch eigene Mittel des Fiskus (also nicht Mittel aus dem Nachlass) für Sicherungsmaßnahmen etc. aufgewandt werden.

b) Nach Feststellung des gesetzlichen Erbrechts des Fiskus beauftragt dieser eine Firma damit, im Winter den Schnee vor einer zum Nachlass gehörenden Immobilie zu räumen.

Durch die Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens können diese negativen Auswirkungen dann verhindert werden, wenn die vorhandene Masse ausreicht, um die Kosten für die Durchführung eines Insolvenzverfahrens aufzubringen. Im eröffneten Nachlassinsolvenzverfahren können in der Vergangenheit durch den Erblasser vorgenommene Vermögensverschiebungen viel effizienter angegriffen und rückgängig gemacht werden als außerhalb der Insolvenz. Die Fälle, in denen Vermögensverschiebungen des Erblassers zugunsten Dritter rückgängig gemacht werden müssen, sind durchaus praxisrelevant (z.B. Erblasser überträgt Vermögenswerte auf Erben, Erben schlagen Erbschaft aus, Fiskus erbt den überschuldeten Nachlass). Auch bei mit Sicherungsrechten belasteten Vermögensgegenständen, die zum Nachlass gehören, kann häufiger im Insolvenzverfahren eine schnellere und wirtschaftlichere Lösung herbeigeführt werden.

Im Nachlassinsolvenzverfahren sind die vom Fiskalerben an die Firma geleisteten Zahlungen wirksam; hat der Fiskalerbe die Zahlungen an die Firma aus eigenen Mitteln geleistet, so ist er im Nachlassinsolvenzverfahren Massegläubiger iSd § 324 Abs. 1 Nr. 1 InsO.35 c) Nach Feststellung des gesetzlichen Erbrechts des Fiskus kommt es zu keiner Prüfung des Vorliegens von Insolvenzgründen beim Nachlass. Der Mitarbeiter der für Fiskalerbschaften zuständigen Behörde bezahlt wahllos alte Rechnungen mit Mitteln des Nachlasses, obwohl offensichtlich ist, dass der Nachlass nicht für die Befriedigung aller Nachlassverbindlichkeiten ausreicht. Nach einem halben Jahr übernimmt ein neuer Mitarbeiter die Bearbeitung der Erbschaft. Er stellt aufgrund der vorliegenden Überschuldung den Antrag auf Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens. Der Insolvenzverwalter stellt fest, dass der Nachlass von Anfang an überschuldet war. Der Fiskus haftet in diesem Fall nach § 1978 Abs. 1 BGB iVm Auftragsrecht.36 Schadensersatzansprüche kann der Insolvenzverwalter geltend machen, vgl. auch § 1978 Abs. 2 BGB. Erstattet der Fiskus der Insolvenzmasse die entgegen § 1979 BGB aus dem Nachlass entnommenen Beträge, so kann er gem. § 326 Abs. 2 InsO die (ursprünglich von ihm befriedigten) Forderungen der anderen Gläubiger im Insolvenzverfahren als Nachlassgläubiger geltend machen.37

Bei der Abwicklung von überschuldeten Fiskalerbschaften ist eine Vielzahl von rechtlichen Fragen zu lösen, insbesondere sind vertiefte Kenntnisse des Insolvenzrechts und des Nachlassrechts erforderlich. Diese Spezialkenntnisse sind regelmäßig bei Rechtsanwälten, die als Insolvenzverwalter tätig sind, vorhanden. Darüber hinaus besteht selbstverständlich auch die Pflicht des Fiskus zur Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens bei Vorliegen von Insolvenzgründen. Der Fiskus als Erbe sollte dafür Sorge tragen, dass das Vorliegen von Insolvenzgründen überprüft und ggf. zeitnah ein Nachlassinsolvenzverfahren eingeleitet wird. Wurde dieser Zeitpunkt versäumt und ist zu einem späteren Zeitpunkt die Stellung des Insolvenzantrags unausweichlich, so können aufgrund der verzögerten Einleitung des Nachlassinsolvenzverfahrens erhebliche Schadensersatzforderungen auf den Fiskus zukommen.

VI. Resümee Teilweise wird heute die Möglichkeit der Einleitung eines Nachlassinsolvenzverfahrens bei den mit der Abwicklung von Fiskalerbschaften betrauten Mitarbeitern nicht als eine Hand-

34 § 1978 BGB verweist auf das Auftragsrecht. Gehaftet wird also wegen Schlechterfüllung eines Auftrags. 35 Palandt-Edenhofer (Fn 3), § 1978 Rz 5. 36 Ebenda, § 1979 Rz 4. 37 Ebenda, § 1979 Rz 4.

Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen: Teil 3 Vergütungsverzeichnis (I)

1. Systematik und Geltungsbereich

Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer,

Ein gesetzgeberisches Ziel bei der Entwicklung des KostenrechtsmodernisierungsG war es, die gesetzlichen Bestimmungen über die Vergütung anwaltlicher Tätigkeiten zu vereinfachen, transparenter zu gestalten und dem Aufbau anderer Kostengesetze anzugleichen. In Umsetzung dieser Zielvorgaben werden nunmehr

Fachanwalt für Verwaltungs- und Arbeitsrecht, Bühl * Teil 3 des Vergütungsverzeichnisses fasst insbesondere die Gebührentatbestände für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten zusammen. Im ersten Teil seiner Erläuterungen behandelt der Autor neben dem Geltungsbereich vor allem die Grundsätze der mit dem RVG neu gestalteten Terminsgebühr.

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a) Systematik

* Der Autor ist zusammen mit L. Kroiß Herausgeber des Handkomm. zum RVG, Baden-Baden 2004, und des monatlich erscheinenden RVG-Letters, München/Baden-Baden. Zu Teil 1 u. 2 VV siehe Mayer, NJ 2004, 398 ff., 445 ff.

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Mayer, Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen …

in Teil 3 VV die Gebührentatbestände für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten einschließlich der Verfahren vor den Gerichten in Arbeitssachen, Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, der Verwaltungs-, Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit und ähnlicher Verfahren zusammengefasst. Teil 3 VV bestimmt die Vergütung für alle anwaltlichen Tätigkeiten im gerichtlichen Verfahren, die nicht in den Teilen 4 (Strafsachen), 5 (Bußgeldsachen) und 6 (sonstige Verfahren) geregelt sind. Allgemeine Grundlagen für die Vergütungsberechnung finden sich in den Abschnitten 1 bis 4 des RVG; darüber hinaus können in den in Teil 3 VV eingeordneten Verfahren die allgemeinen Gebühren aus Teil 1 VV entstehen. b) Sachlicher Geltungsbereich Neben den bereits genannten Verfahren gilt Teil 3 VV auch für Verfahren der Zwangsvollstreckung, der Vollziehung der Arreste, einstweiligen Verfügungen und einstweiligen Anordnungen. Auch die Gebühren in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit bestimmen sich nunmehr nach Teil 3 VV. Unter der Geltung der BRAGO richteten sich diese Gebühren im gerichtlichen Verfahren weitgehend nach § 118 BRAGO. Im gerichtlichen FGG-Verfahren fallen somit nach dem RVG keine Satzrahmengebühren mehr an. Der Gesetzgeber erhofft sich durch diese Neuregelung einerseits eine Zeitersparnis für Richter, Rechtspfleger und auch Rechtsanwälte, da nun auch in FGG-Verfahren bei der Kostenfestsetzung aufgrund des Wegfalls der Rahmengebühren die Prüfung der Ermessenskriterien nach § 14 RVG entfällt. Andererseits erwartet er von dieser Änderung eine Entlastung der Gerichte von Vergütungsstreitigkeiten, da jetzt auch in FGG-Verfahren die Vergütung im Vergütungsfestsetzungsverfahren gegen den eigenen Mandanten nach § 11 RVG ohne Einschränkung festsetzbar ist, weil keine Satzrahmengebühren mehr anfallen. c) Persönlicher Geltungsbereich Die in Teil 3 VV geregelten Gebührentatbestände gelten zunächst für die Verfahrensbevollmächtigten der Parteien der in diesem Teil des VV genannten Verfahren. Darüber hinaus bestimmt Abs. 1 der Vorbem. 3, dass auch der Rechtsanwalt als Beistand für einen Zeugen oder Sachverständigen in den in diesem Teil des VV geregelten Verfahren die gleichen Gebühren wie ein Verfahrensbevollmächtigter erhält. Die Tätigkeit des Anwalts muss darin bestehen, als Beistand für einen Zeugen oder Sachverständigen tätig zu werden. Zeuge ist eine am Verfahren nicht selbst als Partei oder als gesetzlicher Vertreter einer Partei unmittelbar beteiligte Auskunftsperson, welche durch Aussage über Tatsachen oder tatsächliche Vorgänge Beweis erbringen soll.1 In Abgrenzung zum Zeugen, der über seine eigene Wahrnehmung von Tatsachen und tatsächlichen Vorgängen berichtet, unterstützt der Sachverständige das Gericht bei der Auswertung vorgegebener Tatsachen, indem er aufgrund seines Fachwissens subjektive Wertungen, Schlussfolgerungen und Hypothesen bekundet.2 Absatz 1 der Vorbem. 3 betrifft nur die Tätigkeit des Rechtsanwalts als Beistand für einen Zeugen oder Sachverständigen in Verfahren, für die sich die Gebühren nach Teil 3 VV bestimmen. Eine Regelung über die Vergütung der Tätigkeit als Beistand in anderen Verfahren ist in Vorbem. 4 Abs. 1 für Strafsachen, in Vorbem. 5 Abs. 1 für Bußgeldsachen sowie in Vorbem. 6 Abs. 1 für die sonstigen Verfahren und in Abs. 2 der Vorbem. 2 für die außer-

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gerichtlichen Tätigkeiten einschließlich der Vertretung in Verwaltungsverfahren zu finden. Nach Abs. 1 der Vorbem. 3 erhält der als Beistand für einen Zeugen oder Sachverständigen tätige Rechtsanwalt in einem Verfahren nach Teil 3 VV die gleichen Gebühren wie ein Verfahrensbevollmächtigter in dem entsprechenden Verfahren. Nach Auffassung des Gesetzgebers ist die Gleichstellung mit dem Verfahrensbevollmächtigten gerechtfertigt, weil sich die Höhe der Gebühren nach dem Gegenstandswert richtet. Maßgeblich sei nicht der Gegenstandswert des Verfahrens, in dem der Zeuge aussagt oder in dem der Sachverständige herangezogen wird, denn Gegenstand dieses Verfahrens sei nicht der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit, vielmehr bestimme sich der anzusetzende Wert nach § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG.3

2. Neue Gebührentatbestände Das RVG hat die bisherige Unterscheidung von Prozess-, Verhandlungs-, Erörterungs- und Beweisgebühr aufgegeben und kennt nur noch zwei Gebührentatbestände, nämlich die Verfahrensund die Terminsgebühr. a) Verfahrensgebühr Nach Vorbem. 3 Abs. 2 entsteht die Verfahrensgebühr für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information; sie entspricht damit dem Abgeltungsbereich der bisherigen Prozessgebühr nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO. Die Gebühr wird nun als Verfahrensgebühr bezeichnet, weil sie auch in FGG-Verfahren Anwendung finden soll.4 Der Anspruch auf die Verfahrensgebühr entsteht, sobald der Rechtsanwalt von einer Partei zum Verfahrensbevollmächtigten bestellt worden ist und eine unter die Verfahrensgebühr fallende Tätigkeit ausgeübt hat; im Regelfall entsteht die Verfahrensgebühr mit der Entgegennahme der ersten Information nach Erteilung des Auftrags.5 b) Terminsgebühr Die Terminsgebühr, die in jedem Rechtszug einmal entstehen kann, ist ein Herzstück des neu konzipierten RVG und soll zusammen mit der Verfahrensgebühr den Wegfall der Beweisgebühr kompensieren. Die neue Terminsgebühr ist nicht lediglich eine andere Bezeichnung für die bisherige Erörterungs- bzw. Verhandlungsgebühr nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 u. 4 BRAGO, sondern sowohl der Höhe nach als auch vom Anwendungsbereich her neu gestaltet. Vertretung in einem Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin Nach Abs. 3 der Vorbem. 3 entsteht die Terminsgebühr für die Vertretung des Auftraggebers in einem Verhandlungs-, Erörterungsoder Beweisaufnahmetermin. Voraussetzung für das Entstehen der Terminsgebühr ist in den drei genannten Entstehungsvarianten lediglich, dass ein Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin stattfindet und der Anwalt den Auftraggeber in diesem Termin vertritt. Irgendwelche inhaltlichen Anforderungen an die Tätigkeit des Rechtsanwalts anlässlich der Vertretung seines Auftraggebers in den genannten Terminen werden vom Gebührentatbestand nicht gestellt. Allein schon die Terminswahrnehmung löst den Gebührentatbestand aus, die Terminsgebühr hat insoweit den Charakter einer Anwesenheitsgebühr.

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Zöller-Greger, ZPO, 24. Aufl., § 373 Rn 1. Ebenda, § 402 Rn 1. BT-Drucks. 15/1971, S. 209. Ebenda. Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, RVG, Komm., 16. Aufl. 2004, VV Vorb. 3 Rn 29.

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Kurzbeiträge

Mayer, Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen …

Bei der neuen Terminsgebühr kommt es nicht mehr darauf an, ob Anträge gestellt werden oder die Sache erörtert wird. Vielmehr genügt es für das Entstehen der Gebühr, dass der Rechtsanwalt einen Termin wahrnimmt. Unterschiede zwischen einer streitigen oder nicht streitigen Verhandlung, ein- oder zweiseitiger Erörterung sowie zwischen Verhandlung zur Sache oder nur zur Prozess- oder Sachleitung sollten nach dem Willen des Gesetzgebers weitgehend entfallen.6 Allerdings ist eine vertretungsbereite Anwesenheit in einem solchen Termin erforderlich. Der Rechtsanwalt verdient die Terminsgebühr also nur dafür, dass er an dem Termin teilnimmt und willens ist, im Interesse seines Mandanten die Verhandlung, Erörterung oder Beweisaufnahme zu verfolgen, um – falls dies erforderlich wird – einzugreifen. Bloße Anwesenheit des Anwalts ohne Vertretungsbereitschaft, bspw. wenn er erklärt, dass er nicht auftrete oder dass er an der Erörterung nicht teilnehmen werde oder dass er nur seine Mandatsniederlegung mitteilen wolle, lösen die Terminsgebühr nicht aus, und zwar auch dann nicht, wenn der Rechtsanwalt im Termin anwesend bleibt.7 Ist ein Termin als ein Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin vorgesehen, handelt es sich um einen Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin iSd Vorbem. 3 Abs. 3 VV unabhängig davon, was in dem Termin tatsächlich passiert. Es ist also nicht Voraussetzung für das Entstehen der Terminsgebühr in dieser Variante, dass dann auch tatsächlich verhandelt, erörtert oder ein Beweis erhoben wird; entscheidend ist nur, dass es sich bei Aufruf der Sache noch um einen der drei genannten Termine handelt.8 Wahrnehmung eines von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten Termins Nach Abs. 3 der Vorbem. 3 entsteht die Terminsgebühr ferner, wenn der Anwalt einen von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten Termin wahrnimmt. Voraussetzung für das Entstehen der Gebühr in dieser Variante ist, dass der Sachverständige gerichtlich bestellt ist,9 z.B. im Zuge der Beweisaufnahme in einem gerichtlichen Verfahren oder im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens nach den §§ 485 ff. ZPO. Des Weiteren muss der gerichtlich bestellte Sachverständige einen Termin, bspw. zur Erhebung der für seine gerichtliche Aufgabe erforderlichen Tatsachen, angeordnet haben; ferner fordert der Gebührentatbestand in dieser Variante, dass der Anwalt einen solchen vom gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten Termin wahrgenommen hat. Eine weitergehende inhaltliche Tätigkeit über die Wahrnehmung des Termins hinaus fordert der Gebührentatbestand vom Rechtsanwalt ebenfalls nicht. Die Gebühr entsteht bereits mit seiner Anwesenheit im Termin.10 Zwar spricht das Gesetz in Abs. 3 der Vorbem. 3 bei den Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmeterminen von einer »Vertretung« durch den Rechtsanwalt, während bei dem vom Sachverständigen anberaumten Termin von einer »Wahrnehmung« des Termins durch den Rechtsanwalt die Rede ist; eine unterschiedliche Tätigkeitsqualität wird hierdurch aber nicht zum Ausdruck gebracht.11 Mitwirkung an auf die Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen ohne Beteiligung des Gerichts Schließlich entsteht die Terminsgebühr nach Abs. 3 der Vorbem. 3 auch dann, wenn der Anwalt an auf die Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen ohne Beteiligung des Gerichts mitwirkt; sie entsteht allerdings nicht für Besprechungen mit dem Auftraggeber.

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Diese Entstehungsvariante der Terminsgebühr ist die bedeutendste Neuerung bei der durch das RVG neu geschaffenen und gestalteten Terminsgebühr. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung das Ziel verfolgt, dass der Anwalt nach seiner Bestellung zum Verfahrens- oder Prozessbevollmächtigten in jeder Phase zu einer möglichst frühen, der Sach- und Rechtslage entsprechenden Beendigung des Verfahrens beitragen soll. Er hat es deshalb für das Entstehen der Terminsgebühr genügen lassen, wenn der Rechtsanwalt an auf die Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen ohne Beteiligung des Gerichts mitwirkt, insbesondere wenn diese auf den Abschluss des Verfahrens durch eine gütliche Regelung zielen. Solche Besprechungen waren unter der Geltung der BRAGO nicht honoriert worden. Dies hatte in der Praxis dazu geführt, dass ein gerichtlicher Verhandlungstermin angestrebt wurde, in dem ein ausgehandelter Vergleich nach »Erörterung der Sach- und Rechtslage« protokolliert wurde, so dass die Verhandlungs- bzw. Erörterungsgebühr nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Nr. 4 BRAGO entstand. Mit dem erweiterten Anwendungsbereich der Terminsgebühr will der Gesetzgeber den Parteien ein oft langwieriges und kostspieliges Verfahren ersparen.12

Der Gebührentatbestand in dieser Entstehungsvariante erfordert zunächst, dass eine auf die Vermeidung oder Erledigung eines Verfahrens gerichtete Besprechung stattfindet. Dies ist auf jeden Fall dann erfüllt, wenn ein in Teil 3 VV genanntes Verfahren gerichtlich anhängig ist. Da jedoch bereits die Zielrichtung der Vermeidung eines solchen Verfahrens genügt, ist es ausreichend, wenn die Besprechung dazu dienen soll, ein unter Teil 3 VV fallendes Verfahren zu vermeiden, und dem Anwalt zumindest ein Prozessauftrag erteilt worden ist.13 Der Gebührentatbestand erfordert jedoch in dieser Entstehungsvariante, dass der Anwalt bei der Besprechung »mitwirkt«. Durch die unterschiedliche Formulierung bei den einzelnen Entstehungsvarianten der Terminsgebühr, Vertretung bzw. Wahrnehmung einerseits und Mitwirkung andererseits, macht das Gesetz deutlich, dass – anders als in den übrigen Entstehungsvarianten – bei der Terminsgebühr eine inhaltliche Anforderung an die Tätigkeit des Rechtsanwalts bei der Besprechung gestellt wird, die über die bloße Teilnahme oder die bloße Anwesenheit bei der Besprechung hinausgeht. Allerdings lässt der Begriff der »Mitwirkung« völlig offen, in welcher Weise der Anwalt sich bei der Besprechung beteiligt. Deshalb genügt bereits jede über die bloße passive Teilnahme hinausgehende Tätigkeit bei einer auf die Vermeidung oder Erledigung eines Verfahrens gerichteten Besprechung als »Mitwirkung«. So kann bspw. die Mitwirkung darin bestehen, dass der Anwalt die ihm unterbreiteten Vergleichsvorschläge als abwegig ablehnt. Auch ist nicht erforderlich, dass ein streitiges Gespräch stattfindet.

6 BT-Drucks. 15/1971, S. 209. 7 Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 59 f.; AnwK-RVG/ Gebauer, 2004, VV Vorb. 3 Rn 91 f., der insoweit zwischen passiver und aktiver Anwesenheit unterscheidet. 8 Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, ebenda, Vorb. 3 VV Rn 57. 9 Mayer/Kroiß-Mayer, RVG, Handkomm., Vorb. 3 Teil 3 Rn 29; Gerold/ Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 79. 10 Mayer/Kroiß-Mayer, ebenda, Vorb. 3 Teil 3 Rn 29 f.; Gerold/SchmidtMüller-Rabe (Fn 5) VV Vorb. 3 Rn 80 – »vertretungsbereite Teilnahme«. 11 AnwK-RVG/Gebauer, VV Vorb. 3 Rn 116. 12 BT-Drucks. 15/1971, S. 209. 13 Mayer/Kroiß-Mayer (Fn 9), Vorb. 3 Teil 3 Rn 33; Gerold/Schmidt-MüllerRabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 91; Hansens/Braun/Schneider, Praxis des Vergütungsrechts, 2004, Teil 7 Rn 300; Bischof/Jungbauer/Podlech-Trappmann, Kompaktkomm. RVG, 2004, VV RVG, S. 499; a.A. AnwK-RVG/Gebauer, VV Vorb. 3 Rn 127 f., der zumindest Klageeinreichung fordert, so dass für Gespräche zwischen Klageauftrag und Klageeinreichung keine gesonderte Terminsgebühr anfällt.

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Mayer, Die wichtigsten Neuerungen bei den RVG-Gebührentatbeständen …

Ruft der Rechtsanwalt den Verfahrensgegner an und unterbreitet ihm mündlich ein Einigungsangebot, das dieser sofort annimmt, fällt die Terminsgebühr an. Allein ausschlaggebend ist, ob das Gespräch mit dem Ziel geführt wurde, das Verfahren zu vermeiden oder zu erledigen.14 Die Besprechung kann mündlich oder fernmündlich15 erfolgen. Der Gebührentatbestand erfordert in dieser Entstehungsvariante nur, dass eine Besprechung, die auf die Vermeidung oder Erledigung eines Verfahrens gerichtet ist, stattfindet. Da lediglich Besprechungen mit dem Auftraggeber ausgenommen sind, ist es ausreichend, wenn eine Besprechung mit der Zielsetzung der Vermeidung oder Erledigung eines Verfahrens mit einem Dritten, bspw. mit einem in Betracht kommenden Zeugen oder einem Sachverständigen, stattfindet. Aus der Formulierung des Gebührentatbestands ergibt sich nicht, dass die Besprechung mit dem aktuellen oder potentiellen Verfahrensgegner durchgeführt werden muss.16 Eine ausdrückliche Regelung der Frage, ob Voraussetzung für die Entstehung der Terminsgebühr in dieser Variante ist, dass die auf Vermeidung oder Erledigung eines Verfahrens gerichtete Besprechung vorher geplant worden sein muss – also ein Termin für die Besprechung vorher vereinbart wurde – oder ein zufälliges Zusammentreffen aus anderem Anlass genügt, bei dem das Verfahren nebenbei besprochen und ggf. einer gütlichen Einigung zugeführt wird, findet sich im Gesetz nicht. Die Bezeichnung der Gebühr als Terminsgebühr und auch der Umstand, dass die anderen Entstehungsvarianten der Terminsgebühr – nämlich die Vertretung in einem Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin oder die Wahrnehmung eines von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten Termins – jeweils immer einen vorher festgelegten Termin voraussetzen, sprechen dafür, auch bei der Entstehungsvariante der Besprechung ohne Beteiligung des Gerichts zu fordern, dass diese Besprechung vorher terminiert worden ist. Andererseits fordert aber der Wortlaut des Abs. 3 der Vorbem. 3 nicht diese strenge Auslegung. Das Gesetz spricht ausdrücklich lediglich von »Besprechungen« und nicht von »Besprechungsterminen«. Der Begriff einer Besprechung setzt ebenfalls nicht voraus, dass diese vorher geplant und ein Termin für die Besprechung vereinbart wurde, sondern beschreibt lediglich, dass ein Meinungsaustausch über einen bestimmten Sachverhalt stattfinden muss. Auch der Wille des Gesetzgebers, mit dem weiten Anwendungsbereich der Terminsgebühr den Anwalt zu animieren, möglichst schnell zu einer Beendigung des Verfahrens beizutragen, spricht eindeutig dafür, einen großzügigen Maßstab anzulegen und auch zufällige Besprechungen, die die Vermeidung oder Erledigung eines Verfahrens zum Gegenstand haben, für das Entstehen der Terminsgebühr ausreichen zu lassen.17 3. Neue Anrechnungsvorschrift für Geschäftsgebühr Absatz 4 der Vorbem. 3 enthält eine neue Anrechnungsvorschrift für die Geschäftsgebühr nach den Nr. 2400 bis 2403 VV. Gemäß § 118 Abs. 2 BRAGO war die für eine außergerichtliche Vertretung angefallene Geschäftsgebühr auf die entsprechenden Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren anzurechnen. Absatz 4 der Vorbem. 3 bestimmt nunmehr, dass, soweit wegen desselben Gegenstands eine Geschäftsgebühr nach den Nr. 2400 bis 2403 VV entstanden ist, diese Gebühr zur Hälfte, höchstens jedoch mit einem Gebührensatz von 0,75 auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens anzurechnen ist.

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Sind in derselben Angelegenheit mehrere Geschäftsgebühren entstanden, so soll nach Vorbem. 3 Abs. 4 Satz 2 die zuletzt entstandene Gebühr maßgebend sein. Nach Vorbem. 3 Abs. 4 Satz 3 erfolgt die Anrechnung nach dem Wert des Gegenstands, der in das gerichtliche Verfahren übergegangen ist. Die Begrenzung der Anrechnung trägt dem Umstand Rechnung, dass in Nr. 2400 VV nur noch eine einheitliche Gebühr mit einem weiten Rahmen für die vorgerichtliche Tätigkeit des Anwalts vorgesehen ist. Weitere Differenzierungen hat der Gesetzgeber aus Gründen der Vereinfachung nicht mehr vorgesehen. Strittig ist, ob die Begrenzung der Anrechnung auf den Gebührensatz von 0,75 auch dann gilt, wenn die Geschäftsgebühr durch den Mehrvertretungszuschlag nach Nr. 1008 VV erhöht ist. Eine ausdrückliche Regelung hierfür findet sich im RVG nicht. Teilweise wird daher die Auffassung vertreten, dass der Höchstsatz der Anrechnung für jeden weiteren Auftraggeber um 0,15 erhöht wird.18 Eine tragfähige Grundlage für diese Auffassung ist jedoch ebenso wenig erkennbar wie eine Rechtfertigung des Erhöhungssatzes von 0,15 je weiterem Auftraggeber bei der Anrechnungsobergrenze. Zu Recht geht daher die überwiegende Meinung davon aus, dass die Geschäftsgebühr auch bei mehreren Auftraggebern in den in der Vorbem. 3 Abs. 4 genannten Grenzen, also maximal mit einem Gebührensatz von 0,75, auf die Verfahrensgebühr anzurechnen ist.19 Eine weitere, derzeit sehr aktuelle Streitfrage ist die Anrechnung der Geschäftsgebühr in den Übergangsfällen, in denen noch unter der Geltung der BRAGO eine Geschäftsgebühr nach § 118 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO entstanden ist, bei denen jedoch der Prozessauftrag erst nach In-Kraft-Treten des RVG erteilt wurde, so dass für das gerichtliche Verfahren das RVG gilt. Im Schrifttum wird insoweit teils die Auffassung vertreten, dass die Anrechnung nach der BRAGO vorzunehmen ist, so dass die Geschäftsgebühr des § 118 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO vollständig auf die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV anzurechnen ist.20 Da sich die Vergütung im gerichtlichen Verfahren jedoch nach dem RVG richtet, ist auch die Anrechnungsvorschrift des RVG – zumal sie gesetzessystematisch in die Vorbem. 3 des Teils 3 VV, also des Teils, der sich den gerichtlichen Verfahren widmet, eingeordnet ist – zur Anwendung zu bringen, so dass in diesen Fällen die nach der BRAGO entstandene Geschäftsgebühr nur zur Hälfte, höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75, anzurechnen ist.21 (wird im nächsten Heft mit Erläuterungen zu den wichtigsten Gebührentatbeständen in Teil 3 VV fortgesetzt)

14 Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 95. 15 Mayer, RVG-Letter 2004, 2; Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 87; AnwK-RVG/Gebauer, VV Vorb. 3 Rn 122. 16 Mayer/Kroiß-Mayer (Fn 9), Vorb. 3 Teil 3 Rn 37; Hansens/Braun/Schneider (Fn 13), Teil 7 Rn 318; a.A. offenbar Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 96 ff., der fordert, dass der Gesprächspartner aus dem Lager des Gegners kommt. 17 Mayer, RVG-Letter 2004, 2; Gerold/Schmidt-Müller-Rabe (Fn 5), VV Vorb. 3 Rn 90. 18 AnwK-RVG/Hembach, VV Vorb. 3 Rn 188; Schneider/Mock, Das neue Gebührenrecht für Anwälte, 2004, § 14 Rn 60. 19 Mayer/Kroiß-Dinkat (Fn 9), Nr. 1008 VV Rn 6; Mayer, RVG-Letter 2004, 86 f.; Enders, RVG für Anfänger 12. Aufl., Rn 507; Hansens/Braun/Schneider (Fn 13), Teil 7 Rn 176; Hansens, RVGreport 2004, 95; unentschieden in dieser Frage Drasdo, MDR 2004, 428 f. 20 Mayer/Kroiß-Klees (Fn 9), § 61 Rn 1; Schneider/Mock (Fn 18), § 34 Rn 27; AnwK-RVG/Hembach, VV Vorb. 3 Rn 190; Hansens, RVGreport 2004, 12; Hansens/Braun/Schneider (Fn 13), Teil 7 Rn 194 ff. 21 So auch Enders (Fn 19), Rn 20; Bischof/Jungbauer/Podlech-Trappmann (Fn 13), § 61 Rn 19 f.

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Vorne einsteigen, bitte! Zum Für und Wider technischer Prävention Prof. Dr. Roland Hefendehl, Universität Dresden

1. Worum geht es? Seit dem 5.4.2004 gilt bei der Berliner BVG: Eingestiegen wird nur noch vorne. Das geht dann ganz einfach, wenn nur Fahrgäste einsteigen wollen, dann bleiben die anderen Türen schlicht geschlossen, was die Einsteigewilligen nach einigen Sekunden schon realisieren. Steigen indes – wie meistens – auch welche aus, so können die trotz aller Hinweisschilder Unwissenden der neuen Regelung durchaus in den Bus hineinschlüpfen, werden dann aber vom Fahrer per Lautsprecherdurchsage gnadenlos nach vorne gepfiffen. So ganz genau wissen sie nicht, warum, machen es aber, um dann erleichtert i.d.R. die Monatskarte vorzuzeigen. Die Akzeptanz unter den Fahrgästen scheint groß zu sein. Eine empirische Begleitforschung zur Rush-Hour auf dem Ku’damm muss indes noch erfolgen. Wenn 30 Fahrgäste statt an drei Türen nur noch an einer Tür einsteigen dürfen, scheinen Verzögerungen unausweichlich zu sein. Wie intensiv wird der Fahrer die Ausweise und Fahrkarten in dieser Konstellation überhaupt überprüfen können? Was ist schließlich mit den fünf Fahrgästen, die doch durch die beiden hinteren Türen einstiegen? Müssen sie sich nun den Weg durch die Massen bahnen oder drückt der Fahrer ein Auge zu? – Erste eigene Erkenntnisse gehen dahin, dass die Suppe nicht so heiß gegessen wird, wie sie gekocht wurde: Dem Fahrer reicht es, wenn er schlicht einen Fahrschein vorgezeigt bekommt, ohne dass er den Stempel akribisch untersucht. Wenn einige Fahrgäste hinten einsteigen, so »übersieht« er dies schon einmal. 2. Hell- und Dunkelfeld beim Schwarzfahren a) Schwarzfahren gehört zu denjenigen Delikten, die viele von uns schon begangen haben oder begehen.1 Die Motivationen mögen unterschiedliche sein: schlichtes Geldsparen, Empörung über die hohen Fahrpreise oder Bequemlichkeit werden ganz vorne auf der Liste stehen. Dass es dabei um strafbares Verhalten geht, scheint vielen nicht offensichtlich zu sein. Es handelt sich um ein Massendelikt, das innerhalb der gut 870.000 in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2003 erfassten Betrugsfälle mit 176.000 Fällen zu Buche schlägt. Als ein Kontrolldelikt par excellence eignet sich das Erschleichen von Leistungen hervorragend, die Statistiken in die »gewünschte« Richtung zu »trimmen«.

b) Von einem erheblichen Dunkelfeld beim Erschleichen von Leistungen3 ist auszugehen. Zu gering scheint die Kontrolldichte, zu wenig scheint – trotz aller Bemühungen der Verkehrsbetriebe (»Wer schwarz fährt, liegt anderen auf der Tasche«; rote SchamMännchen auf Plakaten) – das dann auch handlungsleitende Unrechtsbewusstsein in weiten Teilen der Bevölkerung ausgeprägt zu sein. Es geht in deren Augen eben um ein erhöhtes Beförderungsentgelt, das man zähneknirschend zu zahlen hat, nicht um strafrechtliches Unrecht. Die feinsinnigen Differenzierungen, dass man einerseits zivilrechtlich, andererseits aber auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden könnte, werden in aller Regel nicht nachvollzogen. Man zahlt entweder gleich oder gibt seine Personalien an, um später zu überweisen, ohne einen Kontakt mit der Staatsanwaltschaft zu befürchten. Ein solcher droht regelmäßig erst nach dem dritten Erwischtwerden. 3. Was ist das Kreuz mit dem Strafrecht? Das Strafrecht hat bei der Beförderungserschleichung gleich aus mehreren Gründen einen schweren Stand: a) Zunächst einmal ist der nicht unwesentliche Umstand zu berücksichtigen, dass trotz aller Entscheidungen der Obergerichte beim schlichten Schwarzfahren in den Verkehrsmitteln, in denen keinerlei Eingangs- oder Ausgangskontrollen4 stattfinden, von einem Erschleichen keine Rede sein kann. Eine reine Wortlautauslegung schließt somit richtigerweise die Anwendbarkeit des § 265 a StGB aus.5 b) Ein derartiges Ergebnis schreit auch nicht etwa nach dem Gesetzgeber, sondern verbucht kriminalpolitische Konsistenz für sich. Sicherlich entstehen den Beförderungsbetrieben durch das unbefugte Verhalten hohe Vermögensverluste. Dies aber ist ein in erster Linie zivilrechtlich erheblicher Umstand. Der Strafgesetzgeber hat mit guten Gründen darauf verzichtet, jede Herbeiführung eines Vermögensschadens zu pönalisieren, und dies bei § 265 a StGB durch das Handlungsmoment des Erschleichens manifestiert. Was derzeit geschieht, ist – in den Worten von P. A. Albrecht – der (freilich nicht sehr erfolgreiche – R. H.) Einsatz der Kriminalisierung als Instrument betriebswirtschaftlich rationaler Kundenkontrolle.6

Der innenpolitische Sprecher der sächsischen PDS-Landtagsfraktion, Steffen Tippach, beleuchtet eine zweite Möglichkeit der medialen Funktionalisierung:

c) Würde man nach der Strafbarkeit des Schwarzfahrens fragen, wäre das Ergebnis mit großer Wahrscheinlichkeit sehr disparat. Nicht umsonst wird in Supermärkten explizit darauf hingewiesen, dass jeder Ladendiebstahl unnachgiebig zur Anzeige gebracht werde. Bei den Plakaten, die das Schwarzfahren thematisieren, ist etwas weicher von einer derartigen Möglichkeit die Rede. Teilweise fühlt man sich an die Regel »Three strikes and you’re out« in einer gemäßigten kontinentaleuropäischen Variante erinnert. Zu schleichend scheinen hier die Übergänge von Zivilrecht und Strafrecht, zu unvollkommen scheint die Norm vor dem Hintergrund internalisiert zu sein, eine solche Rechtsgutsverletzung zu begehen, die nur noch die Ultima Ratio des Strafrechts zulässt. Die Menschen haben ein Gespür dafür, wann es tatsächlich um elementares Unrecht geht und wann zumindest ein Graubereich besteht. Vielleicht wird dieses Gespür auch dadurch befördert, dass Zweifel an der Strafwürdigkeit aufkommen, wenn der Träger eines Rechtsguts geradezu einlädt, sich an diesem Rechtsgut zu vergehen.

»Die sog. Leistungserschleichung wird unter Innenminister Rasch zur Quotenerschleichung. Da beim Kontrolldelikt Schwarzfahren die Zahl der Täter identisch mit der Zahl der aufgeklärten Straftaten ist, liegt hier die Aufklärungsquote bei 100 % und gleichzeitig auch das Geheimnis für Raschs Jubelzahlen. Der Anstieg dieser Deliktsgruppe um 77 % hat somit auch die Aufklärungsquote dramatisch verbessert. Mit ernsthafter Kriminalitätsbekämpfung hat dies jedoch nichts zu tun.«2

1 Siehe Kreuzer u.a., Jugenddelinquenz in Ost und West, 1993, S. 98 ff. 2 Presseinform. der PDS 81/04. 3 BMI/BMJ (Hrsg.), Erster Periodischer Sicherheitsbericht, 2001, S. 130: Es wird von einer Dunkelfeldquote von 1:33 bis 1:50 ausgegangen. 4 Hierzu krit. P.-A. Albrecht, Kriminologie, 2. Aufl. 2002, S. 323. 5 Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl. 2004, § 265 a Rn 6 mwN. 6 P.-A. Albrecht (Fn 4), S. 323.

So wurden 2003 in Berlin 43,4 % (14.458 Fälle) weniger Schwarzfahrten ausgemacht. Der vermerkte Rückgang der Gesamtkriminalität um 20.115 Fälle oder 3,4 % ist zu einem nicht unerheblichen Teil auf diesen Befund zurückzuführen. »Offensichtlich wirken sich die durch die BVG verstärkt durchgeführten Kontrollen bereits abschreckend aus«, heißt es in der Statistik optimistisch.

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H e f e n d e h l , Vo r n e e i n s t e i g e n , b i t t e !

d) Führt man sich die Entwicklung öffentlicher Beförderung im Tatsächlichen vor Augen, wird deutlich, dass die Norm des § 265 a StGB vielleicht einmal ihren legitimen, dogmatisch gesicherten Anwendungsbereich hatte, ihn nun aber verlor. Die Möglichkeit, sich ohne jede Kontrolle in Bus oder Bahn zu begeben, gab es früher nicht, stets waren Kontrollen oder Schranken zu überwinden. Sie machten das Erschleichen manifest. 4. Von der Kontrolle zur Aufhebung der Kontrolle zur Kontrolle a) Warum aber kam es zu einer derartigen Entwicklung, die nunmehr ein Roll-back erfährt? Sie ist auch für das weite Feld des Betrugs wie seiner Kranzdelikte (etwa den Subventions- oder den Kreditbetrug) ausgemacht worden. Über diese Normen werde eine strafrechtlich sanktionierte Pflicht zu wahrheitsgemäßen Bekundungen gegenüber dem Staat und Privatpersonen erreicht. Mit dieser Wahrheitspflicht gegenüber Privaten werde vom Wahrheitspflichtigen ein Handeln gegen seine eigenen Interessen verlangt. Zudem erspare sich der übermächtige Vertragspartner die im Grunde ihm obliegende Ermittlung des Sachverhalts. Tradition hätte ein derartiges Modell im Zoll- und Steuerrecht. Nach diesem Muster werde die Pflicht zur Mitteilung selbstschädigender Tatsachen aber auf immer neue Sachverhalte erstreckt. Dem »Betrüger« werde von seinem »Opfer« eine umfassende Erklärungspflicht zugemutet. Gleichzeitig baue das Opfer seine Kontrollen ab. Scheck- und Kreditkarten würden großzügig ausgegeben, Kredite großzügig gewährt. Oft werde mit einem Verzicht auf Kontrollen sogar geworben (»keine lästigen Formalitäten«). Zugleich werde der Vertragsgegner (d.h. der potenzielle Betrüger) formularvertragsmäßig mit Anzeigepflichten belastet.7 b) Bei den abgebauten Kontrollen in den Verkehrsbetrieben wird die Intention eine ähnliche sein, auch wenn die Erklärungspflicht des Fahrgastes hier extrem einfach strukturiert ist. Dass man sich deshalb die Kontrollen abzubauen traut, weil das Strafrecht ja nach wie vor in der Hinterhand seine Wirkung entfalte, erscheint dabei allerdings naiv. Denn eben ist gezeigt worden, dass erstens die Norminternalisierung in diesem Bereich sehr unvollständig ausfällt und zweitens es mit einer abschreckenden Wirkung des Strafrechts nicht weit her ist.8 Es geht vielmehr allein um ökonomische Motive: beim Busfahren um einen Personalabbau, vielleicht auch eine größere Attraktivität der unkompliziert zu benutzenden öffentlichen Verkehrsmittel, bei Selbstbedienungsläden um Kaufanreize, wenn bestimmte Waren – allerdings keine teuren Markenprodukte, die sich nach wie vor in Glasvitrinen befinden – wie auf einem Präsentierteller angeboten werden. c) Während der wirtschaftliche Gewinn bei Selbstbedienungsgeschäften nun aber auf der Hand liegt, ist dies in Bussen nicht in gleicher Weise der Fall. Der Busfahrer soll ja die zusätzliche Kontrollaufgabe übernehmen, ferner wird man sich allein durch die Notwendigkeit, vorne einzusteigen und seinen Fahrausweis vorzuzeigen, in aller Regel nicht anderer Verkehrsmittel besinnen. Und daher propagiert man in Berlin die Kontrollen eben wieder. 5. Technische Prävention als Stein der Weisen? a) Theoretisch ist das Gebot, nur noch vorne bei einem Vorzeigen des gültigen Fahrausweises einzusteigen, als eine Maßnahme der situativen9 oder der technischen10 Prävention zu interpretieren. Eine solche scheint sogar zunehmend als der Stein der Weisen gesehen zu werden. Wenn das Strafrecht oder das Zivilrecht nicht die erhofften präventiven Wirkungen bringen, dann aber viel-

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leicht die scheinbar alternativlose situative bzw. technische Prävention. Um ein Beispiel anzuführen: Ist die elektronische Wegfahrsperre nicht zu überwinden, so wird der Wagen eben nicht gestohlen. Dieses Beispiel erklärt zugleich die etwas verwirrende Begrifflichkeit: Die Prävention setzt an bestimmten Situationen an. Sie blendet damit von vornherein die jeweiligen Motivationen zur Begehung einer Tat vollkommen aus bzw. sie sind ihr egal. Ob der Wagen aus Gewinnsucht oder deshalb gestohlen werden soll, weil jeder in einer Jugendgang eine Mutprobe zu bewältigen hat, spielt keine Rolle. »Technisch« ist diese Prävention vielleicht in ihrem Ausgangspunkt, so bei der Wegfahrsperre oder bei schusssicheren Scheiben in Banken. Das Vier-Augen-Prinzip in der Verwaltung würde aber gleichfalls hierunter fallen. b) Auch wenn die scheinbar so effiziente Vermeidung von Straftaten ein unschätzbarer Gewinn zu sein scheint, drängen sich Bedenken auf. Ist es tatsächlich so, dass eine Wegfahrsperre kriminelles Verhalten zweifelsfrei verhindert, oder weicht man auf ältere Modelle aus, stiehlt – so vor allem Jugendliche – Mopeds oder betrügt Autovermieter?11 Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass nicht jeder Täter bei einem nicht möglichen Diebstahl bereit wäre, das Verbrechen eines Raubes zu begehen, denkbar ist eine solche Eskalation indes schon. Fast noch beunruhigender sind die theoretischen und gesellschaftlichen Implikationen, die hinter der technischen Prävention stehen: Wird die Motivation zur Begehung einer Straftat ausgeblendet, so geht man davon aus, dass sie ohnehin vorhanden und nicht abänderbar sei. Hieraus folgt ja gerade die Fokussierung auf die Tat und die Situation.12 Damit wird aber gleichzeitig die Last von den Anstrengungen genommen, kostspielige und zeitaufwändige Maßnahmen der sog. primären Prävention zu ergreifen. Eine Erziehung in einem intakten sozialen Umfeld wird plötzlich aus kriminalpräventiven Gründen belanglos. Dies bedeutet aber zugleich auch, dass die Realisierung der Motivation über die technische Prävention permanent verhindert werden muss. Dem grundsätzlich gefährlichen Individuum wird mit Misstrauen begegnet, es ist permanent zu kontrollieren. Hierdurch kann sich eine Culture of Control ausprägen, die durch die Abschaffung bzw. Minimierung möglicher Tatgelegenheiten versucht, diese Motivation zu neutralisieren.13 Die Erfahrung lehrt indes, dass diese Neutralisierung nicht so einfach ist. Vielleicht lassen sich durch die Maßnahmen technischer Prävention noch einige Gelegenheitstäter abhalten, nicht aber in aller Regel gezielt vorgehende Täter. Diese eruieren immer neue Möglichkeiten, die Maßnahmen situativer Prävention zu umgehen, bspw. durch eine örtliche Verschiebung, taktische Veränderungen oder das Aussuchen eines anderen Zielobjekts.14

7 Arzt/Weber, Strafrecht, Bes. Teil, 2000, § 20 Rn 11 f. 8 Tunnell, Choosing Crime, 1992; Schöch, Jescheck-FS, 1985, S. 1081, 1102; Schumann u.a., Jugendkriminalität und die Grenzen der Generalprävention, 1987; vgl. ferner die Nachw. bei Eisenberg, Kriminologie, 5. Aufl. 2000, § 41 Rn 11 ff.; Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 31 Rn 34 ff.; Kunz, Kriminologie, 3. Aufl. 2001, § 30 Rn 7 ff. 9 S. Clarke, in: Tonry/Farrington (Hrsg.), Building a Safer Society, Strategic Approaches to Crime Prevention, Crime and Justice: A Review of Research, Vol. 19 (1995), S. 91 ff. 10 Hassemer, StV 1995, 483, 489 f. 11 Webb, in: Clarke (Hrsg.) Situational Crime Prevention, Successful Case Studies, 1996, S. 46 ff.; BMI/BMJ (Fn 3), S. 123 f. 12 Clarke (Fn 9), S. 91 ff. 13 Das Problem der Kontrolle wird auch angesprochen von White, in: Homel (Hrsg.), The Politics and Practice of Situational Crime Prevention, Crime Prevention Studies, Vol. 5 (1996), S. 97 ff. 14 Zur Verdrängung vgl. Coleman/Norris, Introducing Criminology, 2000, S. 156 f.

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Kurzbeiträge An dieser Schraube kann man nun endlos drehen, sich also auf die neuen Vorgehensweisen der Täter einstellen. Die Gefahr einer sich krakenhaft ausbreitenden Kontrollgesellschaft entsteht. Sie nimmt Raster potenzieller Risiken zum Anlass, diese möglichst auszuschließen. Ob es sich dabei tatsächlich um ein Risiko handelt, bleibt irrelevant. Die Shopping Malls machen es vor: Wer schäbig aussieht, wird zur Sicherheit gar nicht erst hereingelassen, womit sich zugleich die Ziele von der Kriminalprävention zur sozialen Exklusion15 verschieben. 6. Speziell: Vor- und Nachteile technischer Prävention in Bussen a) Die situative oder technische Prävention ist es also nicht, der Stein der Weisen. Wie steht es nun aber mit den soeben genannten Vor- und Nachteilen speziell bei den verschärften Zugangskontrollen in Bussen? Zunächst: Das Risiko der Eskalation besteht nicht, allenfalls dasjenige des offenen Protests durch das Einsteigen an einer der nicht kontrollierten Türen. Kritisch angemerkt worden ist, durch diese Maßnahme würde jeder als potenzieller Schwarzfahrer angesehen werden.16 Aber dies wird man wie beim Theater- und Kinobesuch mit Fassung zu tragen wissen.17 b) Wie steht es mit dem Argument, durch diese Maßnahme technischer Prävention bestünde überhaupt nicht mehr die Chance, schwarz zu fahren. Theoretisch sei es aber für die Verkehrsbetriebe am günstigsten, möglichst viele illegal mitfahren zu lassen, diese dann zu erwischen und von ihnen das erhöhte Beförderungsentgelt einzutreiben.18 Dieser Umstand wird es mit Sicherheit nicht gewesen sein, dass die Verkehrsbetriebe die ursprünglich bestehenden Schranken abbauen ließ. Denn erstens bestehen aus den o.g. Gründen nach wie vor Möglichkeiten, sich durch täuschende Manöver am Fahrer vorbeizuschmuggeln, zweitens müsste die Dichte der Kontrollen so gesteigert werden, dass der Aufwand dadurch wieder erheblich stiege, und drittens ist es keineswegs gesagt, dass das erhöhte Beförderungsentgelt auch eingetrieben werden kann. c) Am beachtlichsten wird das Risiko einzuschätzen sein, durch diese neue Art von Kontrollen Fahrgäste zu vertreiben. Das Busfahren werde zu einer aufwändigen Angelegenheit, zumindest jedoch unbequem. Diese Gefahr ist aber vielleicht doch nicht als ausschlaggebend anzusehen, weil die Betreiber der Kontrollen gerade ein vitales Interesse daran haben, die ökonomischen und sonstigen Rahmenbedingungen für die Kunden nicht entscheidend zu verschlechtern. So bestünde für die Verkehrsbetriebe kein Anlass, die Fahrgäste durch den Fahrer weiter kontrollieren zu lassen, wenn dadurch so viele Fahrgäste abspringen würden, dass sich die zurückgehende Quote der Schwarzfahrer nicht rentiert. Die Initiatioren der technischen Prävention werden also ein waches Auge darauf haben, wie sich diese Maßnahme bewähren wird. 7. Allgemeine Erkenntnisse zur technischen Prävention Reizvoll erscheint es, abschließend den Versuch einer allgemeinen Aussage zu wagen, wann eine Maßnahme situativer oder technischer Prävention erwogen werden sollte und wann die Risiken überwiegen werden. a) Maßnahmen der technischen Prävention sind immer dann mit Skepsis zu begegnen, wenn Eskalationsszenarien und Vermeidungsstrategien plausibel erscheinen. Würde sich eine Kontrollgesellschaft etablieren, bei der »zur Sicherheit« weit mehr Personen als nötig ausgeschlossen wären, würde man sich nicht mehr auf die Ursachen delinquenten Verhaltens besinnen, son-

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H e f e n d e h l , Vo r n e e i n s t e i g e n , b i t t e !

dern schlicht Mauern errichten. Hier wäre von Maßnahmen einer technischen Prävention Abstand zu nehmen. b) Die Rechtsgutträger, die Methoden technischer Prävention etablieren können, stehen teilweise in einer sozialen Verantwortung. Sie folgt zum einen daraus, dass bestimmte Rechtsgüter – wie das Vertrauen in die Unbestechlichkeit des Beamtenapparats – gerade auf Kommunikation mit der Allgemeinheit angelegt sind. Ein hochwirksames System der Überwachung der Beamten darf nicht zur Folge haben, dass der Außenkontakt mit dem Bürger substanzielle Einbußen erleidet. Zum anderen bemächtigen sich die Privaten zunehmend des öffentlichen Raums, dürfen sich dann aber nicht mehr allein an ökonomischen Interessen orientieren. Wenn also etwa eine Einkaufspassage auch Funktionen des öffentlichen Raums wie die der Kommunikation übernimmt, kann die technische Prävention die Zutrittsberechtigen nicht mehr nach ökonomischen Rastern bestimmen. Daher ist die Videoüberwachung mit den aus ihr gezogenen Folgerungen gleichfalls kritisch zu beurteilen.19 c) Auch das Problemfeld der »Städte in den Städten« 20 ist in erster Linie ein ökonomisch definiertes. Zwar geht es hier nicht – wie etwa bei den Shopping Malls – um den Ausschluss derjenigen Teile der Bevölkerung, die entsprechend den Rastern eher nicht den Konsum befördern werden, wohl aber um deren Exklusion aus scheinbaren Sicherheitsbedürfnissen heraus. d) Immer dann, wenn es um ein klar definiertes ökonomisches Ziel geht – Verkauf von Waren oder Dienstleistungen –, bestehen gegen Maßnahmen der technischen Prävention keine Bedenken, sofern Wettbewerb oder Alternativen existieren. Wer Uhren verkauft, kann diese allesamt in sicheren Safes aufbewahren und nur auf Verlangen präsentieren. Ein derartiges relativ sicheres System wird sich schon ökonomisch nicht rentieren, wenn in anderen Geschäften die Ware ohne Aufwand unmittelbar in Augenschein genommen werden kann. Bei der Beförderung kann man zwar nur in Maßen von Konkurrenz sprechen. Sofern aber die Bedingungen für die Allgemeinheit extrem unkomfortabel bzw. zeitaufwändig sind, werden zunehmend Alternativen erwogen werden. Zudem existieren bei Massenleistungen stets wirkungsmächtige Interessenverbände, die Verschlechterungen für die Allgemeinheit thematisieren werden. Wenn also in den Zügen der Deutschen Bahn AG seit kurzem nicht mehr mit ec-Karten gezahlt werden darf, weil das Missbrauchsrisiko angeblich zu groß sei, so liegt hierin eine Maßnahme der technischen Prävention. Sie wird in aller Regel nicht dazu führen, dass man auf eine Fahrt mit der Bahn verzichtet, so dass allenfalls Druck über Interessenverbände aufgebaut werden kann. e) Und es geht weiter: In Düsseldorf sollen zum Jahreswechsel 100 Stellen für Langzeit-Arbeitslose als Schaffner in Straßenbahnen geschaffen werden. Die Landeshauptstadt hat der Bahngesellschaft für die Stellen zusätzlich Geld in Aussicht gestellt. Die Rheinbahn erhofft sich von diesem Pilotprojekt einen Rückgang des Vandalismus und der Schwarzfahrer-Quote.21 Was vor dem Hintergrund der technischen Prävention als eine weitere Verbesserung anmutet, erweckt arbeitsmarktpolitisch Argwohn.

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Hefendehl, FR v. 19.1.2004, S. 8 Matuschek (PDS), Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucks. 15/3767. Strieder (SPD), Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucks. 15/3767. Zu derartigen Modellrechnungen vgl. Heinrich, Dresdner Morgenpost v. 13.8.2003, S. 4 f. 19 Stolle/Hefendehl, KrimJ 2002, 257 ff. mwN. 20 Dazu Wehrheim, KrimJ 2000, 108 ff. 21 Meldung in der SZ v. 21./22.8.2004, S. 5.

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Liselotte Kottler (1909-2003) – Deutschlands längstens praktizierende Anwaltsnotarin Prof. Dr. Klaus W. Slapnicar, Fachhochschule Schmalkalden* Die Biographie der Thüringer Anwaltsnotarin Dr. Liselotte Kottler ist ein seltenes personalisierbares Beispiel für alle menschlich erfahrbaren Stationen der jüngeren deutschen Geschichte. Als Juristin, die sechs politische Staatsformen erlebte, hat sie für Gerechtigkeit gewirkt und sich nicht durch wechselnde Ideologien vereinnahmen lassen. Sie ist damit zu einem Vorbild für ihren Berufsstand geworden. Auf ein der Gerechtigkeit gewidmetes Leben in sechs Staatsformen blicken wir zurück. Aufrecht und paragraphensicher sowie in lebendiger Verwirklichung preußischer Pflichterfüllung ist die in Thüringen und auch in Ost- und Nordhessen bekannte, über 60 Jahre beruflich tätige Juristin weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt zu einem Wahrzeichen und Symbol der Hoffnung geworden. Sie war zwar nicht die älteste Juristin Deutschlands, wohl aber die am längsten praktizierende. Ihre Vita spiegelt ein außergewöhnliches Leben der wechselvollen deutschen Geschichte wider; vom Kaiserreich über die erste Republik, den Nationalsozialismus und die DDR bis zur Wiedervereinigung ist sie beharrlich der praktischen Rechtswissenschaft verpflichtet geblieben. Jugend im Kaiserreich Am 26.6.1909 wurde Liselotte als Luise Charlotte, Älteste von vier Kindern in die Familie des Lehrers, späteren Rektors des Gymnasiums und schließlichen Bürgermeisters der Stadt Schmalkalden, Karl Schirmer, geboren. Ihr Vater, ein Liberaler in Deutschlands erster Demokratie, hat in der Erziehung seiner Kinder die Ideale und Erwartungen grundgelegt, die später seiner Tochter Chancen und Möglichkeiten für eine zu damaligen Zeiten außergewöhnliche Karriere eröffneten. Nicht um Ruhmes oder Geldes willen, sondern um die Aufgabe, die sie auf Erden zu erfüllen hatte, lebte die Verstorbene getreu des Kant’schen Imperativs: »Es ist nicht nötig, dass ich lebe, aber erforderlich, dass ich meine Pflicht tue.«1 Dieses preußische Pflichtbewusstsein war ihr lebenslanges Leitmotiv, das sie nicht nur in Worten für sich bejahte, sondern durch eigenes Beispiel wirkend in ihrer forensischen Tätigkeit vollzog und somit justicia in concreto umsetzte. Ihren Bildungsweg begann Liselotte Schirmer im Kaiserreich in einer Mädchenschule mit Kindern aus allen Bevölkerungsschichten, »weil es der Vater so wollte«.2 Es folgte die höhere Töchterschule mit dem Lehrplan eines Lyzeums, die Oberrealschule mit den Schwerpunkten Mathematik und Physik, »neben zehn Jungen waren wir drei ›zutrauliche‹ Mädchen«.3 Das Abitur legte Liselotte Schirmer 1928 ab. Das Vorbild, Verantwortung für andere zu tragen, hatte der Vater seiner Tochter als Bürgermeister vorgelebt. Er wurde am 2.5.1933 von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben; einen Tag zuvor hatte er noch den MaiUmzug angeführt.

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Studium in der Weimarer Republik In der ersten deutschen Republik entschied sich Liselotte Kottler zunächst gegen die damals übliche Mutterrolle und dafür, als »Blaustrumpf« Rechtswissenschaften zu studieren. Es folgten Studiensemester zunächst in Marburg bei Franz Leonhard im römischen Recht mit Pandektenexegese, danach in München, später in Frankfurt/M. beim großen Arbeitsrechtler Kurt Sinzheimer und zuletzt in Jena. Auch während ihres Studiums gehörte Liselotte Schirmer zu einer kleinen Anzahl weiblicher Studierender; in Jena hatte sie nur noch zwei Kommilitoninnen. Während ihrer Jenenser Zeit erlebte die Jura-Studentin bei einer Rede im Volkssaal Adolf Hitler. Die sonst faszinierende Wirkung auf Frauen blieb bei ihr aus. Seine Demagogie hielt die junge Intellektuelle für verabscheuungswürdig. Sie dachte aufgrunddessen nie ernsthaft daran, sich der nationalsozialistischen Ideologie zu nähern. Ihre erste Staatsprüfung legte die Rechtskandidatin aus Schmalkalden vor dem gemeinschaftlichen Thüringischen Oberlandesgericht am 13.2.1932 mit dem Prädikat »vollbefriedigend« ab. Während des Referendariats, das sie als einzige Frau am heimatlichen Amtsgericht absolvierte, promovierte sie im Febr. 1933 am strafrechtlichen Lehrstuhl von Prof. Gerland in Jena mit der Dissertation zum Thema: »Die Beschränkung des Rechtsmittels der Berufung auf das Strafmaß« zum Dr. juris utriusque, beiderlei Rechts, des weltlichen und kirchlichen Rechts. Systematische Frauendiskriminierung in der NS-Zeit Die große zweite Staatsprüfung legte die nun schon promovierte Liselotte Schirmer am 2.12.1935 mit dem herausragenden Prädikat »gut« ab und erhielt am Nikolaustag 1935 ein von Dr. Otto Palandt, dem damaligen Präsidenten des Reichsjustizprüfungsamtes,4 unterschriebenes Zeugnis. Trotz glänzender Examina und wissenschaftlicher Qualifikation konnte die junge Volljuristin ihren angestrebten Beruf als Anwältin nicht aufnehmen. »Ihrem Antrag auf Übernahme in den anwaltlichen Probedienst hat nicht entsprochen werden können«, war die lapidare ohne Rechtsmittelbelehrung versehene Antwort des Reichministers der Justiz am 16.9.1936. Nach nationalsozialistischer Anschauung gehörten Frauen nach Hause an den Kochtopf. Dass sie keine akzeptierten »Rechtswahrer« nach der krausen Ideologie des »Dritten Reiches« sein konnten,5 hatte bereits Palandt in seinem Kommentar zur JAO 1934 wetterleuchtend dargelegt.6 Dadurch war die junge Assessorin gezwungen, sich zunächst ihren Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten zu verdienen, bis sie im Herbst 1936 eine Stelle bei der Landeskreditkasse in Kassel antreten konnte. Trotz staatlicher Vorbehalte gegenüber einer Frau in Leitungsfunktion verdankte Dr. Schirmer ihren Arbeitsplatz der Fürsprache zweier früherer Kommilitonen, die dem Direktor von ihren juristischen Fähigkeiten und ihrem Durchsetzungsvermögen gegenüber den altgedienten »mittleren Beamten« überzeugend berichteten.

* Gekürzter und um Fußnoten ergänzter Vortrag aus Anlass der Dr. Kottler gewidmeten Gedächtnisfeier am 26.6.2004 in der FH Schmalkalden. 1 L. Kottler, Lebens-Erinnerungen aus 6 politischen Staatsformen Deutschlands im 20. Jahrhundert, 2003, S. 1 (bisher unveröffentl. Typoskript). 2 Vgl. S. Schönewald, Aufrecht und paragrafensicher durch fünf Jahrzehnte, Südthüringer Zeitung v. 27.2.2003, S. 3. Auch die folgenden Zitate der Verstorbenen beruhen auf dieser Publikation von Schönewald. 3 L. Kottler, Hör-CD: Rechtschaffen(d) in sechs Staatsformen, Track 2: Weil der Vater es so will! 4 Näher dazu: Slapnicar, NJW 2000, 1692 ff. 5 Näher dazu in: Deutscher Juristinnenbund (Hrsg.), Juristinnen in Deutschland. Eine Dokumentation (1900 -1984), 1984, S. 16 ff. (19), sowie Erlass des Reichsministers der Justiz v. 1.2.1937, ebenda, Anh. Nr. 28, S. 163. 6 Palandt/Richter, Komm. zur JAO, 1. Aufl. 1934, Anm. 2 zu § 44.

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Kurzbeiträge Nach sechsjähriger Tätigkeit wurde die zwischenzeitlich zur Referentin Aufgestiegene im März 1942 durch die kriegsbedingte Einstellung sämtlicher Zwangsversteigerungsverfahren und Kreditvergaben arbeitslos. Wohl wollte sie auch dem bombengeschädigten Kassel in das bislang geschontere Schmalkalden entfliehen. Wiederholte Aufforderungen, der NSDAP beizutreten, lehnte Dr. Schirmer mit dem Hinweis auf ihre demokratische Einstellung und das ihrer Familie angetane Unrecht ab. »Erst auf ununterbrochene Einwirkung eines Parteirichters habe ich mich im Frühjahr 1938 bei der NSDAP, ohne irgendwelche Bürgen angegeben zu haben, angemeldet, dabei aber immer wieder zum Ausdruck gebracht, daß mir die nazistischen Methoden aufs Äußerste verhaßt waren,«7 schreibt sie in ihrem Lebenslauf vom 26.10.1946 zu ihrer politischen Entwicklung. Eine neue Anstellung bei der Gauwirtschaftskammer, Zweigstelle Meiningen, Sonneberg und Schmalkalden führte sie für die restliche Kriegszeit zurück in ihre Heimatstadt, wo sie auch ihren späteren Ehemann Dr. iur. Willhelm Kottler, Geschäftsführer der dortigen Eisen-, Stahl- und Blechwaren-Industrie sowie Zweigstellenleiter der Kammer, kennen lernte. Am 18.7.1942 fand die Hochzeit statt. Ihr Mann brachte einen Sohn und eine Tochter mit in die Ehe. Am 23.4.1943 wurde die gemeinsame Tochter Regine geboren. Das Familienglück war allerdings nicht von langer Dauer. Am 23.2.1945 starb ihr Ehemann bei einem der wenigen Luftangriffe auf Meiningen. Weil Luftkriegsbetroffene keine Kriegshinterbliebenen waren, gab es keine Unterstützung für die Witwe. Als 33-jährige stand die Mutter von zwei Töchtern allein da; der Stiefsohn war 19-jährig bei Minsk gefallen. Anwaltsnotarin in der SBZ und in der DDR Noch unter der sowjetischen Militäradministration nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Dr. Liselotte Kottler ihren Traumberuf als Rechtsanwältin ab September 1946 mit Zulassung beim Amtsgericht in Schmalkalden und gleichzeitig beim Landgericht in Meiningen realisieren. Der Antifaschistische Block hatte »politisch keine Bedenken« attestiert. Ebenso folgte zwei Jahre später die Bestallung zum Notar im Land Thüringen mit Amtssitz in Schmalkalden durch das damalige Justizministerium in Weimar. Anfang 1949 ereilte die Schmalkalder Rechtsanwältin das verlockende lukrative Angebot, mit sofortiger Wirkung wieder ihre alte Tätigkeit bei der Landeskreditkasse in Kassel aufzunehmen. Sie blieb. Für die Entscheidung, aus ihrer Heimatstadt nicht fortzugehen, sprach insbesondere auch ihre hohe moralische Auffassung, aus der SBZ nicht davon zu laufen und sich nicht den Verpflichtungen als Freiberufler gegenüber den Mitmenschen zu entziehen, solange keine unmittelbare Gefahr bestand. Als 1949 die DDR gegründet wurde, behielt Dr. Kottler sowohl ihre Zulassung als Einzelanwältin als auch das Amt als Notar, ebenso wie nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 im wiedervereinigten Deutschland. Sie war damit eine Ausnahmeerscheinung in der forensischen Rechtslandschaft der DDR. Für den alten Bezirk Suhl ist sie die einzige Anwältin und Notarin gewesen, die sich für die gesamte DDR-Zeit der Zwangsvereinnahmung ins Anwaltskollegium und der Umwandlung der Notariate in staatliche entziehen konnte. Als diese Kollektivierungen 1952/53 begannen, war Dr. Kottler ohne ihr Zutun bereits als Vorsitzende des Anwaltskollegiums in Schmalkalden verplant – Ironie der Geschichte. Die bewahrte Selbständigkeit und Unabhängigkeit hatte ihren Preis. Während der Kollegiumsanwalt nach 40 % Abführung seines Honorars an das Kollegium auf die verbleibenden 60 % nur 20 % Lohnsteuer zahlte, musste Dr. Kottler als Anwaltsnotarin eine deutlich höhere, progressive Einkommensteuer entrichten.

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S l a p n i c a r, L i s e l o t t e K o t t l e r ( 1 9 0 9 - 2 0 0 3 ) …

Als ihr zum 40. Jahrestag der DDR 1989 trotz Nicht-Parteimitgliedschaft für ihr Wirken die Verdienstmedaille der DDR verliehen werden sollte, lehnte sie diese Auszeichnung ab. Noch vor der Wirtschaftsunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland dokumentierte 1990 das Anwaltsverzeichnis der DDR von insgesamt 19 zugelassenen Einzelanwälten vier Frauen. Neben Dr. Liselotte Kottler waren dies eine Anwaltsnotarin in Dresden, Dr. Maria Cordes,8 und zwei Anwältinnen: Marianne Brendel in Leipzig und die erst 1990 neu gelistete Ute Gentz in Berlin.9 Dr. Kottler war von den genannten Frauen die am längsten singular zugelassene Anwaltsnotarin; über 50 Jahre nahm sie ihre Aufgaben als Anwältin wahr. Anwaltsnotarin im vereinigten Deutschland Infolge der sich mit dem Beitritt der DDR zur BRD am 3.10.1990 staatsrechtlich konstituierten Einheit ergaben sich vielfältige neue Herausforderungen für die zwischenzeitlich zur Schmalkalder Institution gewordenen Juristin. Sie zu bestehen halfen Dr. Kottler die während ihrer rechtswissenschaftlichen Ausbildung vermittelten Kenntnisse des BGB und der Vor-DDR-Rechtsordnung erheblich. Sie punktete dadurch, dass sie die Maßgeblichkeit der alten Bestimmungen paragraphensicher für die Interessen und Ansprüche ihrer Mandanten und in ihrer amtlichen Tätigkeit als Notar realisieren konnte. Auch im Freistaat Thüringen nahm Dr. Liselotte Kottler eine Solitärstellung ein. Sie blieb die einzige Thüringer Anwaltsnotarin, nachdem sich der Freistaat für das ursprünglich französisch-rheinische Nur-Notariats-System entschieden hatte. Ihre Streitkultur, ihr Dasein für andere, Gerechtigkeit vorzuleben, wurde mit der hohen Ehrung, die Dr. Kottler noch zu Lebzeiten durch Verleihung des Verdienstordens des Freistaates Thüringen erhielt, durch den Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel anerkannt und gewürdigt.

* Die grande dame der Thüringer Anwaltschaft ist ein Vorbild für ihren Berufsstand gewesen. Ihr Leben ist zum Paradebeispiel dafür geworden, dass es in unterschiedlichsten ideologischen Lebensformen gelingen kann, sich in Konzentration auf eigenes Ethos von der Verführbarkeit, der viele andere Juristen erlagen, fern zu halten. Mit Leib und Seele hat die Anwältin über 50 Jahre praktische Rechtswissenschaft betrieben. Es war ihr stets ein Anliegen, sich auch nach ihrem Rückzug aus dem beruflichen Leben als Notarin (1996) und als Anwältin (1998) für die Gerechtigkeit einzusetzen. Bei mehreren Besuchen im Fachbereich Wirtschaftsrecht der Fachhochschule in Schmalkalden konnte sie in Diskussionen mit jungen Studierenden als Person und wertorientierendes Beispiel der Unbeugsamkeit, der Nichtanpassungsbereitschaft und der eigenen Authentizität zu Pflicht und Gerechtigkeit überzeugen. Dies ist Ansporn und Verpflichtung für ein der Menschenwürde verpflichtetes Wertesystem, das auch gerade Jüngeren als Vorbild für die Zukunft dienen kann. Die Geehrte hinterlässt uns mit ihrem Leben ein bleibendes Vermächtnis.

7 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde DP 1 SE 3915 Dr. Liselotte Kottler, S. 48 R; gleichlautend im Lebenslauf v. 17.2.1947, v. 8.1.1951 u. v. 29.5.1953. 8 Durch Recherchen meines Dresdner Dozentenkollegen RA Dr. iur. habil. Willi Vock ist bekannt geworden, dass die am 3.9.1905 Geborene ihre Anwaltstätigkeit seit Mai 1934 bis zu ihrem Tode am 3.1.1993 ausübte; im Mai 1947 wurde Dr. Cordes auch als Notarin in Dresden zugelassen. 9 Anwaltsverzeichnis 1990. Verzeichnis der in der DDR zugelassenen Rechtsanwälte sowie Justizorgane und Vertragsgerichte. Stand März 1990, S. 13, 27, 71 u. 103.

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Informationen BUNDESGESETZGEBUNG Auswertung der BGBl. 2004 I Nr. 49 bis 53 Das Ges. zur effektiveren Nutzung von Dateien im Bereich der Staatsanwaltschaften v. 10.9.2004 dient der Beseitigung rechtlicher Hindernisse, die einem Online-Zugriff der Staatsanwaltschaft auf für sie relevante Daten im INPOL- und Schengener Informationssystem entgegenstehen. Andererseits werden die Voraussetzungen für einen grundsätzlich automatisierten Zugriff der Polizei und der sonstigen auskunftsberechtigten Stellen auf das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister geschaffen. Zum Schutz vor Ausforschungsversuchen wurde der Auskunftsanspruch des datenschutzrechtlich Betroffenen modifiziert. Die Änderungen betreffen das BKA-G, die StPO und das WaffenG; sie treten am 1.3.2005 in Kraft. (BGBl. I Nr. 49 S. 2318) Das 2. ZivildienstgesetzÄndG (2. ZDGÄndG) v. 27.9.2004 ist mit Ausnahme der erst am 31.10.2004 wirksam werdenden Übergangsvorschriften in § 81 ZDG am 1.10.2004 in Kraft getreten. Der Zivildienst ist von zehn auf neun Monate verkürzt und die Regelaltersgrenze, bis zu der Wehrpflichtige zum Dienst herangezogen werden können, vom 25. auf das 23. Lebensjahr herabgesetzt worden. Zudem wurden Befreiungs- und Zurückstellungstatbestände aktualisiert und ergänzt. (BGBl. I Nr. 51 S. 2358) Die Neufassung des Baugesetzbuchs (BauGB) in der seit dem 20.7.2004 geltenden Fassung ist am 23.9.2004 bekannt gemacht worden. Sie berücksichtigt die seit 1997 erfolgten Änderungen. (BGBl. I Nr. 52 S. 2414) Mit der am 7.10.2004 in Kraft getretenen VO zur Änderung der Insolvenzrechtlichen VergütungsVO v. 4.10.2004 reagiert das BMJ auf die Beschlüsse des BGH v. 15.1.2004 (NJ 4/2004, V), in denen die Mindestvergütung in masselosen Regel- und Verbraucherinsolvenzverfahren als verfassungswidrig bezeichnet wurde. Durch Änderung von § 2 Abs. 2 InsVV soll die Vergütung des Insolvenzverwalters i.d.R. mind. 1.000 € betragen, wenn in dem Verfahren nicht mehr als 10 Gläubiger Forderungen angemeldet haben. Von 11 bis 30 Gläubigern erhöht sich die Vergütung für je angefangene 5 Gläubiger um 150 €, ab 31 Gläubigern um je 100 € je angefangene 5 Gläubiger. Zur Vergütung des Treuhänders im vereinfachten Insolvenzverfahren sieht § 13 Abs. 1 InsVV vor, dass die Vergütung bei nicht mehr als 5 Gläubigern i.d.R. mind. 600 € betragen soll (bei 6 bis 15 Gläubigern Erhöhung um 150 € und danach um 100 € je angefangene 5 Gläubiger). Die Neuregelung ist auf Verfahren anzuwenden, die nach dem 31.12.2003 eröffnet worden sind. (BGBl. I Nr. 53 S. 2569)

GESETZESINITIATIVEN Strukturelle Neuordnung der Justiz Der Bundesrat hat beim Bundestag zwei Gesetzentwürfe eingebracht, mit denen die Organisationsstrukturen der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit grundlegend geändert werden sollen (siehe Inform. in NJ 2004, 353 u. 405). Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des GG (BR-Drucks. 543/04 [Beschluss]) soll in Art. 92 GG bestimmt werden, dass die Länder festlegen können, diese Gerichtsbarkeiten zu einheitlichen Fachgerichten zusammenzulegen. In einem weiteren sog. ZusammenführungsG (BR-Drucks. 544/04 [Beschluss]) soll das Bundesrecht für landesspezifische Regelungen geöffnet werden; den Schwerpunkt bildet dabei die Gerichtsordnung der einheitlichen Fachgerichte. (aus: Pressemitteilung des Bundesrats Nr. 182/04 v. 24.9.2004)

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Anpassung von Verjährungsvorschriften Ein von der Bundesregierung vorgelegter Gesetzentwurf zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Ges. zur Modernisierung des Schuldrechts v. 26.11.2001 sieht vor, die zahlreichen einzelnen Verjährungsvorschriften außerhalb des BGB an die neue Systematik des Verjährungsrechts anzupassen. Dazu kann eine größere Zahl spezieller Verjährungsvorschriften aufgehoben werden, sodass die §§ 194 ff. BGB unmittelbar gelten. Abweichungen vom neuen Verjährungsrecht des BGB sind weiterhin in speziellen Verjährungsvorschriften vorgesehen. Der Entwurf enthält Änderungen in zahlreichen Rechtsvorschriften. (aus: BT-Drucks. 15/3653) Akustische Wohnraumüberwachung Das Bundeskabinett hat den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Urteils des BVerfG v. 3.3.2004 (akustische Wohnraumüberwachung) beschlossen. Der Entwurf sieht – anders als der scharf kritisierte Referentenentwurf des BMJ (siehe Inform. in NJ 2004, 351) – nicht vor, dass der sog. Große Lauschangriff gegenüber Berufsgeheimnisträgern zulässig ist. (aus: KammerInfo Berlin Nr. 5/04 v. 7.10.2004) Juniorprofessur und Zeitvertragsrecht Die Wissenschaftsminister der sozialdemokratisch geführten Länder und des Bundes haben Eckpunkte zur Sicherung der Juniorprofessur und zeitlich befristeter Verträge im Hochschulbereich mit dem Ziel der Vorlage eines Gesetzentwurfs erarbeitet. Das Gesetz soll Rechtssicherheit schaffen, nachdem das BVerfG mit Urt. v. 27.7.2004 (NJ 2004, 457 [bearb. v. Wrase]) das 5. HRGÄndG v. 16.2.2002 für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatte. Zur Sicherung der Mobilität des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals soll festgelegt werden, dass dieses Personal in allen 16 Ländern aus Hochschullehrern (Professoren und Juniorprofessoren), wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeitern sowie Lehrkräften für besondere Aufgaben besteht. Von Land zu Land unterschiedliche Personalstrukturen würden den Hochschulwechsel über Landesgrenzen hinweg erschweren. Für auf der Grundlage des 5. HRGÄndG geschlossene befristete Beschäftigungsverhältnisse sollen die Befristungsregeln (§§ 57 a bis f) rückwirkend und für künftig abgeschlossene Verträge wieder in Kraft gesetzt werden. (aus: Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Nr. 207/04 v. 23.9.2004) Novellierung des Urheberrechts Das BMJ hat den Referentenentwurf für ein 2. Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vorgestellt, der von einer Informationskampagne unter dem Motto »Kopien brauchen Originale« begleitet wird. Der Entwurf zielt darauf ab, das deutsche Urheberrecht an die modernen Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie anzupassen. Herzstück der Informationskampagne des BMJ ist das Internetportal www.kopien-brauchen-originale.de, das alle interessierten Bürger zur Diskussion einlädt. (aus: Pressemitteilung des BMJ v. 1.10.2004) Reform des Vereinsrechts Das BMJ beabsichtigt, das im BGB seit mehr als 100 Jahren im Wesentlichen unverändert gebliebene Vereinsrecht zu reformieren und den heutigen Bedürfnissen anzupassen. So soll u.a. für den nicht rechtsfähigen Verein in § 54 BGB eine klare Rechtsgrundlage geschaffen werden und dafür künftig nicht das Gesellschafts-, sondern das Vereinsrecht anzuwenden sein. (aus: F.A.Z. v. 13.10.2004)

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Informationen NEUE BUNDESLÄNDER BERLIN Der Senat hat den Entwurf eines NeutralitätsG beschlossen, der das Tragen sichtbarer religiöser Symbole in vielen Bereichen des Öffentlichen Dienstes verbieten soll. Anlass der Gesetzesinitiative ist das Kopftuch-Urteil des BVerfG v. 24.9.2003 (Inform. in NJ 11/03, III). Der Gesetzentwurf wird nun zunächst in den Ausschüssen des Abgeordnetenhauses beraten. (aus: Berliner Zeitung v. 6.10.2004) Zur Berliner Gesetzesinitiative siehe M. Mahlmann, NJ 2004, 394 ff. Der Berliner Anwaltsverein hat am 7.10.2004 in seinen Büroräumen in der Littenstraße Rechtsberatung für Arbeitslose zum Preis von 1 € angeboten. 15 Rechtsanwälte erteilten ca. 200 erschienenen Arbeitslosen Rat zum neu geschaffenen Arbeitslosengeld II und gaben Unterstützung bei der Beantwortung ihrer derzeit auszufüllenden Fragebögen. »Wir wollen mit der Aktion signalisieren, dass wir uns des Themas Hartz IV annehmen«, erklärte der Vorsitzende des Anwaltsvereins Ulrich Schellenberg. (aus: Berliner Zeitung v. 7. u. 8.10.2004) Das Ges. zu dem Staatsvertrag über die Errichtung gemeinsamer Fachobergerichte der Länder Berlin und Brandenburg v. 10.9.2004 ändert die Ausführungsgesetze zur VwGO, zum SGG und ArbGG sowie zur FGO. Als Standorte für die künftig gemeinsamen Obergerichte Berlin-Brandenburg hat der Staatsvertrag Berlin (OVG zum 1.7.2005; LAG zum 1.1.2007), Potsdam (LSG zum 1.7.2005) und Cottbus (FG zum 1.1.2007) festgelegt. (GVBl. Nr. 39 S. 380) Das novellierte LandeswaldG (LWaldG) v. 16.9.2004 ist am 29.9.2004 in Kraft getreten; gleichzeitig trat das LWaldG v. 30.1.1979 außer Kraft. (GVBl. Nr. 40 S. 391) Durch ÄndG v. 16.9.2004 wurden § 8 des Kreislaufwirtschafts- und AbfallG Bln. v. 21.7.1999 (GVBl. S. 413), geänd. durch Ges. v. 16.7.2001 (GVBl. S. 260), und das Bln. BetriebeG v. 9.7.1999 (GVBl. S. 319), das zuletzt durch Ges. v. 24.3.2004 (GVBl. S. 149) geändert wurde, in § 1 Abs. 2 und § 2 Abs. 4 geändert. Die Änderungen sind zum 29.9.2004 wirksam geworden. (GVBl. Nr. 40 S. 397) Das Ges. über das Halten und Führen von Hunden in Berlin v. 29.9.2004 ersetzt die bisherige VO v. 5.11.1998 (GVBl. S. 326) und ist am 10.10.2004 in Kraft getreten. Künftig müssen nach § 1 alle Hunde außerhalb eines eingefriedeten Besitztums ein Halsband mit Namen und Anschrift des Halters tragen; sie sind mit einem Chip gem. ISO-Norm fälschungssicher zu kennzeichnen. Die Halter haben für ihre Hunde eine Haftpflichtversicherung mit einer Mindestdeckungssumme von 1 Mio. € je Versicherungsfall abzuschließen. Nach § 3 besteht grundsätzlich Leinenpflicht. § 4 benennt insges. 10 Rassen oder Gruppen von Hunden, die als gefährliche Hunde gelten und ab dem 7. Lebensmonat außerhalb eines eingefriedeten Besitztums einen beißsicheren Maulkorb tragen müssen. (GVBl. Nr. 42 S.424) BRANDENBURG Nach der Landtagswahl im Sept. 2004 hat sich am 13.10.2004 das neue Parlament konstituiert. Wiedergewählt wurde der bisherige Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD), der die Koalition mit der CDU fortsetzt. Neue Justizministerin wurde die 1947 in Dresden geborene Lehrerin Beate Blechinger, bisher Fraktionsvorsitzende der CDU. Sie löst die in Justizkreisen seit der Trennungsgeld-Affäre umstrittene Barbara Richstein ab. Die bislang beim

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Justizministerium angesiedelte Europapolitik fällt künftig in die Zuständigkeit der Staatskanzlei. (aus: Berliner Zeitung v. 8. u. 13.10.2004) Das anstehende Großverfahren um den Flughafen Schönefeld wird beim BVerwG von einer speziellen Geschäftsstelle »Schönefeld« betreut. Es wurden für die zu erwartenden rd. 2.000 Ordner neue Räume eingerichtet und acht befristetete Stellen geschaffen. Gegen den Planfeststellungsbeschluss für den Flughafen BerlinBrandenburg International wird mit bis zu 10.000 Klagen gerechnet (siehe Inform. in NJ 2004, 452). Damit wird dieses Verfahren das größte in der 50-jährigen Geschichte des BVerwG sein. (aus: Berliner Zeitung v. 11. u. 18.10.2004) Die neue Präsidentin des LVerfG, Monika Weisberg-Schwarz, ist in Potsdam in ihr Amt eingeführt worden. Die gleichzeitige Vizepräsidentin des LAG Potsdam tritt die Nachfolge von Dr. Peter Macke an, der im Januar von diesem Amt zurückgetreten war (siehe Inform. in NJ 2004, 115). (aus: Berliner Zeitung v. 7.10.2004) Nach der VO über den Verzicht auf die Oberfinanzdirektion Cottbus (Land) v. 7.9.2004 wurde die OFD mit Wirkung zum 1.9.2004 aufgelöst. (GVBl. II Nr. 26 S. 694) Die ErnennungsVO (ErnennV) v. 1.8.2004 regelt die Ernennung, Zurruhesetzung und Entlassung der Beamten des Landes. Sie ist am 1.10.2004 in Kraft getreten; gleichzeitig trat die ErnennV v. 16.4.1997 außer Kraft. (GVBl. II Nr. 28 S. 742) Die HochschulprüfungsVO (HSPV) v. 3.9.2004 gilt für alle Studiengänge mit einer Hochschulprüfung, aufgrund derer ein Diplom-, Magister-, Bachelor- oder Mastergrad verliehen wird. Sie trat am 5.10.2004 in Kraft; gleichzeitig ist die HSPV v. 8.4.2002 außer Kraft getreten. (GVBl. II Nr. 28 S. 744) MECKLENBURG-VORPOMMERN Das Kabinett hat das weitere Vorgehen zur Umstrukturierung der Landesbehörden beschlossen und Eckpunkte zum Abbau der Verwaltung festgelegt. So soll u.a. das Prinzip des zweistufigen Verwaltungsaufbaus noch konsequenter umgesetzt und unterhalb der Ebene der Ministerien lediglich eine weitere Ebene mit Aufgaben des Verwaltungsvollzugs befasst sein. Als grundsätzliches Ziel wurde festgelegt, dass jedes Ressort nur eine Landesoberbehörde in seinem nachgeordneten Bereich führen soll. Welche Behörden letztlich konzentriert oder neu organisiert werden müssen, steht noch nicht fest. (aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 17.9.2004) Nach dem geänderten Erlass zur Bekämpfung des Rechtsextremismus soll die Landespolizei künftig verstärkt einen täterorientierten Ansatz verfolgen. Insbes. mit Hilfe der Einsatzgruppen MAEX (Mobile Aufklärung Extremismus) soll der Kontroll- und Verfolgungsdruck erhöht und verstärkt ermittelt werden. Die Ermittlungen sollen dabei deliktsübergreifend bei den Staatsschutzstellen geführt werden. Zwar sei, so Innenminister Dr. Timm, die Zahl der Gewalttaten von 53 im Jahr 1999 auf 35 im Jahr 2003 kontinuierlich zurückgegangen; andererseits sei jedoch festzustellen, dass die rechte Szene sich zunehmend jeder Kontrolle oder Beeinflussung zu entziehen versucht. (aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 10.9.2004) Mit VO v. 13.9.2004 ist die Oberfinanzdirektion Rostock mit Wirkung zum 1.10.2004 aufgelöst worden. (GVOBl. M-V Nr. 18 S. 472)

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SACHSEN In seiner Rede zur Eröffnung des 26. Deutschen Jugendgerichtstags, der vom 25. bis 28.9.2004 in Leipzig stattfand, hat Justizminister Dr. Thomas de Maizière eine Reform des Jugendstrafrechts angemahnt. Zur besseren erzieherischen Einwirkung auf jugendliche Straftäter seien neue Sanktionsmöglichkeiten wie der sog. Warnschussarrest, die Verhängung einer Jugendstrafe von bis zu 15 Jahren für schwerste Verbrechen und die Schaffung eines einheitlichen und erweiterten Katalogs »erzieherischer Maßnahmen« erforderlich. Der Justizminister verwies insoweit auf den unter sächsischer Federführung gemeinsam mit Bayern, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen und Thüringen erarbeiteten und vom Bundesrat gebilligten Gesetzentwurf (siehe Inform. in NJ 2004, 305). (aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 25.9.2004) Die Staatsregierung hat den Gesetzentwurf zur Änderung des MeldeG und zur Änderung des Ges. über die Errichtung einer Sächsischen Anstalt für kommunale Datenverarbeitung zur Anhörung freigegeben. Der Entwurf zielt auf eine Vereinfachung und bürgerfreundlichere Gestaltung des Melderechts. Im Mittelpunkt steht dabei die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Kommunikation der Meldebehörden untereinander via elektronischer Datenübermittlung, der weitgehende Verzicht auf die Abmeldung bei der »alten« Meldestelle bei einem Wohnortwechsel und die Bereitstellung eines vorausgefüllten Meldescheins bei der Anmeldung. (aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 7.10.2004) Eine einheitliche Umsetzung der Definition für rechte Straftaten hat Innenminister Rasch gefordert. Im Zusammenhang mit den vom BMI für 2004 bekannt gegebenen Zahlen rechtsextremer Straftaten, nach denen Sachsen bundesweit »führend« ist, verweist der Minister darauf, dass sich die Länder bisher nicht darauf einigen konnten, was als sog. rechte Straftat gewertet wird. »Ich bin nicht sicher, ob in allen Ländern so wie in Sachsen zu jeder Hakenkreuzschmiererei eine Anzeige gefertigt und diese als rechtsextremistische Straftat registriert wird. Wir müssen endlich aufhören, uns bei der Bewertung rechter Straftaten gegenseitig in die Tasche zu lügen.« (aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 7.10.2004) Justizminister Dr. Thomas de Maizière hat Mitte Sept. 2004 das sanierte Gebäude des LG Görlitz eingeweiht. Das in den Jahren 1863 bis 1865 errichtete und später mehrfach erweiterte LG Görlitz wurde in den letzten Jahren mit einem Kostenaufwand von ca. 10,5 Mio. € umfassend saniert und durch einen Neubau ergänzt. (aus: Pressemitteilung des Justizministeriums v. 14.9.2004)

Die VO zur Übertragung von Rechtspflegeraufgaben auf den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle v. 22.9.2004 tritt am 1.10.2005 in Kraft. (GVBl. LSA Nr. 53 S. 724) THÜRINGEN Das Innenministerium hat die Kommunalaufsichtsbehörden darüber informiert, dass die Zinsausfälle der Aufgabenträger der Wasserver- und Abwasserentsorgung bis zum In-Kraft-Treten der Novellierung des KAG durch das Land ersetzt werden. Die Landesregierung plant u.a. umfangreiche Änderungen der Zinsbeihilferichtlinie in diesem Bereich (siehe Inform. in NJ 2004, 210). Die Verlängerung der Frist zum Aussetzen der Beitragserhebung durch die Wasser/Abwasser-Zweckverbände schließt sich nahtlos an den Zeitpunkt des Auslaufens des bisherigen Moratoriums an. Derzeit liegen 24 Anträge von Zweckverbänden auf Kostenerstattung vor. (aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 23.9.2004)

VERANSTALTUNGEN 50 Jahre Bundessozialgericht Anlässlich eines Festakts am 28.9.2004 zum 50-jährigen Bestehen des BSG betonte sein Präsident Matthias von Wulffen die großen Herausforderungen für alle Sozialgerichte und das BSG im Zusammenhang mit der Übertragung der Zuständigkeiten für Verfahren zu Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II. Er sprach sich, unterstützt von Bundesministerin Ulla Schmidt, gegen eine Zusammenlegung von Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit aus (zur Bundesratsinitiative siehe Inform. auf S. 499). Der frühere Bundespräsident und Präsident des BVerfG Prof. Dr. Roman Herzog ging in seiner Festansprache ebenfalls auf die Herausforderungen des Sozialstaats ein und rief zum »Umdenken und Umfühlen« auf. Bisher hätten die Sozialrichter immer auf der Seite des Fortschritts gestanden. Nun müssten sie erkennen, dass sie vor völlig neuen Aufgaben stünden, denn die bisher verteilten ökonomischen Zuwachsraten stagnierten mittlerweile wegen der »Schlamperei und Fehler unserer Politiker und Wirtschaftsführer«. Auch Herzog lehnte in Zeiten des Umbruchs eine Zusammenlegung der Sozialgerichte mit den Finanz- und Verwaltungsgerichten ab. Im Anschluss an den Festakt fand eine Podiumsdiskussion zum Thema »Schlanker Staat, moderne Justiz, Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit?« statt. Gemeinsam mit dem BSG-Präsidenten diskutierten teils kontrovers Bundesverfassungsrichterin Renate Jaeger, Präsidentin des LSG Celle, Monika Paulat, VorsRiOLG Frankfurt/M. Karl Friedrich Piorreck und Bernd Netzer aus dem BMJ. 80. Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

SACHSEN-ANHALT Das Graffitiunwesen hat in den letzten Jahren stark zugenommen und verursacht allein in Sachsen-Anhalt rd. 5 Mio. € pro Jahr. Seit dem In-Kraft-Treten der GraffitiVO LSA im Aug. 2002 sind im Land bis Anf. Sept. 2004 insges. 87 Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet und 45 Verwarn- und Bußgeldbescheide i.H.v. 25 bis 1.000 € ausgesprochen worden. (aus: Pressemitteilung des Innenministeriums v. 10.10.2004) Die 2. VO über die Zuordnung von Gemeinden zu Verwaltungsgemeinschaften v. 8.9.2004 regelt Zuordnungen und Zusammenschlüsse für insges. 16 Landkreise. Sie tritt am 1.1.2005 in Kraft. (GVBl. LSA Nr. 50 S. 550) Die Allgemeine GebührenO (AllGO LSA) v. 30.8.2004 ist am 22.9.2004 in Kraft getreten. Gleichzeitig trat die AllGO v. 23.5.2000 außer Kraft. (GVBl. LSA Nr. 51 S. 554)

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Die Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer fand Anf. Okt. 2004 in Jena zum 80. Mal statt. Auch der 1. Kongress im Jahr 1924 war in Jena ausgetragen worden. Der Vereinigung gehören fast alle deutschen Hochschullehrer des Staatsrechts und mindestens eines weiteren öffentlich-rechtlichen Fachs an; Voraussetzung der Mitgliedschaft ist die Habilitation oder eine gleichwertige Qualifikation. Heute gehören der Vereinigung mehr als 600 Mitglieder an, darunter knapp 100 aus Österreich und der Schweiz. Der Thür. Justizminister Harald Schliemann würdigte in seiner Begrüßungsrede die Vereinigung als eine bedeutende Einrichtung, die schon viele wertvolle Impulse für Gesetzgebung und Rechtsprechung gegeben hat. Die Tagung stand unter dem Oberthema »Der Sozialstaat in Deutschland und Europa« und behandelte u.a. die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, die verwaltungsrechtlichen Instrumente des Sozialstaats und die Problematik »Diskriminierungsschutz und Privatautonomie«.

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Dokumentation Petitionsbericht 2003 Aus dem Bericht des Petitionsausschusses des Bundestags über seine Tätigkeit im Jahre 2003 (BT-Drucks. 15/3150; zum Petitionsbericht 2002 siehe NJ 2003, 467 ff.) werden im Folgenden vorrangig die Passagen abgedruckt, die Anliegen zu Rechtsproblemen in den neuen Bundesländern betreffen.

1. Allgemeine Bemerkungen über die Ausschussarbeit 1.1 Anzahl und Schwerpunkte der Eingaben 15.534 Eingaben wurden im Jahr 2003 an den Petitionsausschuss herangetragen. Das sind 12 v.H. mehr als im Jahr 2002, in dem 13.832 Eingaben verzeichnet wurden. Im täglichen Durchschnitt wurden demnach über 60 Neueingaben in den Geschäftsgang gegeben. Die Anzahl der Eingaben, die der Petitionsausschuss im Jahr 2003 abschließend behandelt hat, beträgt 14.451. Betrachtet man die Verteilung der Petitionen auf die einzelnen Bundesministerien, so ist das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung mit über einem Drittel der Petitionen das Ressort, zu dem die bei weitem meisten Eingaben eingingen. Gemessen am Gesamtvolumen der eingegangenen Petitionen entfielen ca. 15 v.H. der Eingaben auf das Bundesministerium der Finanzen und etwas mehr als 12 v.H. auf das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit. Sowohl die Anzahl der Sammelpetitionen … als auch die der Massenpetitionen … (z.B. Postkartenaktionen), sind im Berichtszeitraum gegenüber dem Vorjahr deutlich angestiegen. Die in Sammel- und Massenpetitionen vorgebrachten Anliegen unterschieden sich allerdings nicht wesentlich von den in den sonstigen Petitionen angesprochenen Themen. Die Bitten zur Gesetzgebung machten über ein Drittel (5.411), die Beschwerden ca. zwei Drittel der Neueingaben aus. … Wenn man die Anzahl der Petitionen ermittelt, die auf 1 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner des jeweiligen Landes durchschnittlich entfällt, so erhält man einen aussagekräftigen Vergleich der Anzahl der Petitionen, die aus den einzelnen Bundesländern kommt. Das Land mit den relativ meisten Eingaben im Jahr 2003 war Brandenburg mit 659, gefolgt von Berlin mit 485. Geringe Eingabezahlen gab es aus dem Saarland mit 108, Bayern mit 106 und Baden-Württemberg mit 101 Eingaben auf 1 Mio. Einwohner. (Siehe Tabelle am Ende) Eine genaue Aussage darüber, in welcher Größenordnung Petitionsverfahren eine positive Erledigung fanden, lässt sich nicht generell treffen. Viele Petitionen konnten bereits im Vorfeld des parlamentarischen Verfahrens gelöst werden … Bei anderen Fällen waren zwar komplexe Moderationsverfahren mit Anhörung aller Beteiligten (z.B. bei Ortsbesichtigungen) notwendig, oftmals zeichneten sich aber auch in diesem Rahmen noch Lösungswege für die Beteiligten ab. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass bei nahezu jeder zweiten Petition etwas für die Petenten erreicht werden konnte. …

2. Einzelne Anliegen 2.4 Bundesministerium der Justiz Im Berichtszeitraum ging die Zahl der Eingaben zum Geschäftsbereich des BMJ mit 1.517 erneut zurück. Deutlich verringerten sich die Eingaben zu den offenen Vermögensfragen in den neuen Bundesländern. … 2.4.4 Verständlichere Abfassung von Gesetzesänderungen Ein Rechtsanwalt beklagte, dass Änderungen von Gesetzen oftmals nur schwer verständlich seien. Er beanstandete, dass nur der geänderte Gesetzestext und nicht die gesamte Vorschrift veröffentlicht werde. Ferner würden zu viele unterschiedliche Gesetze ohne Sinnzusammenhang in einem sog. Artikelgesetz geändert. Gesetzesänderungen seien deshalb in verständlicher Form aufzuführen, Artikelgesetze in mehrere Gesetze aufzuteilen und treffend zu benennen. Die Prüfung des Petitionsausschusess ergab, dass die bisherige Verfahrensweise den Vorteil hat, dass der Gesetzgeber ausschließlich über die Veränderungen der geltenden Rechtslage beschließen kann. Das Ausmaß der Änderungen wird dadurch transparent und es wird deutlich, welche Rechtsverhältnisse von Veränderungen betroffen sind. Die Bundesregierung ist bereits aufgrund der Vorgaben der Gemeinsamen GeschäftsO der Bundesministerien (GGO) sowie der Empfehlungen des BMJ verpflichtet, die Qualität der Rechtsvorschriften und

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die Bezeichnung von Artikelgesetzen klar zu strukturieren und in getrennten Entwürfen zu formulieren. Der Petitionsausschuss stellte jedoch fest, dass häufig im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens weitere Vorschriften geändert werden, ohne dass die Bezeichnung der Artikelgesetze entsprechend angepasst wird. Dies hängt häufig davon ab, ob und welche Rechtsänderungen in einem Rechtsetzungsakt zusammengefasst werden. Der Petitionsausschuss war der Auffassung, dass alle am Gesetzgebungsprozess Beteiligten auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Rechtsänderungen achten sollten … Allerdings erschien dem Petitionsausschuss die Festschreibung einer bestimmten Form kein geeignetes lnstrument für eine Verbesserung der Änderungsgesetzgebung zu sein. Die Auswahl der gesetzgebungstechnischen Möglichkeiten und die formale Gestaltung der Rechtsvorschriften müssten im Vorfeld der Gesetzesbeschlüsse durch organisatorische Vorkehrungen und von allen am Gesetzgebungsprozess Beteiligten sichergestellt werden. Insoweit empfahl der Petitionsausschuss, das Petitionsverfahren abzuschließen.

2.12 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung Wie in den Vorjahren entfielen die meisten Eingaben zur Sozialversicherung auf den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung. Hierzu erreichten den Petitionsausschuss rd. 3.130 Eingaben. Auch im Berichtsjahr war der Petitionsausschuss wiederum Adressat zahlreicher Eingaben aus den neuen Bundesländern, mit denen eine schnellere Anhebung des aktuellen Rentenwerts (Ost) auf das Niveau des aktuellen Rentenwerts (West) gefordert wurde. Der Petitionsausschuss unterstützte das Anliegen nach Abwägung der einschlägigen Gesichtspunkte ebenso wenig wie in der 14. Wahlperiode. Dabei stand im Vordergrund, eine Angleichung der Rentenwerte nicht losgelöst von der Angleichung der Einkommen der aktiv Beschäftigten vorzunehmen. Zu unterschiedlichen Ergebnissen ist der Petitionsausschuss bei den verstärkt aufgetretenen Eingaben gekommen, in denen von ehem. Angehörigen der verschiedenen Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der früheren DDR Kritik an der Umsetzung der grundlegen den Urteile des BVerfG v. 28.4.1999 (NJ 1999, 356 ff.) geübt wurde. Insbes. wurde das Weiterbestehen rentenrechtlicher Begrenzungsregelungen nach Verabschiedung des 2. AAÜG-ÄndG beanstandet. Während den ehem. Mitarbeitern des MfS/AfNS eine Regelung, die über die Mindestvorgabe des BVerfG – 1 Entgeltpunkt pro Jahr – hinausgeht, nicht in Aussicht gestellt werden konnte, hat der Petitionsausschuss bei Angehörigen bestimmter Funktionsebenen, die ein besonders hohes Arbeitseinkommen erzielt haben (Gehaltsstufe E 3), empfohlen, die Petition der Bundesregierung als Material zu überweisen und den Fraktionen zur Kenntnis zu geben, soweit die Entgeltbegrenzungen nach § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG angesprochen werden. (Das dazu zwischenzeitlich ergangene Urteil des BVerfG v. 23.6.2004 ist abgedr. auf S. 504 m. Anm. Brandt, in diesem Heft.) Bei den Eingaben aus den neuen Bundesländern bildeten weiterhin diejenigen Eingaben einen wesentlichen Schwerpunkt, mit denen insbes. für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen der ehem. DDR bzw. in Betrieben mit sog. spezieller Produktion die Anerkennung des besonderen Steigerungssatzes von 1,5 v.H. für Fälle mit Rentenbeginn nach dem 31.12.1996 gefordert wurde. Da dieses Anliegen den Antrag der Fraktion der FDP »Für eine gerechte Versorgungsregelung für das ehemalige mittlere medizinische Personal in den neuen Ländern« (BT-Drucks. 15/842) betraf, der dem Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesen wurde, bat der Petitionsausschuss diesen Ausschuss um Stellungnahme. Zahlreiche ehem. Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post der früheren DDR beschwerten sich auch im Berichtsjahr über die Modalitäten der Überführung ihrer Ansprüche und Anwartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung und forderten eine rückwirkende Anerkennung dieser Ansprüche, insbes. auch des besonderen Steigerungssatzes von 1,5 v.H. Zu einer abschließenden Beratung dieser Eingaben ist es im Berichtszeitraum nicht mehr gekommen. Dagegen konnten die Eingaben abgeschlossen werden, mit denen Versicherte, die in Berlin (West) wohnten, die rentenrechtliche Bewertung ihrer bei der Deutschen Reichsbahn zurückgelegten Beschäftigungszeiten kritisierten. Der Petitionsausschuss kam hier nach einge-

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Rezensionen

Petitionsbericht 2003

hender Überprüfung zu dem Ergebnis, dass es sich bei der von den Petenten kritisierten gesetzlichen Regelung um eine sozialpolitisch ausgewogene und angemessene Kompromisslösung handelt, die daher auch keiner Änderung bedarf. Mehrere Petenten aus den neuen Bundesländern kritisierten die Überführung der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung in die gesetzliche Rentenversicherung, forderten eine zusätzliche Leistung aus diesen Beiträgen und wandten sich insoweit gegen eine Anwendung der Beitragsbemessungsgrenze. Auch hier sah der Petitionsausschuss – nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen und gefestigten Rechtsprechung des BSG zu diesem Themenkomplex – keine Möglichkeit, sich für Rechtsänderungen im Sinne der Petitionen einzusetzen. … Zahlreiche Petenten aus den neuen Bundesländern forderten, weitere Berufe und Betriebe in das Zusatzversorgungssystem der sog. technischen Intelligenz einzubeziehen und die hierfür maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften zu präzisieren. Mit anderen Petitionen wurde eine Ungleichbehandlung der Akademiker in den neuen Ländern hinsichtlich ihrer Altersversorgung kritisiert. Die Anliegen dieser beiden Personengruppen wurden vom Petitionsausschuss umfassend geprüft, konnten allerdings im Berichtsjahr nicht mehr abschließend beraten werden.

Matthias Winkler

Vorsorgeverfügungen Patiententestament, Vorsorgevollmacht, Betreuungs- und Organverfügung Verlag C.H. Beck, München 2003 96 Seiten, mit CD-ROM, kart. 13,80 € Das vom Autor bearbeitete Thema hat zunehmende Bedeutung für die Beratungspraxis der Notare und Rechtsanwälte, aber auch für die Aufsichts- und Entscheidungstätigkeit der Vormundschaftsgerichte in Betreuungssachen. Nicht zuletzt spielt es für die ärztliche Therapie eine erhebliche Rolle, wird damit doch die Frage der Rechtssicherheit von Behandlungsentscheidungen in der medizinischen Praxis entscheidend berührt. Angesichts der rechtlichen Grauzonen und Unsicherheiten ist eine rechtzeitige eigenverantwortliche und selbstbestimmte Regelung, deren Notwendigkeit der Autor in dem einleitenden Teil anhand der verschiedenen Lebenssituationen – Vorsorge für die letzte Lebensphase; vorübergehende Entscheidungsunfähigkeit, Anordnungen für die Zeit nach dem Tod (postmortale Vollmachten, Organverfügungen) – überzeugend darlegt, nur dringend anzuraten. Zum Adressatenkreis der Schrift dürften neben Juristen auch Mediziner, Betreuer und interessierte Bürger gehören. Mittlerweile hat auch der Gesetzgeber die Notwendigkeit erkannt, die rechtliche Absicherung dieser Lebensphasen durch Vorsorgevollmachten stärker zu fördern, nicht zuletzt, um die ausufernden Betreuungskosten für den Fiskus einzudämmen und die »Justizlastigkeit« der Betreuung zugunsten einer stärker eigenbestimmten Verantwortung der Beteiligten, insbesondere des Betroffenen und seiner nahen Angehörigen, zu verschieben. Dem soll einerseits durch eine Erweiterung der gesetzlichen Vertretungsmacht der Ehegatten (und eingetragener Lebenspartner) im Rahmen der neu einzustellenden §§ 1358 u. 1358 a BGB für den Fall einer Verhinderung eines Ehegatten zur Wahrnehmung seiner Geschäfte nachgekommen werden. Andererseits geht dieser geplanten erweiterten gesetzlichen Vertretungsbefugnis der in einer Vorsorgevollmacht geäußerte Wille des Betroffenen vor. Zur Stärkung der Autorität der Vorsorgevollmacht sollen die Beurkundungspersonen in den Betreuungsbehörden die Unterschriften bzw. Handzeichen unter den Vorsorgevollmachten beglaubigen können. Mithilfe dieser Vollmachten kann der Vertreter dann auch pass- und melderechtliche Angelegenheiten abwickeln. Es wäre gut gewesen, wenn der Autor diese Regelung de lege ferenda (immerhin soll sie bereits am 1.1.2005 in Kraft treten) in seinen einleitenden Teil hätte einbeziehen können. Denn mit ihr wird die Relevanz seiner Schrift noch erhöht. Im Übrigen hat der Autor aber in diesem Teil eine nachvollziehbare Strukturierung des Gegenstandes seiner Abhandlung vorgenommen, indem er die Vorsorgeverfügungen in drei Typen einteilt, nämlich: Vorsorgevollmachten, Betreuungsverfügungen und Patientenverfügungen. Sorgfältig und mit Quellenhinweisen untersetzt arbeitet Winkler die Unterschiede und Vor- und Nachteile der verschiedenen Verfügungsarten heraus, so dass auch der juristische Laie die Relevanz der ein-

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Aufgliederung der Petitionen nach Herkunftsländern HerkunftsJahr länder 2003 Bayern 1.319 Berlin 1.644 Brandenburg 1.698 Bremen 96 Baden-Württemb. 1.077 Hamburg 294 Hessen 882 Meckl.-Vorp. 446 Niedersachsen 1.249 Nordrhein-Westf. 2.352 Rheinland-Pfalz 595 Sachsen-Anhalt 666 Sachsen 1.442 Saarland 115 Schleswig-Holstein 544 Thüringen 623 Ausland 492 insgesamt 15.534

auf 1 Mio. in v.H. Jahr d. Bevölk. 2002 106 8,49 1.442 485 10,58 1.576 659 10,93 742 145 0,62 69 101 6,93 1.010 170 1,89 199 145 5,68 776 257 2,87 426 156 8,04 1.122 130 15,14 2.301 147 3,83 447 263 4,29 615 333 9,28 1.391 108 0,74 95 193 3,50 408 261 4,01 576 3,17 637 100,00 13.832

auf 1 Mio. d. Bevölk. 117 465 287 104 95 115 128 243 141 127 110 240 319 89 145 240

in v.H. 10,43 11,39 5,36 0,50 7,30 1,44 5,61 3,08 8,11 16,64 3,23 4,45 10,06 0,69 2,95 4,16 4,61 100,00

zelnen Regelungen begreift. Zusätzlich für den postmortalen Bereich werden Grundsätze der Organverfügung und der Leichenschau erläutert. Im Weiteren gibt der Autor allgemeine Hinweise zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen der Verfügungen (Form, Zeitnähe, Beratung, Aufhebung), weist auf besondere Rechtsgeschäfte (Grundstücks- und Handelsgeschäfte, Verbraucherkredite) hin, welche die notarielle Form erforderlich machen, und zeigt Möglichkeiten zur Hinterlegung der Vollmachten auf. Der sich anschließende Textabdruck des Musters einer Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung sowie einer Patienten- und Organverfügung hätte m.E. an den Schluss der Schrift gehört. Denn erst im Anschluss daran folgt die kommentierte Fassung dieser Verfügungen, deren »Vorabdruck« den Leser dazu verleiten kann, allzu voreilig Textpassagen zu übernehmen. Eine Reihe von alternativen Formulierungen und Begriffen erschließt sich dem Nichtjuristen auch erst durch die Kommentierung (z.B. die Bedeutung von Doppelvollmachten, die Varianten der Befreiung von den Beschränkungen des § 181 BGB, Begriff der Anstands- oder Pflichtschenkungen). Positiv hervorzuheben ist, dass der Autor auch auf Missbrauchsmöglichkeiten (z.B. durch Vermögensverfügungen) hinweist, die eine weitgehende Übertragung von Vertretungsbefugnissen – neben den Vorteilen – mit sich bringt. Der Leser kann so abwägen, wie weit er den Vertreter bevollmächtigen will und ob er »Sicherungen« in Form von Beschränkungen oder Aufsichtspersonen (z.B. durch Doppelvollmacht) einrichten will. Im Bereich der Personenfürsorge verweist Winkler berechtigt auf die Notwendigkeit gesetzeskonformer und konkreter Formulierungen (§ 1906 BGB), zumal die Reichweite der Bevollmächtigung bei freiheitsentziehenden Maßnahmen nicht völlig geklärt ist und die Rechtsprechung für die nach § 1906 Abs. 2 BGB erforderliche Genehmigung keine abstrakten Hinweise anerkennt. Wegen der Sensibilität dieser Eingriffe sollte die Vollmacht hier auch nicht (wie oft in Formulierungsmustern vorgeschlagen) in formularmäßiger Form erfolgen, weil daraus nicht erkennbar ist, ob sich der Vollmachtgeber der Konsequenz und Reichweite der Eingriffe bewusst war. Dem besonders schwierigen Bereich der Patientenverfügungen hat der Autor Rechnung getragen, indem er die verschiedenen Krankheitsstadien (infauste Prognose, Sterbevorgang, Wachkoma) erläutert und Formulierungsvorschläge auch für die Grundlagen (Motive) der darauf folgenden medizinischen Verfügungen unterbreitet. Ob allerdings eine Formulierung wie »einem Behandlungsabbruch … stehe ich daher kritisch gegenüber, will ihn aber nicht für alle Fälle ausschließen« hilfreich ist, kann bezweifelt werden. Dies insbesondere dann, wenn die nachfolgende medizinische Verfügung dazu im Widerspruch steht. Patientenverfügungen sollen ja gerade dazu dienen, den behandelnden Ärzten, dem Bevollmächtigten und dem Gericht klare Hinweise auf den Willen des Betroffenen zu geben, andernfalls tragen sie nicht zur Erleichterung der Entscheidungsfindung bei. Insgesamt ist die Schrift ein kompakter, gut lesbarer und verständlicher Beitrag zur praktischen Bewältigung der sehr komplexen Materie. Die beiliegende CD enthält die Mustertexte im Word- und im RTF-Format.

Prof. Dr. Ingo Fritsche, Fachhochschule für Rechtspflege NRW

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R e c h t s p re c h u n g 01 VERFASSUNGSRECHT  01.1 – 11/04

Verfassungswidrige Begrenzung der Arbeitsentgelte von DDRZusatz- und Sonderversorgten in staats-/systemnahen Funktionen BVerfG, Urteil vom 23. Juni 2004 – 1 BvL 3/98, 9/02 u. 2/03 GG Art. 3 Abs. 1; AAÜG § 6 Abs. 2 u. 3 Nr. 8 Zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des § 6 Abs. 2 und des § 6 Abs. 3 Nr. 8 AAÜG idF des AAÜG-ÄndG von 1996 und des 2. AAÜG-ÄndG von 2001 über die Berücksichtigung von Arbeitsentgelten oder Arbeitseinkommen zusatz- und sonderversorgter Personen in der gesetzlichen Rentenversicherung (im Anschluss an BVerfGE 100, 59 = NJ 1999, 373). Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahren betreffen die Überleitung von Renten aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung des wiedervereinigten Deutschlands. Gegenstand der drei Vorlagen des SG Halle und des SG Berlin ist die Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, bei Angehörigen bestimmter Versorgungssysteme und bei Inhabern bestimmter Funktionen ab einer bestimmten Gehaltsstufe den Pflichtbeitragszeiten der Rentenversicherung nicht das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt oder -einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze, sondern das durchschnittl. Jahreseinkommen der in der DDR erwerbstätigen Bevölkerung zugrunde zu legen. Bei den Kl. der Ausgangsverfahren handelt es sich um a) den Direktor des VEB Militärkartographischer Dienst (1969-1990), der als Oberst der Sonderversorgung der Angehörigen der NVA angehörte (1 BvL 3/98), b) den Präsidenten des Amtes für Erfindungs- und Patentwesen der DDR (1961-1990) (1 BvL 9/02), Die Kl. zu a) u. b) waren seit 1971 Mitglied der FZR für hauptamtliche Mitarbeiter des Staatsapparats der DDR. c) den Leiter der Abt. Planung und Bilanzierung im Ministerium für Bauwesen der DDR (1967-1990) (1 BvL 2/03).

Das Anspruchs- und AnwartschaftsüberführungsG (AAÜG) machte zahlreiche Ausnahmen nach der jeweiligen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Versorgungssystem (»bereichsspezifisch«) oder nach Zugehörigkeit zu bestimmten Funktionsebenen (»funktionsspezifisch«) oder sowohl »bereichsspezifisch« als auch »funktionsspezifisch«. Die dafür maßgeblichen Vorschriften des § 6 Abs. 2 (iVm den Anl. 4, 5 u. 8) und des § 6 Abs. 3 Nr. 7 AAÜG idF des Rü-ErgG v. 24.6.1993 (BGBl. I S. 1038) erklärte das BVerfG mit Urt. v. 28.4.1999 (BVerfGE 100, 59 = NJ 1999, 373) für die Zeit nach dem 1.7.1993 für verfassungswidrig; der Gesetzgeber wurde verpflichtet, bis zum 30.6.2001 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Noch vor dieser Entscheidung trat das AAÜG-ÄndG v. 11.11.1996 (BGBl. I S. 1674) in Kraft, das die Vorschriften des § 6 Abs. 2 u. 3 für Bezugszeiten ab dem 1.1.1997 zugunsten der Betroffenen änderte. Das AAÜG-ÄndG war nicht Gegenstand des BVerfG-Urteils v. 28.4.1999, ist aber nach Auffassung der vorlegenden Gerichte ebenfalls verfassungswidrig. Abgesehen von den hauptberuflichen Mitarbeitern des MfS/ AfNS sind nach diesem Gesetz von Kürzungen betroffen nur noch Angehörige »staats- oder systemnaher« Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in einkommensmäßig privilegierter Stellung und Personen in »staats- oder systemnahen« Funktionen mit einer ebenfalls einkommensmäßig besonders hervorgehobenen Stellung. Das Ziel, überhöhte Leistungen abzubauen, soll dadurch erreicht werden, dass das Einkommen, ab dem eine Entgeltbegrenzung stattfindet, durch die Gehaltsstufe E 3 (ab 1985: Gehaltsstufe 12) einschl. Aufwandsentschädigung bestimmt wird.

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Ist diese Gehaltsstufe erreicht oder überschritten, so wird als Arbeitsentgelt das durchschnittl. Jahresarbeitseinkommen der Beschäftigten in der DDR der Rentenberechnung zugrunde gelegt. Mit dem 2. AAÜG-ÄndG v. 27.7.2001 (BGBl. I S. 1939) sollte dem o.g. Urteil und weiteren Entscheidungen des BVerfG Rechnung getragen werden. Die Neuregelung sieht vor, dass die zum 1.1.1997 durch das AAÜG-ÄndG von 1996 erfolgte Anhebung der Entgeltbegrenzungsstufe rückwirkend zum 1.7.1993 in Kraft tritt. Die entsprechende Vorschrift des Art. 13 Abs. 7 des 2. AAÜGÄndG lautet: Mit Wirkung vom 1.7.1993 treten § 6 Abs. 2 und 3 sowie Anl. 4 und 5 des AAÜG idF des AAÜG-ÄndG v. 11.11.1996 für Personen in Kraft, für die am 28.4.1999 ein Überführungsbescheid eines Versorgungsträgers noch nicht bindend war; Abs. 8 bleibt unberührt. Dies gilt nicht für Personen, die in den Geltungsbereich der Anl. 7 zu § 6 Abs. 4 des AAÜG idF des Rentenüberleitungs-ErgänzungsG v. 24.6.1993 (BGBl. I S. 1038) fallen.

Das BVerfG hat die zur Prüfung vorgelegten Regelungen für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt. Aus den Entscheidungsgründen: C. § 6 Abs. 2 (iVm den Anl. 4 u. 5) und § 6 Abs. 3 Nr. 8 AAÜG idF des AAÜG-ÄndG von 1996 und des 2. AAÜG-ÄndG von 2001 verstoßen gegen Art. 3 Abs. 1 GG. I. 1. a) Art. 3 Abs. 1 GG, der hier vor allem als Prüfungsmaßstab heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 100, 59 [90]), gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfG, aaO). Bei der Ordnung von Massenerscheinungen wie im vorliegenden Fall ist der Gesetzgeber berechtigt, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu verwenden, ohne allein wegen der damit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Typisierung bedeutet, bestimmte in wesentlichen Elementen gleich geartete Lebenssachverhalte normativ zusammenzufassen. Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt sind, können generalisierend vernachlässigt werden. Begünstigungen oder Belastungen können in einer gewissen Bandbreite zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung nach oben und unten pauschalierend bestimmt werden. Allerdings liegt eine typisierende Gruppenbildung nur vor, wenn die tatsächlichen Anknüpfungspunkte im Normzweck angelegt sind. Sie ist außerdem nur zulässig, wenn die mit ihr verbundenen Härten nicht besonders schwer wiegen und nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären.

b) Diese allgemeinen Grundsätze hat das BVerfG (BVerfGE 100, 59 [90 ff.]) in Bezug auf die Entgeltbegrenzungen in § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG idF von 1993 bereits konkretisiert. Danach sind die Zugehörigkeit zu bestimmten Versorgungssystemen und – als zusätzliches Kriterium – die Höhe der Arbeitsentgelte nicht von vornherein ungeeignet, den Tatbestand eines überhöhten Entgelts zu erfassen. Die Umsetzung einer solchen Regelung muss aber – um den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG zu genügen – auf Tatsachen beruhen, die die Annahme rechtfertigen, dass überhöhte Arbeitsentgelte gerade an die vom Gesetz erfassten Gruppen gezahlt worden sind oder dass Entgelte ab den vom Gesetz festgelegten Grenzen als überhöht angesehen werden müssen. Allein schon mit der Überführung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung sind neben hohen auch überhöhte Rentenansprüche auf das durch die Beitragsbemessungsgrenze vorgegebene Maß vermindert worden. Einer darüber hinausgehenden zusätzlichen Bestimmung von Über-

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höhungstatbeständen müssen Kriterien zugrunde gelegt werden, die in den tatsächlichen Verhältnissen eine Entsprechung finden. Das BVerfG hat insoweit beanstandet, dass der Gesetzgeber für die Angehörigen der in § 6 Abs. 2 AAÜG genannten Versorgungssysteme generell angenommen hat, sie hätten in der DDR ab einer bestimmten Schwelle überhöhte Arbeitsentgelte bezogen, ohne dass Zahlen über Lohn- und Gehaltsstrukturen in der DDR, über das Einkommensgefüge in den einschlägigen Beschäftigungsbereichen und über das Verhältnis der dort erzielten Verdienste zum volkswirtschaftlichen Mittelwert vorlagen, die darüber hätten Auskunft geben können. Der Gesetzgeber habe auch nicht für Arbeitsleistungen, die der DDR politisch nützten, den Rentenbezug ausschließen wollen. Vielmehr sei sein gesetzgeberisches Ziel gewesen, lediglich Versorgungszusagen, denen keine Arbeitsleistung entsprach, als allein politisch motivierten die rentenrechtliche Anerkennung zu versagen. Aus der bloßen »Staatsund Systemnähe« der Berufstätigkeit folge nicht, dass man diesen Personengruppen durchgängig Entgelte gezahlt habe, die nicht durch Arbeit und Leistung gerechtfertigt gewesen seien (vgl. BVerfGE 100, 59 [95]). Für die Entgeltbegrenzung müsse ein sachgerechter Kürzungsmechanismus gewählt werden. Die festgesetzten Grenzwerte müssten sich auf Erkenntnisse zur wirklichen Verteilung überhöhter Arbeitsverdienste im Bereich zwischen dem Durchschnittsentgelt und Entgelten an der Beitragsbemessungsgrenze stützen können. In der DDR erzielte hohe Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen seien nicht notwendig auch »überhöhte« Entgelte, deren rentenrechtliche Anerkennung der Gesetzgeber ohne weitere Nachprüfung versagen darf. An diesen Grundsätzen ist festzuhalten.

2. Die hier zur Prüfung gestellten Vorschriften des § 6 Abs. 2 u. 3 Nr. 8 AAÜG idF von 1996 u. 2001 führen zu einer Benachteiligung von Personengruppen, zu denen die Kl. der Ausgangsverfahren gehören. Diese Benachteiligung trifft insbes. gegenüber Versicherten mit Anspruch auf eine Zusatzversorgung zu, deren Versorgungssystem nicht von § 6 Abs. 2 u. 3 Nr. 8 AAÜG erfasst wird, sowie gegenüber Versicherten, deren Versorgungssystem zwar erfasst wird, deren Entgelte jedoch die sog. E 3-Grenze nicht erreichen. Die von diesen beiden Personengruppen tatsächlich erzielten Entgelte werden bei der Rentenberechnung nur durch die Beitragsbemessungsgrenze gekappt (vgl. BVerfGE 100, 59 [90 f.]). Bis zum Erreichen dieser Grenze führt ein höheres Arbeitseinkommen bei ihnen auch zu einer höheren Altersrente, während bei der Gruppe der Kl. der Ausgangsverfahren immer eine Absenkung der berücksichtigungsfähigen Arbeitsverdienste auf ein Durchschnittseinkommen erfolgt. 3. Den unter C. I. 1. dargestellten Maßstäben wird die Neuregelung in § 6 Abs. 2 u. 3 Nr. 8 AAÜG nicht gerecht. Mit ihr ist bei gleich bleibendem Mechanismus ohne weitere tatsächliche Erkenntnisse lediglich die benachteiligte Gruppe verkleinert, der Kürzungsmechanismus allerdings vergröbert worden. Das vom Gesetzgeber nach wie vor mit der Begrenzungsregelung entsprechend dem EinigungsV (…) verfolgte Ziel, Versorgungszusagen, denen keine entsprechende Leistung zugrunde lag und die politisch motiviert waren, die Anerkennung zu versagen (…), ist zwar einsichtig und legitim (vgl. BVerfGE 100, 59 [92 f.]). Die zur Prüfung gestellten Regelungen verfehlen jedoch ebenfalls das angestrebte Ziel, indem sie nach wie vor unzulässig typisieren. Es ist nicht erkennbar, dass die dargestellte unterschiedliche Behandlung der Angehörigen von Zusatz- und Sonderversorgungssystemen auf Tatsachen beruht, welche die Annahme rechtfertigen, dass überhöhte Arbeitsentgelte gerade an die von § 6 Abs. 2 AAÜG erfassten Personengruppen gezahlt wurden. Dies gilt auch für die in § 6 Abs. 3 Nr. 8 AAÜG vorgenommene Anknüpfung der Differenzierung an Funktionsebenen, die Gegenstand der Vorlage 1 BvL 9/02 ist. a) Auch den hier zu prüfenden Regelungen liegen weiterhin keine konkreten Erkenntnisse darüber zugrunde, ob und ggf. in welchen Bereichen in der DDR überhöhte Entgelte gezahlt wurden. Den Gesetzgebungsmaterialien lassen sich jedenfalls solche Erkenntnisse nicht entnehmen. Zahlen über Lohn- und Gehalts-

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strukturen in der DDR, insbes. über das Einkommensgefüge der hier betroffenen Beschäftigungsbereiche und dessen Verhältnis zum Durchschnittseinkommen, sind nach wie vor nicht verfügbar. Es genügt nicht den aus Art. 3 Abs. 1 GG herzuleitenden Anforderungen an eine verfassungsgemäße Regelung der Entgeltbegrenzung, wenn der Gesetzgeber die in § 6 Abs. 2 AAÜG genannte Personengruppe unverändert lässt und lediglich dadurch einengt, dass eine höhere Einkommensgrenze gewählt und auf diese Weise innerhalb dieser Gruppe die Anzahl der von der Kürzung der berücksichtigungsfähigen Entgelte Betroffenen verringert wird. Hohe Arbeitsverdienste sind nicht notwendig überhöhte Arbeitsverdienste (vgl. BVerfGE 100, 59 [97]). Der Gesetzgeber hat in den zur Prüfung gestellten Regelungen zwei Kriterien, die nach der Entscheidung des BVerfG v. 28.4.1999 unzulässig differenzieren (BVerfGE 100, 59 [93 ff.]), nicht in verfassungsgemäßer Weise abgewandelt, sondern lediglich eines der beiden – die Höhe des Arbeitsentgelts – in der Wirkung abgemildert. Die Abgrenzung der Berechtigten nach ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Zusatzversorgungssystemen ist unverändert geblieben. Bei den Zusatzversorgungssystemen, die weiterhin Kürzungen bei den Betroffenen auslösen, ist die maßgebliche Einkommensgrenze zwar großzügiger festgelegt, beruht aber nicht auf sachgemäßen Erwägungen. Auch für die nach der Neuregelung maßgebliche Gehaltsstufe E 3 (ab 1985: Gehaltsstufe 12) bleibt offen, wie diese Anknüpfung zu begründen ist. Der Gesetzgeber, der bei Erreichen dieser Gehaltsstufe die Kürzung in § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG einsetzen lässt, kommt der Wirklichkeit nicht näher, weil auch diese Anknüpfung nicht von Erkenntnissen über eine strukturelle Erhöhung von Gehältern getragen wird. Die unzulässige Gleichstellung von »hohem Einkommen« und »überhöhtem Einkommen« bestimmt auch das Konzept der hier zu prüfenden Vorschriften (…). … b) Die Unzulässigkeit der Typisierung ergibt sich nicht nur aus der Wahl der in die Rentenkürzung einbezogenen Berufsgruppen und der Wahl der maßgeblichen Entgelthöhe, sondern umgekehrt auch daraus, welche Berufsgruppen nicht in die Kürzung von Versorgungsrenten einbezogen worden sind. Dies zeigt ein Blick in die Anl. 1 u. 2 zum AAÜG. Es erschließt sich keineswegs, weshalb – ohne Betrachtung der individuellen beruflichen Biographien – die Kürzung der Rente eines hauptamtlichen Mitarbeiters der Gesellschaft für Sport und Technik oder eines hauptamtlichen Mitarbeiters gesellschaftlicher Organisationen (Versorgungssysteme nach Nr. 20 u. 21 der Anl. 1) sowie von Angehörigen der Feuerwehr (Versorgungssystem nach Nr. 2 der Anl. 2) politisch privilegierte Einkommen betreffen, eine Entgeltbegrenzung aber bspw. nicht bei Angehörigen der technischen Intelligenz greifen soll (Versorgungssystem nach Nr. 1 der Anl. 1). c) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die hier zu prüfenden Regelungen ergeben sich zudem daraus, dass der Gesetzgeber die im Laufe der Zeit erfolgten Veränderungen im Einkommensgefüge der DDR nicht hinreichend berücksichtigt hat. So wurde 1950 in der Gehaltsstufe E 3 das 9-fache des Durchschnitts, 1989 aber nur noch ein den Durchschnitt des Einkommens wesentlich weniger übersteigendes Gehalt (das 1,6-fache des Durchschnittsverdienstes; siehe BR-Drucks. 209/96, S. 11, u. Vorlage 1 BvL 2/03; hingegen Vorlage 1 BvL 3/98: noch das 2,5-fache) gezahlt. Trotz einer so deutlichen Verschiebung der Einkommensverhältnisse stellt der Gesetzgeber durchgängig auf eine einheitliche, feste Gehaltsstufe ab. Bereits durch die Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung sind hohe und möglicherweise überhöhte Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen unterschiedslos dadurch begrenzt worden, dass eine Berücksichtigung nur noch bis zur allgemeinen Beitragsbemessungsgrenze möglich ist. Die Beitrags-

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R e c h t s p re c h u n g bemessungsgrenze entspricht dabei etwa dem 1,8-fachen des erzielten Durchschnittsverdienstes. Auch die von § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG in der hier zu prüfenden Fassung betroffenen Personen würden hierdurch erfasst, gäbe es diese besonderen Begrenzungsvorschriften nicht. Da die Gehaltsstufe E 3 in der DDR … im Vergleich zum Durchschnittseinkommen einen erheblichen Abstieg zu verzeichnen hatte, ist angesichts des Fehlens von fundierten Informationen zum Einkommensgefüge jedenfalls die über Jahre unveränderte Anknüpfung an die Gehaltsstufe E 3, deren Gehaltsvorteil von 1950 bis 1989 erheblich an Bedeutung verlor, nicht sachlich nachvollziehbar. Denn hat der Gesetzgeber, weil ihm solche Informationen nicht zur Verfügung stehen, an die relative Höhe des Einkommens anknüpfen wollen, dann wäre es konsequent gewesen, hierfür einen relativen Wert zu wählen, der der Entwicklung der Durchschnittseinkommen folgt. d) Schließlich hat der Gesetzgeber die rentenrechtliche Berücksichtigung altersabhängiger Einkommenselemente nicht im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 GG geregelt. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 AAÜG wird auch der für das Dienstalter festgelegte Vergütungsteil in das für die Kürzung maßgebliche Entgelt einbezogen. Weshalb eine altersbedingte Steigerung des Arbeitsentgelts in politischer Begünstigung begründet sein soll, ist jedoch nicht erkennbar. Näher liegt die Vermutung, dass erst bei Erreichen einer relevanten Einkommensgrenze ohne Berücksichtigung der Komponente »Vergütung für das Dienstalter« eine Privilegierung beim Arbeitsentgelt vorgelegen hat, die durch eine besondere Systemnähe bewirkt worden ist. Steigt dagegen das Arbeitsentgelt allein deshalb, weil eine höhere Altersstufe erreicht ist, lässt sich daraus gerade nicht auf eine nunmehr überhöhte Entlohnung wegen besonderer Systemnähe schließen, da sich an der Tätigkeit hierdurch nichts ändert. … e) Verfassungsrechtlich unzulässig ist darüber hinaus auch der vom Gesetzgeber gewählte Kürzungsmechanismus. Er verfehlt schon im Ansatz die Merkmale einer Typisierung oder Pauschalierung. Indem die Regelung der Begrenzung zwar erst ab einem in den 50er und 60er-Jahren vergleichsweise sehr hohen und später relativ hohen Einkommen greift, dann aber alle erfassten Arbeitsentgelte »fallbeilartig« auf das Durchschnittseinkommen kürzt, bleiben die Grundsätze unbeachtet, die für Regelungen solcher Art im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG maßgeblich sind (vgl. BVerfGE 100, 59 [97]). Überschreitet das Einkommen eines Betroffenen eine bestimmte Grenze, fällt er weit hinter den Rentenbetrag zurück, der ihm zuvor für seine niedrigeren Entgelte zugeordnet war. Das gilt sogar dann, wenn mit der Einkommenserhöhung keine Funktionsänderung eingetreten ist. Möglichkeiten, den Besonderheiten des Einzelfalls gerecht zu werden, sieht das Gesetz nicht vor. Der Gesetzgeber hat damit einen Weg gewählt, der auch unter Berücksichtigung seiner besonderen Gestaltungsfreiheit bei der Neuordnung der sozialrechtlichen Verhältnisse in der Folge der Wiedervereinigung nicht mehr vertretbar ist. Vergleicht man die hier in Frage stehende Regelung mit der verfassungsrechtlich beanstandeten Vorgängerregelung, die eine progressive Absenkung des berücksichtigungsfähigen Entgelts vorsah (vgl. BVerfGE 100, 59 [71 f., 97]), hat der Gesetzgeber den Typisierungsfehler noch verstärkt. Dadurch setzt sich der Gesetzgeber erst recht in Widerspruch zu seiner eigenen Annahme, dass jedenfalls bis zum Erreichen der Beitragsbemessungsgrenze (vgl. § 6 Abs. 1 AAÜG) in keinem der von § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG »verschonten« Versorgungssysteme eine Entgeltbegrenzung veranlasst ist. Denn wenn in den nicht erfassten Versorgungssystemen der Einkommensanteil zwischen dem Durchschnittseinkommen und der Beitragsbemessungsgrenze nicht als überhöht gilt, ist schwer einzusehen, weshalb dies in den ausgewählten Versorgungssystemen der Fall sein soll.

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f) Der Gesetzgeber kann sich zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der von ihm getroffenen Regelungen nicht darauf berufen, die Opfer des SED-Regimes erhielten auf der Grundlage des Ges. über die berufliche Rehabilitierung oft nur eine sehr geringe Altersversorgung; deswegen seien die Kürzungen in § 6 Abs. 2 u. 3 AAÜG ein Gebot der Gerechtigkeit und lägen im Interesse der politischen Akzeptanz. Damit wird ein Zusammenhang hergestellt, der verfassungsrechtlich zur Rechtfertigung der hier festgestellten Ungleichbehandlung nicht trägt. Es ist Sache des Gesetzgebers, Änderungen in der Altersversorgung der Opfer des SED-Regimes herbeizuführen, wenn sich im Zuge der Rentenüberleitung eine Rechtslage ergibt, die im Verhältnis zu den Menschen, die in der DDR berufliches Unrecht erfahren haben, als nicht hinnehmbar angesehen wird. Unausgewogenheit in der Altersversorgung kann nicht dazu gereichen, die Beibehaltung einer gleichheitswidrigen Rentenkürzung zu legitimieren. Der Gesetzgeber kann sich zur Rechtfertigung seiner Regelung auch nicht darauf berufen, das BVerfG habe im Falle der rentenrechtlichen Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaften aus dem Sonderversorgungssystem der Angehörigen des MfS/AfNS eine Pauschalierung für verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen, die er nun lediglich auch in anderen Versorgungssystemen auf die Einkommen ab der Gehaltsstufe E 3 zur Anwendung bringe. Das BVerfG hat dem Gesetzgeber Pauschalierungsmöglichkeiten bei der Ausgestaltung der Kürzungsregelung in § 7 AAÜG aus Gründen eingeräumt, die in den ganz spezifischen Verhältnissen des von dieser Vorschrift erfassten Bereichs begründet sind (vgl. BVerfGE 100, 138 [178 bis 180] = NJ 1999, 380).

4. Steht somit schon die in § 6 Abs. 2 Satz 1 AAÜG in der hier zu prüfenden Fassung getroffene Grundentscheidung mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Einklang, bedarf es keiner Prüfung mehr, ob es im Hinblick auf das Ziel des Gesetzgebers, privilegierte Entgeltbestandteile rentenrechtlich nicht wirksam werden zu lassen, mit dem Gleichheitssatz vereinbar ist, wenn die Gewährung einer Aufwandsentschädigung bei der Ermittlung des nach Anl. 4 jeweils maßgebenden Betrags Berücksichtigung findet, die Gewährung einer Zulage dagegen nicht (§ 6 Abs. 2 Satz 2 u. 3 AAÜG). … II. Da die überprüften Vorschriften schon wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig sind, erübrigt sich eine Prüfung anhand des Maßstabs des Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. aber BVerfGE 100, 59 [97 f., 101]). D. I. Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschriften zu beseitigen, sind diese nicht für nichtig, sondern lediglich für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar zu erklären. Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich verpflichtet, bis zum 30.6.2005 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Diese Verpflichtung erstreckt sich auf den gesamten von der Unvereinbarerklärung betroffenen Zeitraum. Kommt es bis zu diesem Zeitpunkt zu keiner verfassungsgemäßen Neuregelung, tritt Nichtigkeit der beanstandeten Vorschriften ein. II. Die Unvereinbarerklärung führt dazu, dass § 6 Abs. 2 und § 6 Abs. 3 Nr. 8 AAÜG von Gerichten und Verwaltungsbehörden nicht mehr angewendet werden dürfen. Die Gerichte müssen die Verfahren ausgesetzt lassen oder aussetzen, bis der Gesetzgeber die verfassungswidrigen Vorschriften durch mit der Verfassung vereinbare Regelungen ersetzt hat oder Nichtigkeit entsprechend D. I. eintritt. III. Bescheide, durch die die verfassungswidrigen Vorschriften rechtsverbindlich angewandt wurden und die im Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung bereits bestandskräftig sind, bleiben für die Zeit vor der Bekanntgabe unberührt (vgl. BVerfGE 104, 126 [150] = NJ 2002, 197). Es ist dem Gesetzgeber aber unbenommen, im Zusammenhang mit dem Gegenstand der vorliegenden Entscheidung eine andere Regelung zu treffen. Er kann die erforderliche Neuregelung auch auf bereits bestandskräftige Bescheide erstrecken; von Verfassungs wegen verpflichtet ist er hierzu nicht.

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Anmerkung:

 01.2 – 11/04

Rechtsanwältin Adelhaid Brandt, Berlin

Zulässige Begrenzung der Arbeitsentgelte von Angehörigen des Sonderversorgungssystems des MfS/AfNS

Das Urteil des BVerfG ist von den etwa 12.000 Betroffenen (so SZ v. 8.7.2004; lt. Berliner Zeitung v. 9.7. sogar bis zu 25.000) seit langem erwartet worden; immerhin hatte das SG Halle seinen Vorlagebeschluss schon im Febr. 1998 gefasst. Aber der Erste Senat, der die Problematik bereits für 2003 auf die Agenda der zur Entscheidung anstehenden Verfahren gesetzt hatte, ließ sich Zeit. Mit Beschl. v. 17.9.2003 erklärte er dann zunächst die Selbstablehnung des Präsidenten Papier für begründet. Dieser war schon in den Verfahren 1 BvL 22/95 u. 34/95 wegen seiner gutachterlichen Äußerungen – im Gegensatz zur späteren Entscheidung des Ersten Senats (NJ 1999, 373) hielt er die angegriffenen Regelungen für verfassungskonform – von einer Mitwirkung entbunden worden. Die jetzige Entscheidung des BVerfG kann nicht überraschen, denn der Erste Senat setzt damit seine bish.Rspr. zum Dauerstreitpunkt »Rentenüberleitung« fort. Erstaunlich ist aber die überaus deutliche Kritik, die er am Bundesgesetzgeber in Bezug auf die mit den AAÜG-ÄndG von 1996 u. 2001 (siehe dazu Heller, NJ 2001, 350 ff.) geschaffenen und nun als verfassungswidrig eingestuften Regelungen geübt hat. So wird dem Gesetzgeber zu Recht vorgeworfen, dass er trotz der verfassungsrechtlich beanstandeten Vorgängerregelung (BVerfGE 100, 59 = NJ 1999, 373; dazu Will, NJ 1999, 343 ff.) »den Typisierungsfehler noch verstärkt« und die Arbeitsentgelte der Betroffenen »fallbeilartig« auf das Durchschnittseinkommen gekürzt hat. Sind diese damit doch im Ergebnis schlechter gestellt als diejenigen Beschäftigten, die in der DDR zwar ein überdurchschnittliches Einkommen erzielten, damit aber unter der magischen E 3-Grenze (seit 1985: 31.800 M jährl.) blieben. Zugrunde lag dieser gesetzgeberischen »Konstruktion« ganz offensichtlich die Auffassung, dass die geleistete Arbeit in der DDR nicht dem gezahlten Entgelt entsprach, zumindest dann nicht, wenn es das Durchschnittseinkommen nicht unerheblich überstieg. Mit anderen Worten: Je höher ein Mitglied bestimmter Versorgungssysteme alimentiert wurde, desto systemnaher war es und desto geringer wurde der Wert der geleisteten Arbeit eingeschätzt. Ein »juristischer Rasenmäher« ging also ab einer gewissen Höhe pauschal über die erzielten Entgelte hinweg (so Mutz, DAngVers 1999, 512). Im Falle des Kl. im Vorlageverfahren 1 BvL 9/02 führte das dazu, dass der promovierte und 29 Jahre lang als Präsident des Amtes für Erfindungs- und Patentwesen der DDR tätige Jurist mit einem Jahreseinkommen von ca. 42.000 M einschl. Aufwandsentschädigung – gemessen an heutigen Verhältnissen wahrlich kein fürstliches Salär! – bei der Rentenberechnung vergleichsweise einem Maurer oder einer Verkäuferin gleichgestellt wurde. Ein Abteilungsleiter dieses Amtes, der mit seinem Einkommen knapp unterhalb der E 3-Grenze blieb, war von dem Kürzungsmechanismus des § 6 Abs. 2 AAÜG hingegen nicht betroffen. Dieser Ungleichbehandlung hat das BVerfG nun einen Riegel vorgeschoben und den Gesetzgeber beauflagt, bis zum 30.6.2005 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Zugleich verwies es darauf, dass es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, die Neuregelung auch auf bereits bestandskräftig gewordene Bescheide zu erstrecken. Damit dürfte angesichts leerer Haushaltskassen allerdings kaum zu rechnen sein. Denn die ostdeutschen Länder fordern – bisher allerdings erfolglos – immer wieder, dass der Bund bei der Zahlung von DDR-Zusatzrenten einen höheren Anteil als nur ein Drittel der Kosten übernehmen soll. Ohne Not, sprich: ohne verbindliche Vorgabe des höchsten Gerichts, wird man eine solche Empfehlung daher wohl schnell in Vergessenheit geraten lassen.

Neue Justiz 11/2004

BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2004 – 1 BvR 1070/02 GG Art. 3 Abs. 1, 14 Abs. 1; AAÜG § 7 Abs. 1 Satz 1 Die bei der Rentenüberleitung erfolgte Berücksichtigung der Arbeitsentgelte von Angehörigen des Sonderversorgungssystems des MfS/AfNS lediglich bis zur Höhe der jeweiligen Durchschnittsentgelte im Beitrittsgebiet ist verfassungsrechtlich zulässig. Zu einer weiter gehenden Berücksichtigung der Arbeitsentgelte ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verpflichtet (wie BVerfGE 100, 138 = NJ 1999, 380). (Leitsatz der Redaktion) Anm. d. Redaktion: Der Beschwerdef., von 1976-1988 Angehöriger des MfS, hatte mit seiner gegen sozialgerichtliche Urteile erhobenen Verfassungsbeschwerde unter Verweis auf im Berufungsverfahren vorgelegte Gutachten gerügt, dass das Urteil des BVerfG v. 28.4.1999 (NJ 1999, 380) auf einer falschen Tatsachengrundlage ergangen und daher zu korrigieren sei. Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, da die Gutachten keine sachlich und zeitlich umfassende, auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse erarbeitete Analyse des Versorgungssystems im Bereich des MfS/AfNS beinhalten.

 01.3 – 11/04

Fraktionsmindeststärke in kommunalen Vertretungen und einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13. Juli 2004 – 11/04 LVerf. M-V Art. 5 Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 1; KommVerf. M-V §§ 23 Abs. 5, 105 Abs. 4 idF des 5. u. 6. ÄndG; LVerfGG § 29 Abs. 1 1. Bei dem Erlass einer einstweiligen Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Gesetzes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag ist insgesamt unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Es ist vielmehr eine Folgenabwägung anzustellen. 2. Die fraktionslosen Mitgliedern kommunaler Vertretungen vorenthaltenen Rechte und finanziellen Mittel überwiegen als Nachteile die den Städten und Landkreisen bis zur Entscheidung in der Hauptsache entstehenden finanziellen Mehrbelastungen und funktionellen Beeinträchtigungen. (Leitsätze des Bearbeiters) Problemstellung: Gegenstand des Verfahrens war ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens, in dem sich ein Mitglied einer Bürgerschaft (Stadtvertreter) und sechs Mitglieder von Kreistagen gegen die Anhebung der Fraktionsmindeststärke in Stadtvertretungen (§ 23 Abs. 5) und Kreistagen (§ 105 Abs. 4) durch das 5. u. 6. Ges. zur Änderung der Kommunalverfassung (GVOBl. M-V 2004 S. 61 u. 179) wenden. Danach muss eine Fraktion in Städten mit mehr als 25 Stadtvertretern aus mind. drei und in Städten mit mehr als 37 Stadtvertretern aus mind. vier Mitgliedern bestehen. In Kreistagen beträgt die Fraktionsstärke mind. vier Mitglieder (zu Hintergrund und Entstehungsgeschichte der Regelungen vgl. Meyer, LKV 2004, 241, 244). Die Beschwerdef. machen geltend, die Anhebung der Fraktionsmindeststärke in ihrem Fall von zwei Mitgliedern auf nunmehr vier Mitglieder verwehre es ihnen, sich mit Beginn der neuen Wahlperiode aus eigener Kraft zu einer Fraktion zusammenzuschließen. Sie sehen darin einen Verstoß gegen den Gleichbehand-

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R e c h t s p re c h u n g lungsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3 LV iVm Art. 3 Abs. 1 GG), da die Anhebung der Fraktionsmindeststärke gegenüber Kommunalvertretern anderer Parteien zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung führe, die nicht mit der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen begründet werden könne. Darüber hinaus bewirke die Anhebung eine Ungleichbehandlung zwischen den einzelnen Kommunalvertretungen, da die Bildung einer Fraktion je nach Anzahl der Kommunalvertreter zwischen 7,5 % und 10,3 % der Mitglieder einer Kommunalvertretung erfordere. Der Antrag hatte Erfolg. Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Gegen die Zulässigkeit des Antrags auf einstweilige Anordnung hegt das LVerfG keine Bedenken. Die Beschwerdef. sind als gewählte Stadt- bzw. Kreistagsmitglieder beschwerdebefugt, da sie selbst, unmittelbar und gegenwärtig durch die angegriffenen Regelungen betroffen sind. Danach sind sie gehindert, sich aus eigener Kraft zu Fraktionen zusammenzuschließen. Eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erscheint nicht ausgeschlossen. Der Antrag ist auch begründet. Nach § 29 Abs. 1 LVerfGG kann das LVerfG einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum Gemeinwohl dringend geboten ist. Das LVerfG folgt der Rspr. des BVerfG (BVerfGE 81, 53, 54; 83, 162, 171; vgl. auch LVerfG M-V, NordÖR 2002, 452), wonach bei dem Erlass einer einstweiligen Anordnung die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Gesetzes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben haben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag ist insgesamt unzulässig oder offensichtlich unbegründet. I.d.R. wird eine Folgenabwägung angestellt, bei der, wenn es um die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes geht, ein besonders strenger Maßstab anzulegen ist. Ein Gesetz darf danach vorläufig nur dann außer Kraft gesetzt werden, wenn die Nachteile, die mit seinem In-Kraft-Treten bei späterer Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit verbunden wären, in Ausmaß und Schwere die Nachteile deutlich überwiegen, die entstehen würden, wenn die angegriffene Regelung vorläufig außer Anwendung gesetzt würde, sie sich aber später als verfassungsgemäß erwiese. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes hält das LVerfG unter Hinweis auf die Rechtslage in anderen Bundesländern, die geringere Anforderungen an die Fraktionsbildung in den Kommunalvertretungen stellen, für möglich. Da es sonach den Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens als offen ansieht, tritt das LVerfG in eine Folgenabwägung ein. Es stellt besonders die Rechte heraus, welche die Beschwerdef. bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr ausüben könnten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge. Dazu zählen das Recht zur unverzüglichen Einberufung einer Gemeindevertretungs- bzw. Kreistagssitzung (§§ 29 Abs. 2, 107 Abs. 2 KV M-V), der Anspruch auf Auskunft und Akteneinsicht (§§ 34 Abs. 2 u. 4, 112 Abs. 2 u. 4 KV M-V), die Verpflichtung des Bürgermeisters bzw. des Landrats zur Stellungnahme zu einem Tagesordnungspunkt (§§ 29 Abs. 7, 107 Abs. 7 KV M-V), der Antrag auf Verpflichtung zur namentlichen Abstimmung (§§ 31 Abs. 2, 109 Abs. 2 KV M-V) und das Vorschlagsrecht bei Verhältniswahlen (§§ 32 Abs. 2, 110 Abs. 2 KV M-V). Außerdem können den Fraktionen nach §§ 23 Abs. 5 Satz 4 und 105 Abs. 4 Satz 4 KV M-V weitere Rechte in den Geschäftsordnungen zuerkannt werden. Hinzu kommt die finanzielle Unterstützung der Fraktionsarbeit aufgrund § 174 Abs. 1 Nr. 6 KV M-V. Das LVerfG sieht die Beschwerdef. im Verhältnis zu den in Fraktionen organisierten

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Kommunalvertretern deshalb als besonders nachteilig betroffen an, weil die Neuregelungen gerade zum Beginn einer Wahlperiode, in der wichtige Weichenstellungen erfolgten, greifen würden. Die Möglichkeit der Beschwerdef., sich mit anderen fraktionslosen Mitgliedern oder Fraktionen nach §§ 32 Abs. 2 und 110 Abs. 2 KV M-V zusammenzuschließen, hält das Gericht nicht für erheblich, da es den Beschwerdef. gerade darum geht, aus eigener Kraft Fraktionen bilden zu können, ohne auf den guten Willen Dritter angewiesen zu sein. Das LVerfG erkennt auf der anderen Seite an, dass auch den Städten und Landkreisen infolge einer einstweiligen Anordnung, deren Ergebnis im Hauptsacheverfahren nicht bestätigt würde, Nachteile entstehen können, da insbes. ein zusätzlicher finanzieller Aufwand nicht auszuschließen ist. Es gewichtet jedoch die Nachteile, die den Beschwerdef. im Falle einer im Ergebnis unberechtigten Ablehnung ihres Antrags entstünden, deutlich schwerer als »die finanziellen Mehrbelastungen und etwaige funktionelle Beeinträchtigungen der Städte und Landkreise bei Erlass der einstweiligen Anordnung«. Kommentar: Das Ergebnis der Entscheidung ist nicht zu kritisieren; es lässt auch auf einen Erfolg der Beschwerdef. im Hauptsacheverfahren hoffen. Das LVerfG folgt nicht der Linie der Verwaltungsgerichte, die in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes primär die Erfolgsaussichten in der Hauptsache summarisch bewerten, sondern gibt – wie auch das BVerfG und Verfassungsgerichte anderer Länder – einer isolierten Interessen- und Folgenabwägung den Vorzug, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet, was selten angenommen wird. Auch vorliegend war dies nicht der Fall. Obwohl man für die bei Eilentscheidungen unter Zeitdruck stehenden Verfassungsgerichte Verständnis aufbringen kann, wenn sie prinzipiell materiell-rechtliche Aussagen von z.T. weit reichender Bedeutung zu vermeiden suchen, stößt diese Rspr. aus verschiedenen Gründen zunehmend auf Kritik, insbes. weil die Abwägung ohne Rechtsmaßstab stattfindet, letztlich auf politischen Erwägungen beruht und sich von daher rechtlicher Kritik entzieht (vgl. nur Benda/Klein, Lehrb. des Verfassungsprozessrechts, 2. Aufl. 2001, Rn 1222 f.; Schlaich/Korioth, Das BVerfG, 6. Aufl. 2004, Rn 465 mwN). Der Kritik ist zuzugeben, dass es vorzugswürdig ist, sich bei der Entscheidung an dem im Streitfall anwendbaren Sachrecht zu orientieren, also zumindest den Versuch zu unternehmen, die vorläufige Regelung so nahe wie möglich am materiellen Recht zu platzieren. Die dogmatischen Bedenken wirken sich allerdings in der Praxis – jedenfalls in der Rspr. des BVerfG – nicht erheblich aus, wie aus der enormen Ergebnis-Konkordanz von einstweiligen Anordnungs- und Hauptsacheverfahren folgt (vgl. Berkemann, JZ 1993, 161, 167 ff.), was eine stillschweigende Einbeziehung des materiellen Rechts mehr als nahe legt. Die vorliegende Entscheidung kann als typischer Beleg dafür dienen, wie berechtigt die Kritik des Schrifttums ist. Gleichzeitig können ihr Hinweise auf eine gleichwohl vorgenommene, verdeckte materiell-rechtliche Prüfung entnommen werden. Für die Beliebigkeit der Argumentation bei der Interessen- und Folgenabwägung sei nur Folgendes angeführt: Das LVerfG listet alle Rechte, die ein fraktionsloser Kommunalvertreter im Verhältnis zu einem fraktionsangehörigen entbehren muss, akribisch auf bis hin zu Rechten, die nur potentiell entstehen können, wenn die Kommunalvertretungen dies in ihren Geschäftsordnungen beschließen. Die Argumente von Landtag und Landesregierung, wonach die für die politische Beteiligung in den

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Kommunen wesentlichen Rechte dem einzelnen Gemeindevertreter ohne Bindung an eine Fraktionsmitgliedschaft zustünden, räumt das Gericht dadurch aus, dass es sich in eine Gesamtschau »flüchtet«. Die Auffassung, diese Nachteile seien nur für eine relativ kurze Zeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen, wird mit gerade zu Beginn einer neuen Wahlperiode typischerweise erfolgenden wichtigen Weichenstellungen begründet, obwohl allgemein bekannt sein dürfte, dass vor allem neue Volksvertreter oftmals eine gehörige Zeit brauchen, sich in ihr neues Mandat einzufinden. Entsprechendes kann für neu zusammengesetzte Fraktionen gelten. Die den Kommunen durch den Erlass der einstweiligen Anordnung entstehenden Nachteile werden demgegenüber mit leichter Hand klein gerechnet. So wird der verhältnismäßig geringe Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache, der den Beschwerdef. nicht zum Nachteil gereichte, in Bezug auf die Kommunen dafür angeführt, dass evtl. zu Unrecht zu erbringende finanzielle Leistungen umso leichter hinnehmbar erscheinen. Nicht nachvollziehbar ist das Argument, das Hinzutreten weiterer kleinerer Fraktionen wirke sich i.d.R. kostenneutral aus, da die meisten Landkreise und Städte einen jährlichen Sockelbetrag je Fraktionsmitglied gewährten. Fehlt kleineren Gruppierungen der Fraktionsstatus, dann fällt zwangsläufig der Sockelbetrag weg. Der Hinweis des LVerfG, die Mandate seien auf entsprechende Verluste größerer Gruppierungen zurückzuführen, ändert daran nichts, da sich deren Sockelbetragssumme dadurch mindert. Trotz nicht durchweg überzeugender Argumentation ist das LVerfG allerdings – vermutlich infolge einer verdeckten materiellrechtlichen Prüfung – zu dem richtigen Ergebnis gelangt. Die Regelungen über die Voraussetzungen einer Fraktionsbildung stehen nicht im Belieben des Gesetzgebers. Vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes bedarf es triftiger sachlicher Gründe, die eine Ungleichbehandlung der aufgrund allgemeiner und gleicher Wahl (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG; zum parlamentsbezogenen Grundsatz der formellen Gleichstellung der Abgeordneten, der aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und nicht aus Satz 1 GG folgt, vgl. BVerfGE 84, 304, 324 f.) in ihr Amt Gekommenen zu rechtfertigen vermögen. Ein solcher Grund wird letztlich nur anzunehmen sein, wenn die Funktionsfähigkeit der Stadtvertretungen und Kreistage durch die Möglichkeit, auch bereits mit zwei Mandaten den Fraktionsstatus zu erhalten, wesentlich beeinträchtigt würde (Meyer, LKV 2004, 241, 244 mwN). Diesen Gesichtspunkt spricht das Gericht an drei Stellen an: Bei der Prüfung der Zulässigkeit des Hauptsacheverfahrens heißt es, eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erscheine u.a. deshalb möglich, weil in anderen Bundesländern geringere Anforderungen an die Fraktionsbildung in den Kommunalvertretungen gestellt würden. Die den Kommunalvertretungen drohenden Nachteile durch die vorübergehende Zulassung kleinerer Fraktionen werden mit dem Hinweis entkräftet, dass es sich nicht um wesentliche Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit handele. Schließlich werden am Ende der Entscheidung in einem Resümee der Folgenabwägung die Nachteile, die den Beschwerdef. im Falle einer Ablehnung der einstweiligen Anordnung entstünden, deutlich schwerer gewichtet als die finanziellen Mehrbelastungen und etwaige funktionelle Beeinträchtigungen der Städte und Landkreise bei Erlass der einstweiligen Anordnung. Das Gericht dürfte – wie die Formulierungen nahe legen – der Auffassung zuneigen, der Gesetzgeber habe sich mit der neuen Fraktionsmindestzahl nach oben vergriffen. Dies erscheint – in Übereinstimmung mit Meyer (aaO) – dem Rezensenten ebenso, weswegen das Ergebnis der Entscheidung (jedenfalls von ihm) nicht zu kritisieren ist. MinDgt Dr. Siegfried Jutzi, Justizministerium Rheinland-Pfalz

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02 BÜRGERLICHES RECHT  02.1 – 11/04

Kaufvertrag über GmbH-Geschäftsanteile und Gewinnverwendungsbeschluss zum Nachteil der Alt-Gesellschafter BGH, Urteil vom 30. Juni 2004 – VIII ZR 349/03 (OLG Rostock) GmbHG § 29 Abs. 2 a) Haben die Parteien in einem Kaufvertrag über GmbH-Geschäftsanteile vereinbart, dass der für einen bestimmten Stichtag festzustellende Gewinn der Gesellschaft dem Verkäufer zustehen soll, so ist es den Gesellschaftern im Regelfall verwehrt, gem. § 29 Abs. 2 GmbHG eine anderweitige Gewinnverwendung zu beschließen. b) Vereiteln die Gesellschafter durch einen Beschluss über eine anderweitige Gewinnverwendung den Gewinnauszahlungsanspruch des Anteilsverkäufers, so sind sie diesem gegenüber unter dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung zum Schadensersatz verpflichtet. Problemstellung: Die Kl. waren Gesellschafterinnen der G. GmbH, die sie 1993 gründeten. Am 27.12.1996 boten sie mit notarieller Urkunde den Bekl. den Abschluss eines Geschäftsanteilskaufvertrags über ihre GmbH-Geschäftsanteile an, der von den Bekl. mit notarieller Urkunde v. 30.12.1996 angenommen wurde. Bestandteil des Vertrags war die Regelung in § 5 Abs. 2: »Jeder Erwerber ist ab 1.1.1997 mit dem erworbenen Geschäftsanteil am Gewinn und Verlust beteiligt.« Einer der Bekl. war seit der Gründung der G. GmbH deren Geschäftsführer. Nach dem Jahresabschluss 1996 betrug der Gewinn der GmbH 129.892,21 DM. In der Gesellschafterversammlung am 14.11.1997 stellten die Bekl. den Gewinn in dieser Höhe fest und beschlossen, ihn zur Bildung einer Rücklage i.H.v. 136.000 DM zu verwenden. Zur Begründung verwiesen sie auf einen Investitionsbedarf der Gesellschaft. Die Kl. begehrten von den Bekl. die Zahlung eines Schadensersatzes wegen positiver Vertragsverletzung. Die Bekl. hätten entgegen dem Inhalt des Vertrags v. 27./30.12.1996 den festgestellten Gewinn nicht ausgeschüttet, sondern in eine Rücklage gebracht. Der Beschluss über die Verwendung des Gewinns als Rücklage verstoße gegen § 5 Abs. 2 des Vertrags. Die Bekl. beriefen sich auf § 29 Abs. 2 GmbHG, der ihnen die Möglichkeit der Bildung von Rücklagen gebe. Der Klage wurde in den Vorinstanzen im Wesentlichen stattgegeben (zugunsten der Bekl. erfolgten Abzüge vom Gewinn für Körperschaftsteuer und Geschäftsführertantiemen). Die Revision der Bekl. hatte keinen Erfolg. Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Der Anspruch eines Gesellschafters auf Auszahlung des Gewinns (§ 29 Abs. 1 GmbHG) entsteht erst mit der Feststellung des Jahresabschlusses durch die Gesellschafterversammlung und mit der Beschlussfassung über die Verwendung des Gewinns. Als künftiger Anspruch kann er jedoch im Voraus abgetreten werden. Behält sich der Veräußerer eines Geschäftsanteils in dem Anteilskaufvertrag die Auszahlung des für ein bestimmtes Geschäftsjahr zu erwartenden Gewinns an ihn selbst vor, so liegt in der entsprechenden vertraglichen Vereinbarung die rechtlich mögliche Rückabtretung des Anspruchs auf Auszahlung des Gewinns. Die vom LG vorgenommene und vom OLG ausdrücklich gebilligte Auslegung der Klausel in § 5 Nr. 2 des Kaufvertrags,

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wonach sie nicht nur die Gewinn- und Verlustbeteiligung der Bekl. ab 1.1.1997, sondern im Umkehrschluss zugleich auch die Beteiligung der Kl. für den Zeitraum vor diesem Stichtag regelt, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Zahlungsanspruch gliedern würde. Fraglich bliebe dann die Gewichtung der Schadensersatzpflichten zwischen dem Geschäftsführer, dem die tatsächlichen Möglichkeiten zur Gewinngestaltung zur Verfügung stehen, und den Neu-Gesellschaftern.

Der BGH setzt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen § 29 Abs. 2 GmbHG idF des BilanzrichtlinienG v. 19.12.1985 und der vertraglichen Regelung des § 5 Abs. 2 des Kaufvertrags auseinander. Das BilanzrichtlinienG von 1985 schuf § 29 Abs. 2 GmbHG neu. Ziel war es, die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft zu stärken, indem den Gesellschaftern die Möglichkeit gegeben wird, Gewinne in der Gesellschaft zu belassen. Notwendig war dafür, den Gewinnausschüttungsanspruch des Gesetzes, der sich ebenso im Gesellschaftsvertrag widerspiegelt, durch die Möglichkeit zu relativieren, abweichende Gewinnverwendungsbeschlüsse zu fassen. Den Gesellschaftern wird damit ein hoher Ermessensspielraum zugestanden. Auf diesen Spielraum beriefen sich die Bekl.

Für die anwaltliche Praxis bleibt einiger Beratungsspielraum offen, insbes. bei der Gestaltung der Verträge. Hier wird es künftig nicht ausreichen, die Klausel der Gewinnbezugsberechtigung aufzunehmen, sondern es wird nötig sein, mit dem Mandanten zu beraten, wie die Ansprüche durchgesetzt werden können. Eine besondere Herausforderung wird dies für Mandate sein, die die Beratung der Neu-Gesellschafter betreffen.

Der BGH stellt fest, dass diese Handlungsfreiheit der Gesellschafter durch vertragliche Regelungen eingeschränkt wird. Kollidieren eine Vereinbarung und das in § 29 Abs. 2 GmbHG den Gesellschaftern zugebilligte Ermessen, so hat grundsätzlich die vertragliche Regelung Vorrang gegenüber der Kann-Bestimmung des Gesetzes. Mit § 5 Abs. 2 des Vertrags haben sich die Bekl. dergestalt gebunden, dass sie verpflichtet waren, den Gewinn uneingeschränkt auszuschütten. Indem sie die Ausschüttung verhindert haben, machten sie sich schadensersatzpflichtig über die Regelungen der positiven Vertragsverletzung.

BGH, Urteil vom 17. Juni 2004 – III ZR 281/03 (LG Meiningen)

Die Bekl. dürfen sich nicht auf einen Investitionsbedarf stützen, da ihnen durch einen Bekl. in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung am 30.12.1996 bekannt gewesen war, in welcher wirtschaftlichen Situation sich die Gesellschaft befunden hat. Offen lässt der BGH, ob ausnahmsweise bei Vorliegen besonderer Umstände anders zu entscheiden wäre. Solche Umstände – z.B. dass die Bekl. die GmbH nicht so gut gekannt hätten – lagen hier nicht vor. Kommentar: Der Entscheidung des BGH und der Vorinstanzen ist zuzustimmen. Gewinnklauseln in Geschäftsanteilsübertragungsverträgen wären das Papier nicht wert, auf denen sie beurkundet werden, wenn die Neu-Gesellschafter nicht bestimmten Einschränkungen bei der Gewinngestaltung unterliegen würden. Es bleiben jedoch Fragen offen, die in der Zukunft beantwortet werden müssen. Der BGH hat offen gelassen, wie zu entscheiden wäre, wenn die Bekl. keine genaue Kenntnis über die Gesellschaft gehabt hätten und wenn der geltend gemachte Investitionsbedarf zur Existenzsicherung der Gesellschaft unbedingt notwendig gewesen wäre. In diesem Falle müsste im ersten Schritt ebenso entschieden werden, dass die vertragliche Regelung der Kann-Bestimmung des § 29 Abs. 2 GmbHG vorgehen muss. Jedoch müsste dann der Einwand des Rechtsmissbrauchs durch die Alt-Gesellschafter geprüft werden. Hier wären Fragen zum Umfang der Aufklärung über die wirtschaftliche und technische Situation der Gesellschaft durch die Alt-Gesellschafter zu klären. Weiterhin bleibt offen, wie mit Fallgestaltungen umgegangen wird, bei denen die Neu-Gesellschafter die Möglichkeit haben, für das Geschäftsjahr mit dem Ausschüttungsanspruch zugunsten der Alt-Gesellschafter Verpflichtungen einzugehen, die gewinnsteuernd sind. Wenn man konsequent die vorliegende Rspr. weiterentwickeln möchte, müsste hier den Alt-Gesellschaftern ebenfalls ein Anspruch aus positiver Vertragsverletzung bzw. nunmehr aus § 280 BGB zugesprochen werden, der sich zum Zwecke der Bezifferung des Schadensersatzes in einen Auskunfts- und einen

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Rechtsanwalt Benjamin Ehlers, Calau

 02.2 – 11/04

Abgrenzung von Kleingarten- und Erholungsgrundstücksanlagen

BKleingG § 1 Abs. 1 Nr. 1 a) Eine Kleingartenanlage setzt nicht voraus, dass wenigstens die Hälfte ihrer Fläche zur Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen für den Eigenbedarf (insbes. Obst und Gemüse) genutzt wird. b) Es genügt, wenn diese Nutzung den Charakter der Anlage maßgeblich mitprägt. c) Dies ist i.d.R. anzunehmen, wenn wenigstens ein Drittel der Fläche zum Anbau von Gartenerzeugnissen für den Eigenbedarf genutzt wird. Besonderheiten, wie eine atypische Größe der Parzellen, topographische Eigentümlichkeiten oder eine Bodenqualität, die den Anbau von Nutzpflanzen teilweise nicht zulässt, können eine vom Regelfall abweichende Beurteilung rechtfertigen. Der Kl. ist Eigentümer eines Grundstücks. Der Bekl. ist ein Verein, der seinen Mitgliedern Grundstücksparzellen zur gärtnerischen Nutzung weiterverpachtet. Ein 525 qm großes Teilstück der dem Kl. gehörenden Grundfläche liegt in der Anlage des Bekl. Diese umfasst 20 Parzellen, von denen 17 gärtnerisch genutzt werden. Drei Gärten schneiden den dem Kl. gehörenden Grundstücksteil. Der Kl. meint, die Höhe des Pachtzinsanspruchs sei nicht durch § 5 Abs. 1 BKleingG begrenzt, da die vom Bekl. an seine Mitglieder verpachtete Anlage keinen Kleingartencharakter aufweise. Der Kl. hat insoweit behauptet, die Parzellen seien am 3.10.1990 weit überwiegend als Ziergärten genutzt worden. Die Klage war vor dem AG und vor dem LG erfolglos. Die Revision des Kl. führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LG. Aus den Entscheidungsgründen: I. Das BerufungsG hat auf das Pachtverhältnis der Parteien das BKleingG angewandt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dieses Gesetz sei auch dann anwendbar, wenn die Verwendung der Parzellen zum Anbau von Gartenerzeugnissen im Verhältnis zur Erholungsnutzung nicht überwiege. Für die kleingärtnerische Nutzung iSv § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG genüge es, wenn auf die Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen für den Eigenbedarf ein nicht völlig unbedeutender und daher den Charakter der Gärten mitprägender Teil der Flächennutzung entfalle. Die Feststellungen des AG hätten ergeben, dass diese Voraussetzung bei der Anlage des Bekl. zum maßgeblichen Stichtag erfüllt gewesen sei. Dies hält den Beanstandungen der Revision im entscheidenden Punkt nicht stand.

II. … 2. Die Entscheidung über den Anspruch des Kl. hängt davon ab, ob der zwischen ihm und dem Bekl. bestehende Pachtvertrag der Preisbindung des § 5 Abs. 1 BKleingG unterliegt. Dies setzt voraus, dass sich das Rechtsverhältnis nach dem BKleingG richtet.

Neue Justiz 11/2004

Bürgerliches Recht

3. Die Anwendung dieses Gesetzes scheitert weder an der auf den Parzellen befindlichen Bebauung (vgl. zur Frage der Bebauung in Kleingartenanlagen z.B.: Senatsurt. v. 24.7.2003, VIZ 2003, 538, = NJ 2004, 31, für BGHZ 156, 71 vorgesehen) noch an § 1 Abs. 1 Nr. 2 BKleingG. Das BerufungsG hat festgestellt, dass die vorhandenen Baulichkeiten der Einordnung des Areals als Kleingartenanlage nicht entgegenstehen, weil sie sich nicht zu Wohnzwecken eignen, und dass die Parzellen in einer Gesamtanlage zusammengefasst sind, wie es gem. § 1 Abs. 1 Nr. 2 BKleingG für das Bestehen einer Kleingartenanlage erforderlich ist. …

4. Die Anwendbarkeit des BKleingG richtet sich, wie der Senat in seinen Urt. v. 24.7.2003 (aaO), v. 6.3.2003 (BGHZ 154, 132, 135 = NJ 2003, 367 [bearb. v. Matthiessen] ) und v. 16.12.1999 (WM 2000, 779, 782 = NJ 2000, 320 [bearb. v. Mollnau] ) bereits im Einzelnen dargelegt hat, darüber hinaus nach der tatsächlich ausgeübten Nutzung zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3.10.1990, unabhängig davon, welchen vertraglichen Bestimmungen das Pachtverhältnis unter Geltung des DDR-Rechts unterworfen war. Ob das Pachtverhältnis dem BKleingG unterliegt, ist dementsprechend danach zu beurteilen, ob die am 3.10.1990 tatsächlich ausgeübte Nutzung eine kleingärtnerische iSv § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG war. Ein zentrales Merkmal eines Kleingartens ist die nicht erwerbsmäßige gärtnerische Nutzung, also die Erzeugung von Obst, Gemüse und anderen Früchten durch Selbstarbeit des Kleingärtners oder seiner Familienangehörigen. Kennzeichnend für diese Nutzungsart ist die Vielfalt der Gartenbauerzeugnisse (z.B.: Senatsurt. v. 16.12.1999, aaO). Das zweite vom Gesetz hervorgehobene Element ist die Nutzung zu Erholungszwecken. Damit stellt sich die Frage der Abgrenzung zwischen Kleingartenparzellen, die auch der Erholung dienen, und Erholungsgrundstücken, da letztgenannte anderen rechtlichen Bestimmungen (vgl. insbes. für das Beitrittsgebiet Art. 232 § 4 Abs. 1 u. 2 EGBGB) unterliegen. Bei der Beurteilung, ob es sich bei dem jeweils fraglichen Gartenkomplex um eine Kleingartenanlage oder um eine sonstige Erholungs- oder Wochenendsiedlergartenanlage, eine Ferienoder Wochenendhaussiedlung handelt, ist auf den Charakter der gesamten Anlage, nicht einzelner Parzellen abzustellen (Senat, aaO, S. 783 mwN). Dies ist schon deshalb notwendig, weil in Fällen, in denen die gesamte Anlage Vertragsgegenstand eines Hauptnutzungs- oder Zwischenpachtverhältnisses ist, dieser Vertrag nur einheitlich entweder den Regelungen des BKleingG oder denen des BGB bzw. des SchuldRAnpG unterworfen sein kann (…). a) Kleingarten- und Erholungsgrundstücksanlagen sind danach voneinander abzugrenzen, welchen Anteil nach dem äußeren Erscheinungsbild des Komplexes die Gartenbau- und die reine Erholungsnutzung haben. Die Einzelheiten sind umstritten, da § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG keine Regelung über das zulässige Verhältnis von Anbau- und Erholungsflächen in Kleingärten enthält. Die überwiegende Meinung (OLG Naumburg, OLGR 2001, 435, 437 f.; Mainczyk, BKleingG, 8. Aufl., § 1 Rn 9; MünchKomm-BGB/ Kühnholz, 4. Aufl., § 29 SchRAnpG Rn 6; Otte, in: Ernst/ Zinkahn/ Bielenberg, BauGB, Stand Nov. 1997, § 1 BKleingG Rn 8; Schnabel, ZOV 2001, 227, 228 f.; vgl. auch Friedrich, NJ 2003, 12, 14) hält es für das Vorliegen einer Kleingartenanlage für erforderlich, dass die Nutzung zum Zwecke der Gewinnung von Gartenerzeugnissen überwiegt. Hieraus wird der Schluss gezogen, der Ziergartenanteil (Zierpflanzen und Rasen) dürfe nicht größer sein als der des Nutzgartens (Schnabel, aaO) oder zumindest dürfe die der Erholungsfunktion dienende Fläche die nutzgärtnerisch verwendete nicht übersteigen (OLG Naumburg, Mainczyk, Kühnholz, Otte, jew. aaO). Die Gegenauffassung (LG Potsdam, Urt. v. 3.11.1998 – 6 S 83/97, Urteilsdr. S. 2; VG Frankfurt [Oder], juris Nr. MWRE106139800; Stang, BKleingG, 2. Aufl., § 1 Rn 9; vgl. auch BVerwGE 68, 6) meint demgegenüber, auch das Überwiegen der reinen Erholungsfunktion sei mit einer kleingärtnerischen Nutzung vereinbar. Erforderlich sei lediglich, dass der Anbau von Gartenfrüchten nicht nur eine völlig untergeordnete Bedeutung habe.

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b) Der Senat hat sich zu dem für das Vorliegen einer Kleingartenanlage zulässigen Anteil der reinen Erholungsnutzung noch nicht geäußert. Er beantwortet die dahingehende Fragestellung nunmehr wie folgt: aa) Die Nutzung der Parzellen zur Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen muss den Charakter der Anlage maßgeblich mitprägen. Eine Kleingartenanlage liegt nicht vor, wenn die Verwendung der Grundflächen als Nutzgärten nur eine untergeordnete Funktion hat. Ein Kernmerkmal des Kleingartens ist, wie oben ausgeführt, die nicht erwerbsmäßige gärtnerische Nutzung, und zwar die Erzeugung von Obst, Gemüse und anderen Früchten durch Selbstarbeit des Kleingärtners oder seiner Familienangehörigen. Daneben tritt nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG die Erholungsfunktion, die aber die Verwendung des Gartens zum Anbau nicht ersetzen darf. Dies ergibt die an der Gesetzeshistorie und dem verfassungsrechtlichen Kontext ausgerichtete Auslegung der Norm. (1) Im Vordergrund der kleingärtnerischen Nutzung von Grundstücken stand zu Beginn des Kleingartenwesens die Sicherung und Verbesserung der Ernährungslage, vor allem der ärmeren Bevölkerungsschichten (BVerfGE 52, 1, 33; Begr. der BReg. zum BKleingG, BT-Drucks. 9/1900, S. 9). Nach der Ausweitung des Nahrungsmittelangebots und der allgemeinen Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse gewann der Erholungswert der Kleingärten zunehmend an Bedeutung (BVerfGE aaO, S. 35 f.; Begr. der BReg. zum BKleingG, aaO). Dem hat der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass er die Verwendung von Kleingartenparzellen auch zur Erholung als zulässige Nutzung in den Tatbestand des § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG aufgenommen hat (Begr. der BReg. zum BKleingG, aaO, S. 12). Allerdings sollte die Erholungsnutzung des Gartens zur Gewinnung von Gartenbauprodukten nur hinzutreten, nicht aber den Anbau von Nutzpflanzen zulässigerweise verdrängen können. So hat die Bundesregierung in ihrer Begründung des BKleingG betont, dass der wirtschaftlichen Bedeutung des Kleingartenwesens angesichts möglicher Preissteigerungen und einer denkbaren allgemeinen negativen Einkommensentwicklung weiterhin erhebliches Gewicht zukomme (aaO, S. 9). Die Gartenfläche sollte dementsprechend nicht allein aus Rasenbewuchs und Zierbepflanzung bestehen dürfen (aaO, S. 12). Umgekehrt widerspricht es der kleingärtnerischen Nutzung nicht, wenn die Parzelle ausschließlich zum Anbau von Obst und Gemüse verwendet wird (Mainczyk u. Stang, jew. aaO).

Aus all dem folgt, dass die Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen weiterhin ein notwendiges, prägendes Merkmal für das Vorliegen einer Kleingartenanlage ist (Mainczyk, aaO). (2) Dass diese Nutzung nicht nur in untergeordnetem Umfang stattfinden, sondern den Charakter der Anlage maßgeblich mitbestimmen muss, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Der Grundstückseigentümer wird durch die Bestimmungen des BKleingG in der wirtschaftlichen Verwertbarkeit seiner Immobilie erheblich behindert. Dies gilt namentlich für die Beschränkungen, denen die Pachtzinshöhe (§ 5 BKleingG) und die Kündigungsmöglichkeiten (§§ 7 ff. BKleingG) unterworfen sind. Die damit verbundenen Belastungen des Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 52, 1, 30 ff.) bedürfen einer Rechtfertigung, die sich aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) ergeben kann (BVerfGE 87, 114, 141, 146 f. zu den Beschränkungen durch das BKleingG). Das verfassungsrechtliche Postulat einer am Gemeinwohl orientierten Nutzung des Privateigentums umfasst das Gebot der Rücksichtnahme auf die Belange derjenigen Mitbürger, die auf die Nutzung des Eigentumsgegenstandes angewiesen sind. Das Maß und der Umfang der dem Eigentümer zugemuteten und vom Gesetzgeber zu konkretisierenden Bindung hängt davon ab, ob in und welchem Ausmaß das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht (BVerfGE 52, 1, 32 mwN). Je stärker der Einzelne auf die Nutzung fremden Eigentums angewiesen ist, um so weiter ist der Gestaltungsbereich des Gesetzgebers; dieser

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R e c h t s p re c h u n g verengt sich, wenn dies nicht oder nur in begrenztem Umfang der Fall ist (BVerfGE aaO, mwN). Bei der Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen ist der Gärtner notwendig auf die ausschließliche Nutzung eines Grundstücks angewiesen. Demgegenüber fordert der Erholungszweck dies nicht in gleichem Maße. Die Erholung, d.h. in diesem Zusammenhang die Förderung oder Wiederherstellung der normalen körperlichen Kräfte und des geistig-seelischen Gleichgewichts an frischer Luft und in der Natur, ist nicht in vergleichbar intensiver Weise an ein zur alleinigen Nutzung überlassenes Grundstück gebunden (vgl. BVerfGE 52, 1, 36). Vielmehr stehen dem Erholungssuchenden insoweit auch öffentlich zugängliche Parks, Gärten und Wälder zur Verfügung, die vielfältige Möglichkeiten der Entspannung und körperlichen Ertüchtigung bieten, mögen diese aus Sicht des Parzellenbesitzers auch keine in vollem Umfang gleichwertigen Alternativen darstellen. Die Beschränkungen, denen der Eigentümer durch das Bundeskleingartenrecht unterliegt, beziehen ihre Rechtfertigung im Lichte des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG damit zu einem wesentlichen Teil aus dem Nutzungszweck des Gartenanbaus. Die Erholungsnutzung ist zwar unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ebenfalls ein die Sozialbindung des Eigentums mittragender Umstand (vgl. BVerfGE 52, 1, 35; 87, 114, 141). Er allein würde die Beschränkungen, denen der Eigentümer von Kleingartengrundstücken unterliegt, jedoch nicht rechtfertigen. Anderenfalls wären Kleingarten- und reine Erholungsgrundstücke nicht unterschiedlich zu behandeln. Die vorstehenden Erwägungen werden dadurch gestützt, dass sich die höchstzulässige Kleingartenpacht gem. § 5 Abs. 1 BKleingG zwingend an dem Pachtzins im erwerbsmäßigen Obstund Gemüseanbau orientiert (für das Beitrittsgebiet siehe auch § 20 a Nr. 6 BKleingG). Der bindende Charakter dieser Anknüpfung für die Pacht wäre sachfern, wenn die Nutzung zum Anbau von Gartenerzeugnissen nur eine untergeordnete Funktion in einer Kleingartenanlage haben dürfte. (3) Hieraus folgt entgegen der vorzitierten Auffassung jedoch nicht, dass der zum Anbau von Gartenerzeugnissen genutzte Grundstücksteil mindestens 50 v.H. der Parzellen ausmachen muss. § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKleingG enthält keine derartige Vorgabe. Auch aus der Regierungsbegründung (BT-Drucks. 9/1900, aaO) lässt sich eine solche nicht entnehmen. Sie enthält lediglich die Aussage, dass die Gartenfläche nicht nur aus Rasen und Zierpflanzen bestehen darf (aaO, S. 12). Von Verfassungs wegen ist gleichfalls nicht geboten, dass der Nutzgartenanteil wenigstens die Hälfte der Kleingartenanlage in Anspruch nimmt. Das BVerfG hat die Bedeutung der Erholungsfunktion der Kleingärten herausgestellt (insbes. BVerfGE 52, 1, 35 f.) und als einen Gemeinwohlbelang iSd Art. 14 Abs. 2 GG anerkannt (BVerfGE 87, 114, 141), mag auch dieser nicht dasselbe Gewicht haben wie der Selbstanbau von Obst, Gemüse und anderen Gartenerzeugnissen (vgl. insoweit BVerfGE 52, 1, 39). Hängt die verfassungsmäßige Legitimation der Beschränkungen der Eigentümerrechte durch das BKleingG nicht allein von dieser Nutzung ab, sondern tritt die Erholungsfunktion als ebenfalls legitimierender Gemeinwohlbelang hinzu, ist es nicht zu beanstanden, wenn der rechnerisch überwiegende Teil der Flächen zu dem letztgenannten Zweck genutzt wird und entsprechend bepflanzt ist, solange bei wertender Betrachtung der Anbau von Gartenerzeugnissen zur Selbstversorgung den Charakter der Anlage maßgeblich mitbestimmt. Entgegen einem in der Lit. aufgetretenen Missverständnis (z.B. Friedrich, NJ 2003, 14) hat der Senat mit seinem Nichtannahmebeschl. v. 31.1.2001 (III ZR 42/01) nicht die gegenteilige

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Bürgerliches Recht

Ansicht des OLG Naumburg (aaO) gebilligt. Der Senat brauchte sich mit der Auffassung des OLG Naumburg bei der Entscheidung über die Annahme der Revision gegen dessen Urteil nicht auseinander zu setzen, da die danach anzulegenden strengeren Maßstäbe für das Vorliegen einer Kleingartenanlage dort erfüllt waren. bb) Die unter den vorstehenden Gesichtspunkten erforderliche Würdigung des Gesamtcharakters der Anlage ist ein Vorgang wertender Erkenntnis, der in erster Linie dem Tatrichter obliegt. Dessen Beurteilung unterliegt nur eingeschränkt der revisionsgerichtlichen Nachprüfung. Insbes. ist es dem RevisionsG verwehrt, feste Bewertungsmaßstäbe zur Berücksichtigung einzelner Nutzungselemente vorzugeben, anhand deren sich eine gewissermaßen rechnerisch exakte Qualifizierung der Anlage vornehmen lässt. Unbeschadet dessen wird es i.d.R. der Fall sein, dass die Erzeugung von Gartenbauprodukten den Charakter einer Anlage nicht mehr maßgeblich mitprägt, wenn mehr als zwei Drittel der Flächen als Ziergarten bepflanzt sind. Dies wird insbes. anzunehmen sein, wenn es sich um Gärten handelt, die die Normgröße des § 3 Abs. 1 BKleingG nicht überschreiten. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Kleingartencharakter einer Anlage in Einzelfällen auch dann besteht, wenn die Nutzbepflanzung weniger als ein Drittel der Flächen in Anspruch nimmt. Dies ist bspw. denkbar, wenn die Gartenparzellen atypisch groß sind und die Bewirtschaftung eines Drittels ihrer Flächen als Nutzgärten in der Freizeit ausgeschlossen erscheint. Auch topographische Besonderheiten oder eine Bodenqualität, die in Teilen den Anbau von Nutzpflanzen nicht zulässt, können eine vom Regelfall abweichende Beurteilung tragen. 5. Das BerufungsG hat sich – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – im Wesentlichen darauf beschränkt, festzustellen, dass in der Anlage des Bekl. am 3.10.1990 Gartenerzeugnisse in nicht vernachlässigbarem Umfang angebaut wurden. Ob dem eine den vorstehenden Kriterien genügende Gesamtbewertung des Charakters der umstrittenen Anlage zugrunde liegt, lässt sich den getroffenen Feststellungen nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit entnehmen. Deshalb ist dem Senat eine abschließende Entscheidung nicht möglich … .

Anm. d. Redaktion: Siehe auch D. Maskow, »Ausgewählte Entwicklungen des Kleingartenrechts in den neuen Bundesländern«, NJ 2004, 5 ff.

 02.3 – 11/04

Zivilrechtliche Wirkungen der Anordnung des Sofortvollzugs eines Restitutionsbescheids BGH, Urteil vom 14. Mai 2004 – V ZR 304/03 (Kammergericht) VermG §§ 33 Abs. 6, 34 Abs. 1 Satz 8 a) Die Anordnung des Sofortvollzugs der Rückübertragung eines Grundstücks nach dem VermG führt nicht nur zum vorläufigen Übergang des Volleigentums auf den Berechtigten, sondern auch zum vorläufigen Übergang der Mietverhältnisse der Mieter des Grundstücks auf den Berechtigten (Fortführung von BGHZ 132, 306 = NJ 1996, 641). b) Hausverwaltungsverträge gehen auch bei Anordnung des Sofortvollzugs nicht auf den Berechtigten über (Anschluss an BGH, Urt. v. 1.3.2001 (III ZR 329/98, ZOV 2001, 317). c) Die zivilrechtlichen Wirkungen des Sofortvollzugs treten mit der Bekanntgabe der Anordnung an alle Betroffenen ein (Fortführung des Senatsurt. v. 14.3.1997 (V ZR 129/95, VIZ 1997, 346). d) Die Bekanntgabe der Anordnung des Sofortvollzugs an eine Erbengemeinschaft kann auch gegenüber dem Testamentsvollstrecker erfolgen (Anschluss an BFH, NJW 1989, 936).

Neue Justiz 11/2004

Bürgerliches Recht

Problemstellung: Die Kl. sind Erben des E. K., der in die USA emigriert war. 1941 verkaufte der für ihn bestellte Abwesenheitspfleger das Anwesen an die Erwerberinnen jeweils zur Hälfte. Das Grundstück wurde später unter staatliche Verwaltung gestellt und 1995 durch den staatlichen Verwalter, die Wohnungsgesellschaft B.-M. mbH, an die Rechtsnachfolgerinnen der Erwerberinnen herausgegeben. Diese haben die Bekl. mit Vertrag v. 24./29.5.1996 mit der Verwaltung, einschließlich des Einzugs der Mieten beauftragt. Obwohl der Vertrag am 31.7.1999 endete, hat die Bekl. die Verwaltung noch bis zum 30.9.1999 weitergeführt. Das ARoV hat mit Bescheid v. 21.1.1994 das Grundstück an die Kl. zurückübertragen und diesen aufgegeben, jeweils 2.643,45 DM an die Rechtsnachfolger der Erwerberinnen für getilgte Hypotheken zu zahlen. Der gegen diesen Bescheid von den Rechtsnachfolgern der Erwerberinnen eingelegte Widerspruch wurde vom LARoV abgewiesen. Die von einem der Rechtsnachfolger eingelegte Klage beim VG wurde gleichfalls abgewiesen. Mit Bescheid v. 26.11.1998 ordnete das ARoV den sofortigen Vollzug des Rückübertragungsbescheids an. Da W. E. (einer der Rechtsnachfolger) zwischenzeitlich verstorben war, konnte ihm dieser Bescheid nicht mehr zugestellt werden. Das LARoV hat diesen Bescheid dann am 13.1.1999 dem Testamentsvollstrecker des Nachlasses von W. E. zugeleitet. Dieser meldete am 30.9.1999 Entschädigungsansprüche nach § 7 a Abs. 3 b VermG an. Die Kl. verlangten von der Bekl. die Auszahlung der Überschüsse aus den von Mai bis Sept. 1999 eingezogenen Mieten. Das LG gab der Klage statt. Das BerufungsG hat die Zahlung bis auf die hälftigen Mietüberschüsse für Aug. und Sept. abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Revision der Kl. hatte in dem Umfang, in dem die Revision zugelassen war, Erfolg. Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Den Kl. steht aus § 816 Abs. 2 BGB ein Anspruch auf Auskehrung der vollen Mietüberschüsse für Aug. und Sept. 1999 zu. Das Eigentum an dem Grundstück ist schon im Jan. 1999 auf die Kl. übergegangen. Entgegen der Ansicht des BerufungsG kommt es nicht darauf an, ob und wann der Rückübertragungsbescheid v. 21.1.1994 gegenüber allen Beteiligten bestandskräftig geworden ist. Das BerufungsG hat übersehen, dass das VermG die zivilrechtlichen Wirkungen eines Rückübertragungsbescheids nicht nur gem. § 34 VermG mit seiner Unanfechtbarkeit eintreten lässt. Nach § 33 Abs. 6 VermG kann ein Rückübertragungsbescheid auch für sofort vollziehbar erklärt werden. Die zivilrechtlichen Wirkungen des Sofortvollzugs waren zwar umstritten. Der Senat hat aber mit seinem Urt. v. 12.4.1996 (BGHZ 132, 306, 310 f. = NJ 1996, 641) klargestellt, dass auch der sofort vollziehbare Rückübertragungsbescheid zur, wenn auch vorläufigen, Übertragung von Volleigentum am Restitutionsgegenstand führt. Das Volleigentum an dem Grundstück ging deshalb nicht erst mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit des Rückübertragungsbescheids v. 21.1.1994 auf die Kl. über, sondern schon mit dem Eintritt von dessen sofortiger Vollziehbarkeit. Die sofortige Vollziehbarkeit ist vorliegend auch gegenüber allen materiell Betroffenen angeordnet und damit auch ihnen gegenüber wirksam geworden (vgl. Senatsurt. v. 14.3.1997, VIZ 1997, 346, 347). Der Mangel der ursprünglich gegenüber W. E. gescheiterten Bekanntgabe ist dadurch behoben worden, dass der Bescheid v. 26.11.1998 am 13.1.1999 dem Testamentsvollstrecker des Nachlasses von W. E. zugeleitet wurde. Dadurch wurde er auch den Erben des W. E. gegenüber bekannt gemacht und somit

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auch ihnen gegenüber zivilrechtlich wirksam. Dies ergibt sich aus § 2213 Abs. 1 Satz 1 BGB. Ein Bescheid in Bezug auf einen Nachlassgegenstand kann sowohl gegenüber dem Testamentsvollstrecker als auch gegenüber den Erben erlassen werden (BFH, NJW 1989, 936; vgl. auch OVG Münster, NVwZ-RR 1997, 62, 63). Die Versendung durch das LARoV ist unschädlich, da das betreffende ARoV mit Wirkung v. 1.1.1999 aufgelöst und die Erledigung der bei ihm noch anhängigen offenen Anträge dem LARoV übertragen wurde. Auch das Versenden von »nur« einer Kopie steht der wirksamen Bekanntgabe nicht entgegen. Der Zweck der Bekanntgabe nach § 41 VwVfG ist dann erreicht, wenn dem Adressaten eine zuverlässige Kenntnis des Inhalts des Bescheids verschafft wird. Diese Kenntnis vermittelt auch eine Fotokopie, wenn sie das Original nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt (BVerwGE 104, 310, 314; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 41 Rn 16). Der sofortige Vollzug des Restitutionsbescheids hat den Kl. unmittelbar Volleigentum verschafft. Dabei kam es auch nicht darauf an, ob die Kl. die Zahlungspflichten aus dem Bescheid erfüllten oder ob die Verfügungsberechtigten auf ihre Ansprüche verzichteten. Die Erfüllung dieser Bedingungen ist zwar Voraussetzung für den endgültigen Erhalt des Eigentums, da der Gesetzgeber mit dem VermRBerG v. 20.10.1998 (BGBl. I S. 3180) den Eintritt der Unanfechtbarkeit von der Erfüllung solcher Zahlungsverpflichtungen abhängig gemacht hat (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VermG in der seitdem geltenden Fass.). Für den Erwerb vorläufigen Eigentums ist dies hingegen nicht erheblich. Die Bekl. war auch Nichtberechtigte. Der gesetzliche Vertragsübergang bezogen auf die Mietverhältnisse gem. § 17 Abs. 1 VermG stellt nur auf die »Rückübertragung« und nicht auf deren Unanfechtbarkeit ab. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift, da das Schicksal der Mietverträge ansonsten ungewiss wäre. Demgegenüber sind die Kl. nicht in den Hausverwaltungsvertrag der Bekl. mit den Erben der vormaligen Verfügungsberechtigten eingetreten. Ein Hausverwaltungsvertrag kann bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise zwar wie ein Bausparvertrag (BGHZ 141, 203, 205 f. = NJ 1999, 545 [Leits.]) als grundstücksbezogenes Rechtsverhältnis angesehen werden, das grundsätzlich nach § 16 Abs. 2 Satz 1 VermG auf den Restitutionsberechtigten übergehen würde. § 16 Abs. 2 Satz 1 VermG ist aber in Ansehung der Hausverwaltungsverträge einschränkend auszulegen (BGH, ZOV 2001, 317, 318). Der Übergang eines solchen Hausverwaltungsvertrags würde die Inbesitznahme durch den Berechtigten vereiteln. Da der Hausverwaltungsvertrag nicht auf den Berechtigten übergeht, kann er dem Verwalter auch kein Recht zum Besitz und auch nicht das Recht vermitteln, Mieten einzuziehen. Kommentar: Der BGH hat sich in der vorliegenden Entscheidung erneut mit den zivilrechtlichen Wirkungen der Anordnung des Sofortvollzugs bei einem Restitutionsbescheid auseinandergesetzt. In Fortführung seiner bish.Rspr. (BGHZ 132, 306, 310 f., aaO) wird zunächst festgestellt, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch das ARoV oder LARoV zu einer vorläufigen Übertragung von Volleigentum an dem Restitutionsgegenstand führt. Das bedeutet, dass der Eigentumsübergang mit allen damit in Verbindung stehenden Folgeansprüchen bereits vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit des Restitutionsbescheids erfolgt. Die Restitutionsberechtigten werden in einem solchen Fall demnach mit dem Eintritt der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts (vorläufige) Eigentümer und können ab diesem Zeitpunkt den Anspruch auf Herausgabe der Mieten geltend machen. Die sofortige Vollziehbarkeit tritt i.d.R. zwei Wochen nach Bekanntgabe des Bescheids, mit dem sie angeordnet worden ist,

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R e c h t s p re c h u n g ein, da den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden soll, nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beim VG einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu stellen. Vorliegend war die Bekanntgabe des Sofortvollzugs insoweit problematisch, als einer der Betroffenen zwischenzeitlich verstorben war. Hier hat der BGH seine Rspr. auf der Grundlage von § 2213 Abs. 1 Satz 1 BGB dahingehend weiterentwickelt, dass auch eine Bekanntgabe gegenüber dem Testamentsvollstrecker möglich ist. Da der BGH das Rechtsinstitut des »vorläufigen Eigentumsübergangs« weiterentwickelt hat, musste er sich auch mit den damit im Zusammenhang stehenden Rechtsfolgen auseinandersetzen. Während er beim Übergang der Mietverhältnisse zu dem Ergebnis kommt, dass dieser entsprechend dem Wortlaut des § 17 Abs. 1 VermG nicht an die Unanfechtbarkeit des Restitutionsbescheids geknüpft ist, müssen die Berechtigten demgegenüber nicht in bestehende Hausverwaltungsverträge eintreten. Insoweit ist § 16 Abs. 2 Satz 1 VermG einschränkend auszulegen. Prof. Dr. Angela Kolb, Hochschule Harz, Halberstadt

 02.4 – 11/04

Umdeutung eines nichtigen Gebäudekaufvertrags in einen Kauf der Rechte nach dem SachenRBerG BGH, Urteil vom 19. März 2004 – V ZR 224/03 (OLG Brandenburg) BGB § 140 Die Umdeutung eines nichtigen Rechtsgeschäfts muss nicht daran scheitern, dass die Leistung, die Gegenstand des anderen Geschäfts ist, im Ungleichgewicht zu dem ursprünglich vorgesehenen Entgelt steht; je nach dem anzunehmenden Parteiwillen kann das Äquivalenzverhältnis verschoben oder durch Veränderung des Entgelts gewahrt sein (Umdeutung des Kaufs nicht existierenden Gebäudeeigentums in den Kauf der Rechte aus der Sachenrechtsbereinigung). Problemstellung: Gegenstand des Rechtsstreits waren Schadensersatzansprüche der Kl. aus einem am 28.1.1993 geschlossenen Kaufvertrag über ein Wohn- und Geschäftshaus in Höhe des Kaufpreises von 131.000 DM sowie der mit der Abwicklung des Vertrags verbundenen Kosten von insges. 73.152,72 €. Das den Kaufgegenstand bildende Wohn- und Geschäftshaus war 1957/64 von der Konsumgenossenschaft (KG) des Kreises N. errichtet worden; das Grundstück befand sich 1990 in Volkseigentum, die KG war Rechtsträgerin. Ein Gebäudegrundbuch existierte nicht. Aufgrund Zuordnungsbescheids ist Mitte der 90er-Jahre die BRD als Eigentümerin des Grundstücks festgestellt worden; sie ist seit 14.11.1996 im Grundbuch eingetragen. Die bekl. Grundstückseigentümerin war entgegen dem Verlangen der Kl. nicht zum Verkauf des Grundstücks unter Zugrundelegung des SachenRBerG bereit, sondern wollte das Grundstück nur zum vollen Verkehrswert und unter den Voraussetzungen des InvestitionsvorrangG an die Kl. veräußern. Mit Nachtragsurkunde v. 20.1.1997 wurde der Kaufvertrag von 1993 dahingehend ergänzt, dass die Bekl. als Rechtsnachfolgerin der KG »sämtliche Ansprüche nach dem SachenRBerG an Erwerber« abtrat. Das LG hat die Klage abgewiesen, das OLG hat ihr stattgegeben. Die Revision der Bekl. wurde vom BGH mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Zahlung Zug um Zug gegen Rückabtretung der am 20.1.1997 abgetretenen Ansprüche nach dem SachenRBerG erfolgt.

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Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Der zwischen den Parteien 1993 geschlossene Kaufvertrag ist nichtig, weil er auf eine objektiv unmögliche Leistung gerichtet war (§ 306 BGB aF). Selbständiges Gebäudeeigentum war grundbuchlich nicht dokumentiert, und es fehlte in den Vorinstanzen auch ein Vortrag der Bekl. zu den Umständen und zum Rechtsgrund der Gebäudeerrichtung, insbes. zu der Frage, ob die KG den Bau mit eigenen Mitteln errichtet oder finanziert hat. Sollte das Grundstück zur Zeit der Errichtung des Gebäudes 1957/64 bereits volkseigen und die KG Rechtsträgerin gewesen sein, hätte dies nicht zur Bildung von Gebäudeeigentum geführt. Ein Nutzungsrecht am volkseigenen Grundstück war der KG jedenfalls nicht verliehen worden, so dass gem. Art. 233 § 5 EGBGB auch nach 1990 Gebäudeeigentum nicht mehr entstehen konnte. Der Kauf hatte mithin eine objektiv unmögliche Leistung zum Gegenstand. Daran ändert auch die Nachtragsvereinbarung v. 20.1.1997 nichts, mit der die Bekl. vermeintliche Ansprüche nach dem SachenRBerG an die Kl. abgetreten hatte. Abgesehen davon, dass diese Nachtragsvereinbarung nicht auf eine Auswechslung der Verkäuferleistung gerichtet, sondern (allenfalls) als beiderseitiger Versuch einer Schadensbegrenzung zu werten ist, kommt ihr nicht die Wirkung zu, die Kl. zu verpflichten, den abgetretenen Anspruch gegen die eine Verbindlichkeit nach dem SachenRBerG leugnende jetzige Grundstückseigentümerin geltend zu machen, etwa durch die Feststellungsklage nach § 108 SachenRBerG. Eine Pflicht des Gläubigers, den abgetretenen Anspruch – hier den Anspruch auf Ankauf des Grundstücks oder Bestellung eines Erbbaurechts zu den Modalitäten des SachenRBerG – gegen einen Dritten einzuklagen, existiert nicht; dies hätte den Zweck der Schadensbegrenzung gesprengt. In Anbetracht des unzureichenden Sachverhaltsvortrags der Bekl. ist offen geblieben, ob ein solcher Anspruch nach dem SachenRBerG überhaupt besteht. Eine Umdeutung des nichtigen Gebäudekaufs in einen Kauf der Ansprüche der Bekl. nach dem SachenRBerG iSd § 140 BGB kommt nicht in Betracht, zum einen aus den vorstehenden Gründen, zum anderen, weil bei der Würdigung nach § 140 BGB auf den Zeitpunkt des Abschlusses des nichtigen Geschäfts, hier also auf den 28.1.1993, abzustellen ist. Zu diesem Zeitpunkt war das SachenRBerG jedoch noch nicht erlassen und auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung existierte noch nicht; lediglich ein Eckwertepapier der Bundesregierung vom Okt. 1992 war veröffentlicht. Dementsprechend war es ausgeschlossen, die Konturen des künftigen Gesetzes dem hypothetischen Parteiwillen zuzuordnen. Die Voraussetzungen des § 140 BGB liegen somit nicht vor. Allerdings scheitert eine Umdeutung entgegen der Annahme des BerufungsG nicht daran, dass die Parteien an die vereinbarte Gegenleistung des Kaufpreises v. 131.000 DM gebunden gewesen wären. »Entspricht ein nichtiges Rechtsgeschäft iSd § 140 BGB den Erfordernissen eines anderen Geschäfts, so ist der hypothetische Parteiwille, der dem anderen Geschäft Geltung verschafft, nicht auf eine Seite des Leistungsaustauschs fixiert. Er kann eine Veränderung des Gleichgewichts von Leistung und Gegenleistung in sich schließen (BGH, NJW 1963, 339, 340), aber auch eine Herabsetzung der Gegenleistung der benachteiligten Partei zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts erfassen (Soergel/Hafermehl, BGB, 13. Aufl., § 140 Rn 5; Westermann, JZ 1963, 369).« Da die Bekl. die Nichtexistenz von Gebäudeeigentum selbst kannte oder jedenfalls kennen musste, ist sie der Kl. zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese im Vertrauen auf den Vertragsschluss erlitten hat (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB aF). Im Zuge der Vorteilsausgleichung (§ 249 BGB) erfolgte die Verurteilung zur Zahlung Zug um Zug gegen Rückabtretung der erfüllungshalber erlangten Ansprüche.

Neue Justiz 11/2004

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Kommentar: Die Entscheidung erscheint im Ergebnis korrekt, obwohl zahlreiche Fragen offen bleiben. Das OLG Naumburg hat in einem Urt. v. 27.9.2002 – 11 U 20/02 (VIZ 2003, 303) die Umdeutung einer »Abtrittserklärung«, mit der ebenfalls nicht existierendes selbständiges Gebäudeeigentum übertragen werden sollte, in die Übertragung von Ansprüchen nach dem SachenRBerG unter Anwendung des § 140 BGB bestätigt. In jenem Fall waren allerdings eine Doppelgroßgarage und ein Wirtschaftsgebäude nachweislich erst 1989/90 vom vertraglichen Nutzer des volkseigenen Grundstücks zu gewerblichen Zwecken errichtet worden, so dass der Umdeutung nichts entgegenstand. Ansprüche nach dem SachenRBerG des Bauherrn waren durch die Bebauung in jedem Fall entstanden, so dass diese auch übertragen werden konnten, »mag man es Ankauf oder, wie das SachenRBerG, Ablösung des aus der baulichen Investition begründeten Rechte nennen (§ 81 Abs. 1 u. 2 Satz 1 SachenRBerG)« – so wörtlich in den Urteilsgründen des OLG Naumburg. In dem hier vom BGH entschiedenen Fall scheitert diese Umdeutung erkennbar in erster Linie daran, dass die Umstände der Errichtung des Gebäudes im Verlaufe des Verfahrens nicht aufgeklärt worden sind und auch der Rechtsgrund der Gebäudeerrichtung unklar geblieben ist. In Anbetracht dessen können die Erwägungen des BGH über die Möglichkeiten des Entstehens selbständigen Gebäudeeigentums bei Baumaßnahmen der KG auf einem volkseigenem Grundstück auch dahingestellt bleiben, obwohl diese Möglichkeiten im Urteil zumindest nicht vollständig und wohl auch insoweit unrichtig dargestellt sind, als auf die AO für die Übertragung volkseigener unbeweglicher Grundmittel an sozialistische Genossenschaften v. 11.10.1974 (GBl. I S. 489) Bezug genommen wird. »Unbewegliche Grundmittel« iS dieser AO waren nach der Legaldefinition der VO über den Verkauf und Kauf volkseigener unbeweglicher Grundmittel durch Betriebe der volkseigenen Wirtschaft v. 28.8.1968 idF v. 13.7.1978 (GBl. I S. 257) Gebäude und bauliche Anlagen sowie an einen festen Standort gebundene Maschinen und Ausrüstungen. Ausdrücklich war festgelegt: »Volkseigener Grund und Boden gilt nicht als Grundmittel im Sinne dieser Verordnung.« Auch der Hinweis auf die Notwendigkeit der Verleihung eines Nutzungsrechts an die KG bezogen auf den volkseigenen Grund und Boden und der in diesem Zusammenhang im Urteil vorgenommene Verweis auf §§ 287, 295 ZGB dürfte unrichtig sein; § 287 ZGB betraf ausdrücklich nicht juristische Personen. Wäre in den Vorinstanzen festgestellt worden, dass die KG das Gebäude 1957/64 tatsächlich auf einem von ihm damals bereits genutzten volkseigenen Grundstück aus Eigenmitteln errichtet hat, dann wäre damit auch bewiesen, dass das Grundstück durch die Bebauung eine erhebliche Wertsteigerung erfahren hat. Dieses vom Nutzer errichtete Gebäude bzw. die durch die bauliche Investition begründeten Rechte sind Gegenstand der Sachenrechtsbereinigung, wie sich ohne weiteres aus § 81 Abs. 1 SachenRBerG ergibt. Auf das Entstehen juristisch selbständigen Gebäudeeigentums kommt es in diesen Fällen nicht an. Die Entscheidung macht deutlich, dass in solchen Fällen auf die detaillierte Aufklärung des Sachverhalts größter Wert zu legen ist. Die Umstände einer zu DDR-Zeiten vorgenommenen Bebauung eines Grundstücks und die Rechtsgrundlagen dieser baulichen Maßnahmen müssen minutiös aufgeklärt und unter Beweis gestellt werden. Nur unter dieser Voraussetzung ist es den Gerichten oder der entscheidungsbefugten Verwaltungsbehörde möglich, rechtlich überzeugende und nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen. Sicher wäre das Urteil des BGH auch im

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vorliegenden Fall anders ausgefallen, wenn es auf der Beklagtenseite in dieser Frage nicht die vom Gericht beanstandeten Versäumnisse gegeben hätte. Rechtsanwalt Prof. Dr. Horst Zank, Potsdam

 02.5 – 11/04

Unwirksame Gebührenvereinbarung eines Rechtsanwalts BGH, Urteil vom 8. Juni 2004 – IX ZR 119/03 (OLG Brandenburg) BRAGO § 3 Abs. 1 Satz 1 u. 2 a) Enthält ein Schriftstück, das sich nach seiner äußeren Aufmachung als Formular darstellt, außer der Vereinbarung einer höheren als der gesetzlichen Vergütung eine Abrede über die vom Rechtsanwalt zu erbringende Leistung, ist die Gebührenvereinbarung nicht wirksam begründet worden. b) Die Frage, ob der Rechtsanwalt aufgrund einer Honorarvereinbarung eine höhere als die gesetzliche Vergütung fordert, ist anhand eines Vergleichs der für die geleistete Tätigkeit insgesamt verdienten gesetzlichen Vergütung mit dem vereinbarten Honorar zu beantworten. Ein solcher Vergleich ist erst dann möglich, wenn sich die Höhe der gesetzlichen Vergütung ermitteln lässt, i.d.R. also erst nach dem Ende der Tätigkeit des Rechtsanwalts. c) Der Rechtsanwalt trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Mandant freiwillig und ohne Vorbehalt geleistet hat. Anm. d. Redaktion: Die BGH-Entscheidung behält auch nach In-KraftTreten des RVG Bedeutung für die Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 3 RVG. Zur Vergütungsvereinbarung im RVG siehe H.-J. Mayer, NJ 2004, 337 ff.

 02.6 – 11/04

Angaben zu Einkünften der Unterhaltsberechtigten im Zwangsvollstreckungsverfahren BGH, Urteil vom 19. Mai 2004 – IX a ZB 297/03 (LG Halle/Saale) ZPO §§ 807, 850 c Abs. 4, 899 ff. a) Bei Aufstellung des Vermögensverzeichnisses und Abgabe der eidesstattlichen Versicherung hat der Schuldner Angaben zu den Einkünften der Unterhaltsberechtigten jedenfalls dann zu machen, wenn in Betracht kommt, dass diese Personen bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens ganz oder teilweise unberücksichtigt bleiben. b) Sind die erforderlichen Angaben unterblieben, kann Nachbesserung verlangt werden. c) Der Gerichtsvollzieher ist i.d.R. nicht Partei der Rechtsbehelfsverfahren in Zwangsvollstreckungssachen. Verfahrenskosten können nur der unterliegenden Partei auferlegt werden.

 02.7 – 11/04

Rechtliches Interesse an Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Umfang der Insolvenzmasse BGH, Urteil vom 18. Mai 2004 – IX ZB 189/03 (LG Neubrandenburg) InsO §§ 14 Abs. 1, 35, 36, 89 Abs. 2 Vermag der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens selbständig tätige Schuldner die daraus herrührenden Verbindlichkeiten nicht zu erfüllen, haben die Neugläubiger, solange das Insolvenzverfahren nicht abgeschlossen ist, grundsätzlich kein rechtlich geschütztes Interesse an der Eröffnung eines weiteren Insolvenzverfahrens.

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Anm. d. Redaktion: Im vorliegenden Fall wurde über das Vermögens des Schuldners, der ein Restaurant betrieb, ein Insolvenzverfahren eröffnet. Während dieses Verfahrens beantragte die Gläubigerin die Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens, weil der Schuldner den Restaurantbetrieb im Einverständnis mit dem Insolvenzverwalter fortsetzte, aber die neu entstandenen Verbindlichkeiten (Lohnansprüche seiner Mitarbeiter, zu denen die Ast. gehört) nicht begleichen konnte. Ihr Antrag blieb in allen Instanzen erfolglos. Der BGH hat die Rechtsbeschwerde der Gläubigerin als unzulässig verworfen und ausgeführt: »Das … Problem, ob das gesamte vom Schuldner nach Eröffnung des InsO-Verfahrens erworbene Vermögen zur Insolvenzmasse iSd § 35 InsO gehört oder diese Vorschrift das Neuvermögen nicht erfasst, welches der Schuldner zur Erfüllung von Neuverbindlichkeiten benötigt, hat der Senat … bereits mit Beschl. v. 20.3.2003 (NZI 2003, 389, 392) beantwortet. Danach gehören die Einkünfte, die der Schuldner aus selbständiger Tätigkeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erzielt, in vollem Umfang und nicht lediglich in Höhe des nach Abzug der Ausgaben verbleibenden Gewinns zur Insolvenzmasse.« Die gegenteilige Mindermeinung (insbes. von Nerlich/Römermann/Andres, InsO, § 35 Rn 93) lehnte der BGH ab.

 02.10 – 11/04

 02.8 – 11/04

Aus den Entscheidungsgründen:

Betriebskostennachforderung und Aufklärungspflicht des Vermieters

Im Ergebnis zu Recht hat das LG die Schadensersatzklage des Kl. abgewiesen. Es bestand schon zum Unfallzeitpunkt und an der konkreten Unfallstelle keine Streupflicht der Bekl. gegenüber dem Kl. als Fußgänger.

BGH, Urteil vom 28. April 2004 – XII ZR 21/02 (OLG Naumburg) BGB §§ 242, 276 Allein der Umstand, dass die vom gewerblichen Vermieter verlangten Betriebskostenvorauszahlungen die später entstandenen Kosten deutlich unterschreiten, führt noch nicht zur Annahme einer Verletzung der Aufklärungspflicht. Eine solche ist nur bei Vorliegen besonderer Umstände, die einen Vertrauenstatbestand beim Mieter begründen, zu bejahen (im Anschluss an BGH, Urt. v. 11.2.2004, NJW 2004, 1102) Anm. d. Redaktion: Die Bekl. hatte eine Tiefgarage gemietet. Die Miete betrug monatl. 95.000 DM netto. Sie leistete vereinbarungsgemäß Betriebskostenvorauszahlungen von monatl. 5.000 DM. Die Kl. hat Betriebskostennachforderungen geltend gemacht, die den Vorauszahlungsbetrag um das fünf- bis sechsfache übersteigen. Das LG hatte der Klage stattgegeben, das OLG hatte sie abgewiesen. Der BGH hob die Entscheidung des OLG auf und verwies die Sache an dieses Gericht zur erneuten Entscheidung zurück.

 02.9 – 11/04

Abfindungsansprüche nach dem LwAnpG BGH, Beschluss vom 16. April 2004 – BLw 7/04 (OLG Dresden) BGB § 328 Abs. 1 a) Eine Vereinbarung, die den Übergang des LPG-Vermögens auf einen anderen Rechtsträger entgegen den gesetzlichen Vorgaben als Einzelrechtsnachfolge im Wege einer teilweisen Vermögensübernahme regelt und daher unwirksam ist, kann nicht Grundlage für die Annahme eines Vertrags zugunsten Dritter sein, wonach ein ausscheidendes Mitglied berechtigt sein soll, Abfindungsansprüche gegen den neuen Rechtsträger zu richten. b) In einem solchen Fall entspricht es i.d.R. auch nicht der Interessenlage und kann daher nicht im Wege der Auslegung angenommen werden, dass unabhängig von der gescheiterten Vermögensübernahme ein Vertrag über die Regelung der Abfindungsansprüche zugunsten Dritter geschlossen worden ist.

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Räum- und Streupflicht zum Schutz des Fußgängerverkehrs OLG Jena, Beschluss vom 22. September 2004 – 4 U 793/04 (LG Mühlhausen) ThürStrG § 49 1. Innerhalb einer geschlossenen Ortschaft sind regelmäßig nur die belebten und verkehrswichtigen Gehwege zum Schutz des Fußgängerverkehrs zu räumen und zu streuen. 2. Diese Räum- und Streupflicht besteht aber nicht uneingeschränkt für Straßen, die von Fußgängern (auch) als Gehweg benutzt werden. Hier hängt die – gegenüber Fußgängern bestehende – Streupflicht davon ab, ob es sich um – für den Fußgängerverkehr – unentbehrliche Fußgängerüberwege handelt. 3. Im Übrigen besteht in zeitlicher Hinsicht eine Räum- und Streupflicht i.d.R. nur für die Zeit des Hauptberufsverkehrs und – an Feiertagen – für die Dauer des normalen Tagesverkehrs. 4. Bei extremen Witterungsbedingungen besteht eine Streupflicht erst ab dem Zeitpunkt, wo Streumaßnahmen überhaupt sinnvoll sind, also i.d.R. erst, wenn sich das Wetter wieder beruhigt hat.

Die sich aus der öffentlich-rechtlichen Reinigungspflicht aus § 49 ThürStrG ableitende gemeindliche Räum- und Streupflicht auf öffentlichen Wegen und Straßen besteht nicht uneingeschränkt für alle öffentlichen Verkehrswege und Straßen; ihr Inhalt und Umfang richtet sich vielmehr unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherung nach den Umständen des Einzelfalls. Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht steht zudem unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (vgl. grds. schon BGH, NVwZ 1991, 1212). Grundsätzlich muss sich der Fußgängerverkehr wie der Straßenverkehr den winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen anpassen. Zwar sind besonders an die Streupflicht zum Schutz des Fußgängerverkehrs strenge Anforderungen zu stellen. Insoweit gilt der Grundsatz, dass innerhalb der geschlossenen Ortschaft die belebten und verkehrswichtigen Gehwege zu betreuen sind: Das gilt aber nicht uneingeschränkt für Straßen, die (auch) als Gehweg benutzt werden. Hier hängt die – gegenüber Fußgängern bestehende – Räum- und Streupflicht davon ab, ob es sich um – für den Fußgängerverkehr – unentbehrliche Fußgängerüberwege handelt (vgl. BGH, VersR 1993, 1106; VersR 1995, 721; NVwZ-RR 1998, 334; … st.Rspr. des 3. Zivilsen. des Thür. OLG, fortgesetzt durch die Rspr. des 4. Zivilsen. …). Hinzu kommt, dass die Räumund Streupflichten i.d.R. zur Gewährleistung eines sicheren Hauptberufsverkehrs und an Feiertagen nur für die Zeit des normalen Tagesverkehrs bestehen. Bei extremen Witterungsverhältnissen – etwa bei starkem Schneefall, Eisregen oder ständig überfrierender Nässe – besteht eine Streupflicht erst ab dem Zeitpunkt, ab dem sich das Wetter wieder so beruhigt hat, dass Streumaßnahmen überhaupt sinnvoll sind (vgl. … ebenso Wussow/Treitz, Unfallhaftpflichtrecht, 14. Aufl., Rn 720). Unter Beachtung dieser Grundsätze scheidet im vorliegenden Fall eine Haftung der Gemeinde für den … Unfall des Kl. aus. Das LG hat … festgestellt, dass der Kl. am 24.10.2002 gegen 23 Uhr auf der Fahrbahn der Straße »Eselsmarkt« am äußersten

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Rand der Fahrstraße gegenüber dem angrenzenden Fußweg … zu Fall gekommen war. An dieser Stelle wie überhaupt in dem gesamten Gemeindegebiet herrschte schon tagsüber Regen, der ständig überfror … Unabhängig davon, dass angesichts der Schilderung der … Zeugen eine Streupflicht unmittelbar vor der Unfallzeit wenig sinnvoll und schon gar nicht Erfolg versprechend war, hätte auch eine zur Tageszeit vorgenommene Streuung den Unfall nicht verhindert … Es ist allgemein bekannt, dass durch den ständigen Fahrverkehr mit Fahrzeugen eine viel befahrene, nasse Straße weniger schnell überfrieren kann, als ein lediglich durch Fußgänger bei gleichen Witterungsbedingungen genutzter Fußweg oder eine – mehr zu Parkzwecken – gering frequentierte Straße. Im Übrigen bestand keine Räum- und Streupflicht der Gemeinde gegenüber dem Kl. als Fußgänger an der konkreten Unfallstelle. Der Kl. hat zwar vorgetragen, dass der Eselsmarkt am 24.10.2002 auch auf dem Fahrweg von Fußgängern benutzt wurde, vor allem wegen seiner direkten Anbindung an die Kirche. Daraus rechtfertigt sich aber noch nicht die Annahme einer sich hieraus ergebenden Streupflicht der Gemeinde auch gegenüber diesen Fußgängern. Selbst wenn der angrenzende Fahrstraßenbereich als An- und Abweg von den Kirchenbesuchern genutzt wurde, bestand doch die Möglichkeit des Zugangs über den angrenzenden Fußweg. Besteht aber ein solcher Fußweg, so war allenfalls dieser zum Schutz des Fußgängerverkehrs zu bestreuen; der Fahrstraßenbereich war für den Fußgängerverkehr nicht unentbehrlich. Hinsichtlich des gesamten Fußgängerwegs war aber die gemeindliche Streupflicht auf die Anlieger übertragen, so dass Schutzmaßnahmen der Gemeinde an dieser Stelle gegenüber dem Fußgängerverkehr gerade nicht bestanden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass nach dem Vortrag des Kl. … der Gehweg teilweise durch parkende Fahrzeuge »zugeparkt« war. (wird ausgeführt unter Hinw. auf OLG Dresden, OLG-NL 2003, 99, 100= NJ 2003, 269 [Leits.]).

 02.11 – 11/04

Wertausgleich für Erben des Eigentümers eines restitutionsbelasteten Vermögensgegenstands OLG Naumburg, Urteil vom 7. April 2004 – 11 U 104/03 (LG Magdeburg) (Revision eingelegt; Az.: V ZR 96/04) VermG § 7 Abs. 2 Satz 1 Die Erben des den Wert eines restitutionsbelasteten Vermögensgegenstands (hier durch Errichtung eines Gebäudes auf ursprünglich unbebautem Grundstück) erhöhenden Eigentümers sind gegenwärtig Verfügungsberechtigte iSv § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG, sodass sie vom Berechtigten großen Wertausgleich verlangen können. Problemstellung: Die Kl., die H. W. beerbt haben, machten gegenüber der Bekl. Wertausgleichsansprüche gem. § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG geltend. H. W. hatte das unbebaute Grundstück 1938 von den Rechtsvorgängern der Bekl. erworben und in der Folgezeit ein Gebäude auf dem Grundstück errichtet. Die Bekl. ist Berechtigte gem. § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG; das LARoV übertrug das Grundstück an sie zurück. Der zu diesem Zeitpunkt als gesetzlicher Vertreter für die Kl. handelnde Nachlasspfleger forderte im Gegenzug von der Bekl. Wertausgleich für das auf dem Grundstück errichtete Haus. Das LG gab der Klage statt. Die Berufung der Bekl. hatte keinen Erfolg.

an dem Vermögenswert herbeigeführt hat, vom Berechtigten mit dem objektiven Wert zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Rückübertragung des Eigentums auszugleichen sind. Bei der Prüfung von § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG hatte sich das OLG mit folgenden Fragen zu befassen: – Kann der gegenwärtig Verfügungsberechtigte iSv § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG gegenüber einem Berechtigten iSd § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG auch Ausgleichsforderungen für Werterhöhungen beanspruchen, die zwischen dem 30.1.1933 und dem 8.5.1945 durchgeführt wurden? Oder beschränkt sich der Wertausgleichsanspruch »auf Maßnahmen während des Bestehens der DDR«? (hierzu unter 1.) – Ist auch der aktuelle, derzeitige Verfügungsberechtigte des betroffenen Vermögenswerts, an dem dessen Erblasser die maßgeblichen Werterhöhungen verwirklicht hatte, »gegenwärtig Verfügungsberechtigter« iSd § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG? (hierzu unter 2.)

1. Das OLG lehnt eine zeitliche Anspruchsbeschränkung auf Maßnahmen während des Bestehens der DDR ab: Weder der Wortlaut des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG noch der Zweck des Wertausgleichs rechtfertigen eine zeitliche Anspruchsbeschränkung. § 7 Abs. 2 Satz 1 verfolgt vielmehr das Ziel, den Berechtigten durch die Restitution nicht besser zu stellen, »als er ohne den Verlust seines Vermögens stünde«. Dies gilt auch in den Rückübertragungsfällen des § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG, wonach das VermG entsprechend auf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereinigungen anzuwenden ist, die in der Zeit vom 30.1.1933 bis 8.5.1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen in Folge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf anderer Weise verloren haben. Auf die »Schutzwürdigkeit des Verfügungsberechtigten kommt es in diesem Zusammenhang nicht an«. 2. Auch der Erbe hat einen Ausgleichsanspruch für die vom Erblasser durchgeführten Werterhöhungsmaßnahmen. Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG sind nur die Werterhöhungen des gegenwärtig Verfügungsberechtigten auszugleichen. Werterhöhungen, die auf einen Zwischenerwerber zurückgehen, genügen nicht. Hat der gegenwärtig Verfügungsberechtigte das Grundstück demnach von einem früheren Verfügungsberechtigten erworben, so zahlt er hierfür »i.d.R. einen, der vom Rechtsvorgänger herbeigeführten Werterhöhung adäquaten Kaufpreis, der ihm im Falle der Restitution aus dem Entschädigungsfonds zurückerstattet wird (§ 7 a Abs. 1 Satz 1 VermG)«. Bei dem Erben trifft dies indes nicht zu. Das OLG weist im Weiteren darauf hin, dass »auch der nicht redliche Erwerber seinen Kaufpreis nach § 7a Abs. 1 Satz 1 VermG erstattet erhält«. Nach Ansicht des Gerichts wäre es eine »willkürliche Ungleichbehandlung«, wenn ausgerechnet der Erbe eines Verfügungsberechtigten ohne jeden Ausgleich bliebe. Das VermG will im Rahmen des § 7 Abs. 2 VermG »ohne ersichtlichen Grund« nicht vom Prinzip der Universalsukzession abweichen (§§ 1922 Abs. 1, 1942 Abs. 1, 2032 Abs. 1 BGB). Zum Nachlass zählen auch »zukünftige Ansprüche« nach § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG, die sich daraus ergeben, dass »das geerbte Grundstückseigentum aus Gründen, die mit dem Erwerb durch den Erblasser in Zusammenhang stehen, nach dem VermG auf den Berechtigten zurückübertragen wird (Erman/Schlüter, BGB, 10. Aufl., § 1922 Rn 7; Palandt/Edenhofer, BGB, 63. Aufl., § 1922 Rn 26). Abschließend stellt das OLG klar, dass die Bestimmung des § 7 Abs. 1 VermG, die einen sog. kleinen Wertausgleichsanspruch vorsieht, auf die öffentlichen Verfügungsberechtigten zugeschnitten und deshalb im vorliegenden Fall nicht anzuwenden ist.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Das OLG bejaht einen Wertausgleichsanspruch gem. § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG, wonach Werterhöhungen, die eine natürliche Person als gegenwärtig Verfügungsberechtigter bis zum 2.10.1990

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Kommentar: Das OLG geht m.E. zu Unrecht davon aus, dass es für die Frage des Wertausgleichs zwischen dem 30.1.1933 und dem 8.5.1945 auf

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die Schutzwürdigkeit des Verfügungsberechtigten im Falle der Rückübertragung gem. § 1 Abs. 6 Satz 1 VermG nicht ankommt. Der Hinweis des OLG, dass (sogar) »der nicht redliche Erwerber seinen Kaufpreis nach § 7 a Abs. 1 Satz 1 VermG erstattet erhält«, gilt lediglich uneingeschränkt für den abgewerteten und umgestellten (Reichsmark-)Kaufpreis. Für die Wahl einer Entschädigung nach dem EntschG v. 27.9.1994, die i.d.R. höher ausfallen wird als die Gegenleistung, hat der Gesetzgeber jedoch nachträglich einen Ausschlusstatbestand geschaffen. Nach der mit dem VermRAnpG v. 4.7.1995 in das VermG eingefügten Bestimmung des § 7 a Abs. 3 b Satz 2 kann der Verfügungsberechtigte keine Entschädigung wählen, wenn »der Verfügungsberechtigte oder derjenige, von dem er seine Rechte ableitet, gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen, in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht oder dem Nationalsozialismus oder dem kommunistischen System … erheblich Vorschub geleistet hat«.

Das OLG hätte daher zu prüfen gehabt, ob H. W. im Zusammenhang mit dem Kaufvertrag 1938 ein vergleichbares Verhalten vorgeworfen werden kann. Wäre das Gericht zum Ergebnis gelangt, dass derartige Vorwürfe in der Person des H. W. begründet sind, hätte es einen Wertausgleichsanspruch der Kl. ablehnen müssen. Denn die Kl. als Erben hätten sich das Verhalten von H. W. entsprechend dem Wortlaut des § 7 Abs. 3 b Satz 2 VermG zurechnen lassen müssen.

§ 7 Abs. 3 b Satz 2 VermG entspricht dem Wortlaut des § 1 Abs. 4 AusglLeistG. Beide Bestimmungen stehen im Kontext mit § 15 Abs. 2 ReparationsschädenG. Danach waren Vermögensschäden nicht entschädigungsfähig, wenn das Wirtschaftsgut durch den Rückerstattungspflichtigen vom Verfolgten ohne angemessene Gegenleistung oder mittels eines gegen die guten Sitten verstoßenen Rechtsgeschäfts erworben worden war. Der Gesetzgeber wollte offenbar zwischen einem Arisierungskäufer, der die Ausschlusstatbestände des § 7 a Abs. 3 b Satz 2 VermG erfüllt, und einem »loyalen« Ariseur unterscheiden. Nur im letzteren Fall soll eine Entschädigungsleistung nach dem EntschG gezahlt werden. Der Hinweis des OLG liefert somit eher ein Argument dafür, dass auch bei der Frage des Wertausgleichs ein solcher moralischer Maßstab an den Ariseur zu stellen ist.

InsO § 131

Obwohl der Gesetzgeber für die Frage des Wertausgleichs nach § 7 Abs. 2 Satz 1 VermG einen derartigen Ausschlusstatbestand nicht ausdrücklich normiert hat, muss ein solcher Wertungsgedanke auch für den Wertausgleichsanspruch Anwendung finden. Wenn ein Arisierungskauf sogar eine Entschädigungsleistung durch die Bundesrepublik ausschließt, muss dies erst recht für die von Repressalien des NS-Regimes betroffenen Berechtigten gelten. Ob H. W. mit dem Grundstückskauf im Jahre 1938 gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hatte, lässt sich nicht beantworten, da der Sachverhalt hierzu nichts aussagt. Das BVerwG hatte sich bereits im Zusammenhang mit dem Kriegsfolgen- und Wiedergutmachungsrecht der alten Bundesrepublik mit diesen Begriffen auseinander zu setzen. So hatte es als einen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit das Handeln eines Betroffenen angesehen, der sich »als Spitzel oder Denunziant betätigt, einen politischen Gegner seiner andersartigen Gesinnung wegen in strafrechtlich zu ahndender Weise verfolgt oder an seiner Verfolgung mitwirkt oder der einen anderen an der Ausübung seiner politischen Rechte gewaltsam oder aus moralisch verwerfbarer Gesinnung hindert« (BVerwG, NJW 1958, 35). Nach der BGH-Rspr. hat auch derjenige gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen, »der zur Stützung eines repressiven Systems freiwillig und gezielt, insbes. auch durch das Eindringen in die Privatsphäre anderer und Missbrauch persönlichen Vertrauens Informationen über Mitbürger gesammelt, an für ihre repressive und menschenverachtende Tätigkeit bekannte Staatsorganisationen (Stasi/Gestapo) weitergegeben und dabei jedenfalls in Kauf genommen hat, dass diese Informationen zum Nachteil der denunzierten Personen, namentlich zur Unterdrückung ihrer Menschenund Freiheitsrechte, benutzt würden« (BGH, NJW 1994, 1730).

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RD Udo Michael Schmidt, Sächs. Staatsministerium des Innern, Dresden

 02.12 – 11/04

Insolvenzanfechtung bei inkongruenter Direktzahlung des Schuldners eines insolventen Schuldners an dessen Gläubiger OLG Rostock, Urteil vom 29. März 2004 – 3 U 160/03 (LG Stralsund) (rechtskräftig)

1. Eine inkongruente Deckung liegt vor, wenn der Schuldner des Schuldners den Kaufpreis auf ein Notaranderkonto überweist und der Notar weisungsgemäß einen Teilbetrag von dem Anderkonto an den Anfechtungsgegner überweist. 2. Eine Behörde, die die Zustimmung zu einem privatrechtlichen Rechtsgeschäft des Schuldners mit einem Dritten von der Begleichung rückständiger Abgaben abhängig macht, erzeugt eine Drucksituation, die die Anfechtung wegen inkongruenter Deckung rechtfertigen kann. Problemstellung: Am 25.11.1999 beantragte das Finanzamt L. die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der LKS L. Kies und Sand GmbH (Schuldnerin). Diese stellte am 31.1.2000 einen Eigenantrag. Aufgrund beider Anträge eröffnete das AG am 22.6.2000 das Insolvenzverfahren. Der Kl. als Insolvenzverwalter hat nach Insolvenzanfechtung von dem bekl. Land Zahlung von 107.401,26 DM (54.913,39 €) verlangt. Die Schuldnerin, die an das Bergamt Förderabgaben gem. BergbauG zu zahlen hatte, beabsichtigte, Bergbaurechte an die Firma H. Kies Sand Recycling GmbH & Co. KG zu übertragen. Dies bedurfte der Zustimmung des Bergamtes. Mit Schreiben v. 14.12.1999 teilte es der Schuldnerin mit, dass die Zustimmung zur Übertragung der Förderungsrechte erst nach Ausgleich der Rückstände v. 107.401,26 DM erfolgen könne. Am 17.1.2000 veräußerte die Schuldnerin u.a. die Kies- und Ausbeutungsrechte auf dem B. Tagebau L. an die Firma H. Kies Sand Recycling GmbH & Co. KG. Der notarielle Vertrag lautet auszugsweise: »§ 1 Vertragsgegenstand Verkauft und abgetreten werden, wobei die Käuferin die Übernahme und Abtretung annimmt, das Know-how, die Bergabbauberechtigung bzgl. Abbaus von Kies und Kiessanden, Vertragsunterlagen …, Teile des Anlagevermögens, Hauptbetriebspläne sowie Antragsunterlagen … . Verbindlichkeiten werden nicht übernommen. § 2 Kaufpreis, Zusammensetzung des Kaufpreises 1. Der Kaufpreis insgesamt 700.000 DM + 16% MwSt 112.000 DM, insgesamt 812.000 DM ... 4. Die Zahlung des gesamten Kaufpreises einschließlich Mehrwertsteuer hat auf das Notaranderkonto des beurkundenden Notars bei der Volksbank ... zu erfolgen. Die Erfüllung des Kaufpreiszahlungsanspruches des Käufers erfolgt durch Einzahlung des Kaufpreises auf dem Notaranderkonto. § 3 Kaufpreisfälligkeit 1. Der gesamte Kaufpreis ist umgehend auf das vom beurkundenden Notar eingerichtete Notaranderkonto zu Zahlung fällig.

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Der Notar wird von den Vertragsparteien unwiderruflich angewiesen, aus dem Kaufpreis unmittelbar bis zum 15.3.2000 folgende Zahlungen zu leisten: a) DM 107.401,26 an Bergamt S. gem. § 10 Ziff. 2 …«

Diesen Betrag erhielt das Bergamt von dem Notar. Mit Schreiben v. 21.3.2001 erklärte der Kl. die Anfechtung der Zahlung. Das bekl. Land wandte ein, ihm habe die Zahlung zugestanden. Der streitgegenständliche Betrag stamme nicht aus dem Vermögen der Schuldnerin, vielmehr sei er von dem Notaranderkonto an das Bergamt geflossen. Das Land bestritt zudem die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin sowie Kenntnis der Umstände, die darauf schließen ließen. Das LG wies die Klage ab. Die Berufung des Kl. hatte Erfolg. Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Das bekl. Land ist gem. § 143 Abs.1 Satz 1 InsO verpflichtet, den ihm von dem Notaranderkonto zugeflossenen Betrag zur Insolvenzmasse zurückzugewähren, denn der Kl. hat diese Zahlung wirksam als inkongruente Deckungshandlung gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO angefochten. 1. Die angefochtene Handlung nahm die Schuldnerin nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor. (Das OLG Rostock legt diesen Punkt ausführlich dar.) 2. Durch die Entrichtung der Förderabgabe in der in dem notariellen Vertrag v. 17.1.2000 niedergelegten Weise wurden die Insolvenzgläubiger benachteiligt, denn der an die Schuldnerin ausgekehrte oder auf dem Notaranderkonto zu ihren Gunsten verbliebene Kaufpreis wäre in die Insolvenzmasse gefallen. 3. Die Auszahlung des Kaufpreisanteils unmittelbar an das Bergamt war eine inkongruente Deckung iSd § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO. a) Zwar hatte das Bergamt Anspruch auf diese Zahlung, der Anspruch war auch fällig, jedoch konnte es nicht Zahlung in der Weise und auf dem Wege beanspruchen, wie sie tatsächlich erfolgte, nämlich weder von dem Notar noch von der Firma H. Kies Sand Recycling GmbH & Co. KG. Der übliche Zahlungsweg ist die bargeldlose Zahlung unter Einschaltung einer Bank. Dass der Schuldner der Schuldnerin den Kaufpreis auf das Notaranderkonto überwies, ist ebenfalls nicht ungewöhnlich; indessen zahlt der Notar üblicherweise nach Erfüllung der Auszahlungsvoraussetzungen den Kaufpreis an die Gläubigerin der Kaufpreisforderung aus. Dass vorliegend der gewählte Zahlungsweg hiervon erheblich abweicht, bedarf keiner weiteren Begründung. Insbes. lässt sich nicht damit argumentieren, der Notar habe wie eine Bank lediglich als Zahlstelle fungiert, denn der Zahlungsweg wurde bewusst so gestaltet, dass ein Teil des Kaufpreises dem Vermögen der Schuldnerin fern gehalten und unmittelbar dem Bergamt zur Tilgung der rückständigen Förderabgaben zufloss. Das Bergamt, dem die Liquiditätsprobleme der Schuldnerin bekannt waren, veranlasste ein Verhalten der Schuldnerin, das auf die eigene Befriedigung auf Kosten der übrigen Gläubiger hinauslief und dem Grundsatz der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger widersprach. b) Die Inkongruenz der Zahlung ergibt sich zudem aus der Drucksituation. Der Kl. verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass gem. § 22 BBergG die Zustimmung zur Übertragung der Abbaurechte an einen Dritten nur unter bestimmten Voraussetzungen, die nicht vorgelegen hätten, versagt werden dürfe. Selbst wenn das Bergamt berechtigt gewesen sein sollte, seine Zustimmung von der Begleichung der rückständigen Förderungsabgaben abhängig zu machen, folgt die Inkongruenz der Deckungshandlung daraus, dass es die Entschließungsfreiheit der Schuldnerin durch Druck beeinträchtigt hat, um sie zur Zahlung zu veranlassen. Ebenso inkon-

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gruent wie eine Leistung zur Abwendung der Zwangsvollstreckung ist eine Leistung zur Abwendung eines Insolvenzantrags, auch wenn der Gläubiger Anspruch auf die Zahlung hat (BGH, ZIP 2004, 319 = WM 2004, 299). Zwar kündigte vorliegend das Bergamt nicht Einzel- oder Gesamtzwangsvollstreckungsmaßnahmen an, um die Schuldnerin zur Abtragung der Zahlungsrückstände zu bewegen. Indessen ist die Inkongruenz einer unter Druck erbrachten Leistung nicht auf die Androhung derartiger Maßnahmen beschränkt; auch anderer Druck, der dem in wirtschaftlicher Hinsicht gleich oder nahe kommt und die Leistungsmotivation des zur freiwilligen Leistung nicht bereiten Schuldners herstellt, lässt die Leistung inkongruent werden (Lindemann, EWiR 2003, 1153). c) Auf Kenntnis der Benachteiligungsabsicht kommt es im Rahmen des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO ebenso wenig an wie auf Kenntnis des Eröffnungsantrags. Kommentar: Die Entscheidung verdient Beifall. Beachtung findet vor allem, dass das OLG in der Auszahlung des Kaufpreisanteils eine inkongruente Deckung iSd § 131 InsO sieht. 1. Eine wie in der Problemstellung beschriebene Direktzahlung des Schuldners der Schuldnerin an deren Gläubiger ist in der Tat regelmäßig besonders verdächtig, weil sie an den Zahlungsverzug der Schuldnerin und deren Zahlungsschwierigkeiten anknüpft und deshalb inkongruent ist (so im Übrigen auch BGH, ZInsO 2002, 766 [Nichtannahmebeschl. zu OLG Dresden, ZIP 1999, 2161]; MünchKomm-Kirchhof, InsO, § 131 Rz 35; Kreft, in: HKInsO, 3. Aufl., § 131 Rz 9). Vorliegend waren die ständigen Zahlungsrückstände der Schuldnerin ein deutliches Anzeichen für Liquiditätsprobleme und das Bergamt hatte erkannt, dass diese nur unter Einsatz des Verkaufserlöses die Rückstände würde abtragen können. Durch Verknüpfung der Schuldentilgung mit der Zustimmung zur Übertragung der Förderungsrechte wirkte das Bergamt auf die Entschließungsfreiheit der Schuldnerin ein und erzeugte eine Drucksituation, die in ihrem Gewicht der Androhung eines Insolvenzantrags oder einer Zwangsvollstreckung gleichkommt. Unerheblich ist, dass der Insolvenzantrag schon zuvor gestellt war, denn der Antrag des Finanzamts war dem Bergamt nicht bekannt. 2. Zu Recht stützt das Gericht die Inkongruenz der Deckung iSd § 131 InsO auf die hier entstandene Drucksituation: So ist in der Rspr. anerkannt, dass eine Leistung des Schuldners zur Vermeidung einer Zwangsvollstreckung inkongruent ist, auch wenn der Gläubiger Anspruch auf die Zahlung hat (vgl. BGHZ 136, 309 = ZIP 1997, 1929, dazu EWiR 1998, 37 [Gerhardt]; BGH, ZIP 2002, 1159 = NJW 2002, 2568 = NJ 2002, 537 [bearb. v. Biehl]; BGH, ZIP 2002, 228, dazu EWiR 2002, 297 [Grothe]; BGH, ZIP 2003, 1304 = NJW-RR 2003, 1201, dazu EWiR 2003, 831 [Eckardt] ). Rechtsanwalt Dr. Kristof Biehl, Potsdam

 02.13 – 11/04

Erlassvertrag für Bürgschaftsansprüche und Insolvenzanfechtung OLG Brandenburg, Urteil vom 9. März 2004 – 11 U 95/03 (LG Frankfurt [Oder]) (rechtskräftig) BGB §§ 397 Abs. 1, 765 Abs. 1; InsO § 144 Abs. 1 1. Allein die Rückgabe der Bürgschaftsurkunde führt noch nicht zum Erlöschen der Verpflichtungen aus dem Bürgschaftsvertrag. 2. Zu den Voraussetzungen für einen Erlassvertrag und zum Wiederaufleben von Bürgschaftsforderungen bei Insolvenzanfechtung. (Leitsätze der Redaktion)

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R e c h t s p re c h u n g Die Parteien streiten um Bürgschaftsansprüche der Kl. gegen den Bekl. nach einer Insolvenzanfechtung des Insolvenzverwalters der Hauptschuldnerin gegenüber der Kl. Der Bekl. war gemeinsam mit dem gesondert in Anspruch genommenen Herrn … Geschäftsführer der T.-GmbH. Die Kl. war die Hausbank der Gesellschaft, die bei der Kl. zwei Konten unterhielt. Die Kreditverbindlichkeiten bei der Kl. waren durch Bürgschaften der geschäftsführenden Gesellschafter vom Febr. 1997 gesichert. 1999 geriet die GmbH in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Kl. kündigte am 30.7.1999 sowohl das Girokonto als auch den Darlehensvertrag. Später löste die Gesellschaft noch Schecks ein und es erfolgten Bareinzahlungen durch den Bekl. sowie Überweisungen. Am 18.8.1999 stellte der Mitgeschäftsführer Insolvenzantrag. Das Insolvenzverfahren wurde am 19.10.1999 eröffnet. Bereits unter dem 30.8.1999 hatte die Kl. die Bürgschaftsurkunde an die Bürgen, also auch an den Bekl., zurückgesandt. In dem beigefügten Formblatt war die Formulierung angekreuzt: »Die uns eingeräumten Rechte übertragen wir hiermit zurück. Die entsprechenden Unterlagen werden ausgehändigt«.

Im Sept. 2001 nahm der Insolvenzverwalter die Kl. im Wege der Insolvenzanfechtung in Anspruch. Nach einem Vergleich zahlte die Kl. 90.000 M. Diesen Betrag forderte sie aus der ursprünglichen Bürgschaft vom Bekl. zurück. Zu einem Erlassvertrag sei es nicht gekommen. Hilfsweise hat sie einen möglichen Erlassvertrag angefochten und schließlich die Klage auf abgetretene Ansprüche des Insolvenzverwalters aus § 64 Abs. 2 GmbHG gestützt. Der Bekl. vertrat die Auffassung, seine Bürgschaftsverpflichtung sei durch Erlass beendet worden. Eine Anfechtung des Erlasses käme nicht in Frage. Darüber hinaus fehle es an den Voraussetzungen einer wirksamen Insolvenzanfechtung. Das LG hat die Klage mit Urt. v. 15.8.2003 abgewiesen (NJ 2003, 661 [bearb. v. Biehl] ). Die Berufung der Kl. hatte Erfolg. Aus den Entscheidungsgründen: Die Kl. hat gegenüber dem Bekl. weiterhin einen Anspruch aus der … Bürgschaftsurkunde. Die Ansprüche sind nicht durch Abschluss eines Erlass- oder Verzichtsvertrags zwischen den Parteien erloschen. Der Abschluss eines Erlassvertrags ergibt sich nicht aus der Rückgabe der Bürgschaftsurkunde. Auch die weiteren Voraussetzungen für die Annahme eines derartigen Vertrags liegen nicht vor. Allein die Rückgabe der Bürgschaftsurkunde führt, selbst wenn dies in der Bürgschaftsurkunde ausdrücklich vorgesehen ist, noch nicht zum Erlöschen der Verpflichtungen aus dem Bürgschaftsvertrag. Erlöschen kann die Bürgschaft nur durch Abschluss eines gesonderten Erlassvertrags (… Habersack, in: MünchKomm, 3. Aufl., § 765 Rn 59). Ein derartiger Erlassvertrag kann zwar auch konkludent geschlossen werden. Regelmäßig erforderlich ist aber ein eindeutiges Verhalten des Gläubigers, aus dem sich sein Wille zum Erlass der Forderung klar und sicher ergibt (…). Die Annahme eines Erlassvertrags liegt daher nahe, wenn der Bestand oder der Umfang der Bürgschaftsschuld zwischen den Parteien streitig war, der Bürge den Gläubiger unter Angabe von Gründen aufgefordert hat, ihn aus der Bürgschaft zu entlassen und ihm hierauf die Bürgschaftsurkunde übersandt wird (OLG Dresden, BB 1999, 497). Diese Voraussetzungen sind im Verhältnis der Parteien nicht gegeben. Auch aus der in dem Übersendungsschreiben angekreuzten Formulierung lässt sich der Abschluss eines Erlassver-

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Bürgerliches Recht

trags zwischen den Parteien nicht herleiten. Es handelt sich bei der Übersendung offensichtlich um ein schlichtes Formschreiben, in dem von dem Sachbearbeiter einzelne vorgedruckte Passagen nur angekreuzt werden. Die Formulierung »Die uns eingeräumten Rechte übertragen wir hiermit zurück« war aus Sicht des Bekl. nicht dahin zu verstehen, die Kl. habe ihm den Abschluss eines Erlassvertrags anbieten und rechtsgestaltend tätig werden wollen. Auch nach den vorangegangenen Verhandlungen zwischen den Parteien konnte der Bekl. das Verhalten der Kl. nur dahin verstehen, dass diese, nachdem die Konten, deren Sicherung die abgegebenen Bürgschaftserklärungen dienten, nach den vorgenommenen Buchungen keinen Negativsaldo mehr aufwiesen und damit auf der Grundlage der vorliegenden Kontenauszüge eine gesicherte Hauptforderung nicht mehr bestand, die bis dahin bestehende Geschäftsbeziehung auch verwaltungstechnisch abwickeln wollte. … Für die Annahme, die Kl. habe insoweit mit dem Bekl. eine eigenständige, die Rechtslage gestaltende Regelung treffen wollen, spricht nichts. Insbes. bestand zwischen den Parteien keinerlei Auseinandersetzung, Unsicherheit oder Streitigkeit … . Es bestand aus der für den Bekl. erkennbaren Sicht der Kl. auch kein Anlass für den Abschluss eines Erlassvertrags, da … die Konten keinen Negativsaldo mehr aufwiesen, also eine Forderung, die etwa hätte erlassen werden können, weder aus Sicht der Kl. noch aus Sicht des Bekl. bestand. Für die weitergehende Annahme, die Parteien hätten im Zeitpunkt der Übersendung der Bürgschaftsurkunden Anlass für eine Regelung gesehen, in der die Kl. … sich gegenüber dem Bekl. bereit finden wollte, auch auf möglicherweise zukünftig wieder entstehende Ansprüche zu verzichten, spricht nichts … Insbes. ist nichts dafür erkennbar, dass die Kl. … zum Ausdruck bringen wollte, den Bekl. auch im Falle einer erfolgreichen Insolvenzanfechtung nicht mehr aus der Urkunde in Anspruch nehmen zu wollen. Der Umstand, dass sich dann nach der Rückgabe die Bürgschaftsurkunde nicht mehr im Besitz der Bürgschaftsgläubigerin befand, ist für den Fortbestand der Bürgschaftsverpflichtung unbeachtlich. … Darüber hinaus wäre selbst bei einer anderen Auslegung die Bürgschaftsforderung gem. § 144 InsO bei einer erfolgreichen Insolvenzanfechtung durch den Insolvenzverwalter wieder aufgelebt. Nach dieser Bestimmung lebt die erloschene Forderung, soweit der Empfänger einer anfechtbaren Leistung das Erlangte zurückgewährt, wieder auf. Infolge der Vorschrift entsteht die zunächst getilgte Forderung mit der Rückgewähr ohne weiteres und mit Rückwirkung auf die Zeit unmittelbar vor der Insolvenzeröffnung wieder (Kirchhoff, in: MünchKomm zur InsO, 2002, § 144 Rn 8). Zusammen mit der zunächst getilgten Forderung leben auch die für die Forderung bestellt gewesenen Neben- und Sicherungsrechte wieder auf. Dies gilt zunächst für die vom Insolvenzschuldner gestellte Sicherung und zwar sowohl für akzessorische als auch für nicht akzessorische Sicherheiten. Entsprechendes gilt für Sicherheiten, die von Dritten für die Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners bestellt waren, z.B. Bürgschaften (BGH, NJW 1974, 57). Soweit zur Begründung akzessorischer Sicherheiten ein Realakt nötig ist, hat der ursprüngliche Sicherungsgeber oder Insolvenzverwalter mitzuwirken. Urkunden über die anfechtbar getilgten Forderungen … sind zurückzugeben und ggf., falls vernichtet, wieder herzustellen (…). Soweit die Parteien in der Annahme, die gesicherte Forderung sei erloschen, eine vertragliche Änderung der Sicherungsvereinbarung getroffen haben, entfällt für diese

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Bürgerliches Recht

mit wirksamer Anfechtung die Geschäftsgrundlage. Die ursprüngliche Sicherheit ist wieder herzustellen (OLG Brandenburg, WM 2001, 626).

04 VERWALTUNGSRECHT

Die Kl. kann somit gegenüber dem Bekl. ihre Rechte aus der von diesem gestellten Bürgschaft wieder geltend machen, soweit sie im Hinblick auf eine erfolgreiche Insolvenzanfechtung durch den Insolvenzverwalter zur Tilgung der Forderung empfangene Beträge rückgewähren musste. …

Voraussetzungen eines Vorkaufsrechts nach dem VermG

Die Voraussetzungen für eine Insolvenzanfechtung lagen vor. In Höhe eines Betrags von 77.719.07 DM lagen die Voraussetzungen … gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO bereits deshalb vor, weil die Kl. mit der Hereinnahme dieser Schecks eine inkongruente Deckung erhielt. (wird ausgeführt) Hinsichtlich der übrigen Zahlungen war die Anfechtung gem. § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründet. (wird ausgeführt)

(mitgeteilt von Rechtsanwalt Dr. Kristof Biehl, Potsdam)

 02.14 – 11/04

Auskunfts- und Einsichtsrecht der GmbH-Gesellschafter OLG Jena, Beschluss vom 14. September 2004 – 6 W 417/04 (LG Mühlhausen) (rechtskräftig) GmbHG § 51 a; BGB § 242 1. Bei der Ausübung des Auskunfts- und Einsichtsrechts gem. § 51 a GmbHG ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. 2. Die Geschäftsführung ist nicht verpflichtet, die Gesellschafter regelmäßig ungefragt zu unterrichten. Eine Pflicht zur unaufgeforderten, automatischen und präventiven Information kennt § 51 a GmbHG nicht. Ein solcher Anspruch kann sich allenfalls dann ergeben, wenn die Gesellschaft ein regelmäßiges Berichtssystem eingeführt hat. 3. Der Gesellschafter muss das schonendste Mittel zur Erfüllung seines Informationsbedürfnisses wählen. Er kann gehalten sein, an einer zeitnah stattfindenden Gesellschafterversammlung teilzunehmen, wenn diese Form der Auskunftserteilung für die GmbH – organisatorisch betrachtet – ein milderes Mittel gegenüber der Einsichtnahme ist. 4. Das gesellschaftsrechtliche Informationsrecht ist ein einheitliches Recht, das nicht in ein Auskunfts- und ein Einsichtsrecht aufgespaltet werden darf. Auskunft und Einsichtnahme sind lediglich unterschiedliche Informationsmittel; das Auskunftsverlangen kann durch Einsichtgewährung und ein Einsichtverlangen durch Auskunftserteilung erfüllt werden. Der Gesellschafter hat nicht das Recht zu bestimmen, ob Auskunft oder Einsichtnahme gewährt werden soll. Das aus den Umständen des Einzelfalls objektiv zu bestimmende Informationsinteresse bestimmt, welches der Unterrichtungsmittel einem Gesellschafter jeweils zur Verfügung steht. 5. Darf der Gesellschafter Grund zum Zweifel an der richtigen und vollständigen Erfüllung seines Informationsanspruches haben, kann er über die erteilte Auskunft hinaus Einsicht in die betreffenden Unterlagen fordern. 6. Ein Gesellschafter, welcher an der Gesellschafterversammlung nicht teilnimmt und nachträglich der Geschäftsführung ständig neue Fragen stellt, verhält sich rechtsmissbräuchlich. 7. Der Begriff der »Angelegenheit der Gesellschaft« ist weit und umfassend zu verstehen und umfasst auch die Frage nach der Möglichkeit der Rückführung von Gesellschaftsdarlehen und die Höhe der Geschäftsführervergütung. Ein Informationsrecht ist erst dann nicht gegeben, wenn rein private Umstände Gegenstand der Auskunft sind. Darlehen, welche ein Gesellschafter seiner GmbH gewährt, fallen in den Bereich der Innenbeziehungen und stellen eine Angelegenheit der Gesellschaft dar.

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 04.1 – 11/04

BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 – 8 C 14/03 (VG Weimar) VermG §§ 20 Abs. 4 u. 6, 20 a; BGB § 472 1. Die Regelung über das Vorkaufsrecht nach § 20 a Satz 1 VermG erfasst nicht nur den Ausschluss der Rückübereignung wegen redlichen Erwerbs nach § 4 Abs. 2 VermG, sondern auch andere Fälle, in denen die Rückübertragung des Grundstücks wegen des Erwerbs des Eigentums oder eines dinglichen Nutzungsrechts durch Dritte ausgeschlossen ist. 2. Der Fall des ersten Verkaufs iSd § 20 Abs. 6 Satz 2 VermG kann erst eintreten, nachdem das Vorkaufsrecht durch Eintragung im Grundbuch entstanden ist. Problemstellung: Die Parteien stritten um die Einräumung eines Vorkaufsrechts nach § 20 a VermG. Der ursprüngliche Eigentümer des streitgegenständlichen Grundstücks starb 1975. Da alle Erbberechtigten die Erbschaft ausschlugen, wurde das Grundstück in Volkseigentum überführt. Drei der insges. sieben Erbberechtigten stellten am 24.9.1990 gemeinsam einen Antrag auf Rückübertragung des Grundstücks, die Kl. – auch eine Erbberechtigte – am 13.10.1990. Durch zwei Bescheide v. 13.9.1991 lehnte das ARoV den Antrag der Kl. ab und übertrug das Eigentum am Grundstück den anderen drei Anspruchstellern. Auf den Widerspruch der Kl. hob das LARoV diese Bescheide auf und verwies die Angelegenheit zur erneuten Entscheidung an das ARoV zurück. Auf die gegen die neuen Bescheide des ARoV jeweils erhobenen Klagen schlossen die Beteiligten vor dem VG am 13.11.2002 einen Vergleich, in dem sich der Bekl. verpflichtete festzustellen, dass u.a. die Kl. Berechtigte iSd VermG sei. Bereits am 11.3.1992 waren auf Ersuchen des ARoV die drei Erbberechtigten, deren Berechtigung nach dem VermG mit Bescheid v. 13.9.1991 festgestellt worden war, als Eigentümer des Grundstücks in das Grundbuch eingetragen worden. Durch notariellen Kaufvertrag v. 14.4.1992 veräußerten sie das Grundstück an einen Dritten, der – nachdem die Stadt E. im Juli 1992 die Grundstücksverkehrsgenehmigung erteilt hatte – am 13.11.1992 als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen wurde. Der neue Eigentümer veräußerte das Grundstück mit notariellem Vertrag v. 27.4.2001 weiter; der Käufer wurde am 10.9.2001 als Eigentümer im Grundbuch eingetragen. Im Juli 2000 beantragte die Kl. beim ARoV die Einräumung eines Vorkaufsrechts nach § 20 a VermG an dem Grundstück. Mit Bescheid v. 12.3.2001 lehnte das ARoV den Antrag ab, den Widerspruch der Kl. wies das LARoV zurück, da die Kl. nicht Berechtigte iSd § 2 Abs. 1 VermG sei. In ihrer daraufhin erhobenen Klage beantragt die Kl., ihr bzw. hilfsweise der Erbengemeinschaft ein Vorkaufsrecht an dem Grundstück einzuräumen. Das VG wies die Klage ab: Die Kl. könne nicht für sich im eigenen Namen die Einräumung eines Vorkaufsrechts beanspruchen, sondern allenfalls gesamthänderisch als eine von mehreren Miterben. Auch der Hilfsantrag sei unbegründet, da § 20 a Satz 1 VermG nur den Ausschluss der Rückübertragung wegen redlichen Erwerbs nach § 4 Abs. 2 VermG erfasse und nicht den Fall, dass die Rückübertragung wegen einer wirksam erteilten Grundstücksverkehrsgenehmigung ausgeschlossen sei. Die Revision der Kl. war bzgl. des Hilfsantrags erfolgreich.

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R e c h t s p re c h u n g Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Der Hauptantrag ist nicht begründet, da nach § 20 Abs. 4 Satz 1 VermG, der gem. § 20 a Satz 5 VermG sinngemäß anzuwenden ist, das Vorkaufsrecht bei mehreren Anspruchsberechtigten diesen gemeinschaftlich zusteht. Diese Regelung schließt einen Anspruch der Kl. auf Einräumung des Vorkaufsrechts an sie allein aus. Das Vorkaufsrecht ist auch nicht gem. § 472 Satz 2 BGB auf ihre Person reduziert, weil die anderen Miterben nicht fristgemäß einen Antrag auf Einräumung des Rechts gestellt haben, denn diese Norm regelt nur die Ausübung eines bereits entstandenen Vorkaufsrechts bei mehreren Berechtigten. Die Revision ist aber hinsichtlich des Hilfsantrags begründet. Ein Vorkaufsrecht nach § 20 a Satz 1 VermG kann nicht nur dann eingeräumt werden, wenn ein Grundstück deshalb nicht zurückübertragen werden kann, weil Dritte aufgrund redlichen Erwerbs gem. § 4 Abs. 2 VermG ein Eigentumsrecht oder dingliches Nutzungsrecht an ihm erworben haben, sondern auch in anderen Fällen des Ausschlusses der Rückübertragung, wie z.B. wegen des Eigentumserwerbs Dritter aufgrund einer Grundstücksverkehrsgenehmigung. § 20 a VermG trägt dem Affektionsinteresse des Berechtigten an dem Grundstück dadurch Rechnung, dass der Berechtigte die Möglichkeit erhält, das Grundstück zurückzuerwerben, wenn der derzeitige Eigentümer es weiterverkauft. Ausgehend von dieser Zielsetzung besteht das Bedürfnis an einem Interessenausgleich in allen Fällen des Restitutionsausschlusses und nicht nur beim Restitutionsausschluss wegen redlichen Erwerbs. Diese Auffassung wird durch die Erläuterungen der Bundesregierung zu § 20 Abs. 2 VermG aF bestätigt, der vor Einfügung des § 20 a VermG durch das RegVBG v. 20.12.1993 (BGBl. I S. 2182) die entsprechende Regelung enthielt. Darin wird der redliche Erwerb gem. § 4 Abs. 2 u. 3 VermG nur als Beispiel für den Ausschluss eines Rückübertragungsanspruchs bezeichnet. Weiteres dort angeführtes Beispiel ist die Veräußerung nach Ablauf der Anmeldefrist gem. § 3 Abs. 4 Satz 3 VermG. Entscheidend ist nur, »dass der Berechtigte sein früheres Grundstück nicht zurückerhält und an diesem zwischenzeitlich Eigentums- oder dingliche Nutzungsrechte begründet worden sind« (BT-Drucks. 11/7831, S. 12). Das Vorkaufsrecht ist auch nicht dadurch untergegangen, dass die Käuferin des Grundstücks dieses zwischenzeitlich weiterveräußert hat. Zwar gilt das Vorkaufsrecht gem. § 20 a Satz 5 iVm § 20 Abs. 6 Satz 2 VermG nur für den Fall des ersten Verkaufs. Durch diese Formulierung wird aber mit Blick auf § 1097 BGB lediglich zum Ausdruck gebracht, dass es nur einmal, nämlich anlässlich des ersten Verkaufs, ausgeübt werden kann (BT-Drucks. 12/6228, S. 104). Damit diese Möglichkeit besteht, muss das Vorkaufsrecht bereits entstanden sein. Dies setzt gem. § 20 a Satz 5 iVm § 20 Abs. 6 Satz 1 VermG voraus, dass der Bescheid, mit welchem dem Antrag auf Einräumung des Vorkaufsrechts stattgegeben wurde, unanfechtbar geworden und die Eintragung im Grundbuch erfolgt ist. Vor diesem Zeitpunkt liegende Verkäufe berühren das Vorkaufsrecht nicht, weil es sonst in der Hand des Eigentümers läge, durch einen Verkauf, auf den der Vorkaufsberechtigte keinen Einfluss hat, das Recht zum Untergang zu bringen. § 20 Abs. 6 Satz 3 VermG steht dieser Auslegung nicht entgegen, weil ihm nur klarstellende Funktion dahingehend zukommt, dass der Abschluss eines Kaufvertrags vor Eintragung des Vorkaufsrechts im Grundbuch noch keinen Fall des § 20 Abs. 6 Satz 2 VermG darstellt. Kommentar: Grund für den Rechtsstreit war ein Fehler des ARoV. Das ARoV hat nach § 34 Abs. 2 Satz 1 VermG die Pflicht, im Falle der Rücküber-

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tragung ein entsprechendes Berichtigungsersuchen beim Grundbuchamt zu stellen. Allerdings darf dieses Ersuchen erst gestellt werden, wenn die Entscheidung über die Rückübertragung unanfechtbar geworden ist. Dies ergibt sich mittelbar aus § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VermG sowie aus § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GVO. Im vorliegenden Fall hat das ARoV das Ersuchen offensichtlich bereits gestellt, als die Rechtsmittelfrist noch lief, und zudem das Ersuchen dann nach Eingang des Widerspruchs gegen den Restitutionsbescheid nicht zurückgenommen. Durch die aufgrund des ARoV-Antrags erfolgte Grundbucheintragung musste die Stadt E. davon ausgehen, dass beim ARoV keine ungeklärten Restitutionsansprüche mehr vorliegen, und erteilte – aus ihrer Perspektive zu Recht – die Grundstücksverkehrsgenehmigung. Somit kam es zu einer atypischen Situation, die vom Gesetzgeber nicht – zumindest nicht ausdrücklich – geregelt wurde. Das BVerwG hat eine Lösung gefunden, die derjenigen Rechtslage entspricht, die bestanden hätte, wenn das ARoV ordnungsgemäß gehandelt hätte. Dieser Lösungsweg überzeugt, denn nur so kann die vom Gesetzgeber gewollte Berücksichtigung des Affektionsinteresses des Berechtigten umgesetzt werden. Die Alternative wäre gewesen, den Berechtigten auf einen Amtshaftungsanspruch gegen das ARoV zu verweisen – aber wie soll hier ein Schaden beziffert werden? Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass sich die Rspr. zum Restitutionsrecht meist am Sinn und Zweck des Gesetzes orientiert und nicht so sehr am Wortlaut einzelner Bestimmungen. Prof. Dr. Joachim Gruber, D.E.A. (Paris I), Westsächsische Hochschule, Zwickau

 04.2 – 11/04

Bindungswirkung des Rehabilitierungsbescheids im nachfolgenden Restitutionsverfahren BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2004 – 7 C 21/03 (VG Schwerin) VermG §§ 1 Abs. 7, 2 Abs. 1 Satz 1; VwRehaG §§ 9 Abs. 1, 12 Abs. 1 Satz 3 1. Die Bindungswirkung eines Rehabilitierungsbescheids nach § 12 Abs. 1 Satz 3 VwRehaG hindert das Vermögensamt, in nachfolgenden Restitutionsverfahren die Rückübertragung des entzogenen Vermögenswerts mit der Begründung abzulehnen, eine Rechtsnachfolge scheide schon dem Grunde nach aus. 2. Die Bindungswirkung eines Rehabilitierungsbescheids ist zu Gunsten solcher Verfügungsberechtigter eingeschränkt, denen die Möglichkeit genommen war, den Rehabilitierungsbescheid mit Einwendungen gegen die Berechtigung des Antragstellers anzufechten. Problemstellung: Der Kl. begehrte die vermögensrechtliche Rückübertragung mehrerer Grundstücke. Sein Vater erhielt 1946 aus der Bodenreform eine Neubauernstelle zugeteilt; er wurde 1961 mit seiner Familie zwangsumgesiedelt und die verlassene Neubauernstelle wurde in Volkseigentum überführt. Rechtsträger einer Teilfläche mit den Gebäuden der Hofstelle wurde der Rat der Gemeinde B. Eigentümer dieses Grundstücks ist heute die Beigel. zu 4. Sie hat es 1991 an die Beigel. zu 1 u. 2 verkauft, zu deren Gunsten eine Vormerkung im Grundbuch eingetragen ist. Im Übrigen wurde Rechtsträger eine LPG. Diese Grundstücke stehen heute im Eigentum der Beigel. zu 3. Der Vater des Kl. verstarb 1984 und wurde von diesem beerbt. Auf Antrag des Kl. hob die Rehabilitierungsbehörde mit Bescheid von 1996 die Zwangsumsiedlung auf und erklärte die Entziehung

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der Neubauernstelle für rechtsstaatswidrig. Durch die Enteignung liege beim Erben heute noch eine schwere und unzumutbare Beeinträchtigung vor; der Kl. wäre im Erbgang Eigentümer des Grundstücks geworden. Die Klage der Beigel. zu 3. gegen den Rehabilitierungsbescheid hatte auch vor dem BVerwG (3. Senat) keinen Erfolg: Die Beigel. werde durch den Bescheid auch dann nicht in ihren Rechten verletzt, wenn dadurch der Kl. als Berechtigter iSv § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG feststehe (Urt. v. 14.6.2001, NJ 2001, 607 [bearb. v. Keßler] ). Bereits 1998 hatte der Bekl. den Restitutionsantrag des Kl. abgelehnt, weil dieser hinsichtlich der Neubauernstelle nicht Rechtsnachfolger seines Vaters sei. Auf seine Klage erhob das VG Beweis über die Verwaltungspraxis der DDR bei Überprüfungen der Rechtsnachfolge bzgl. Neubauernstellen durch Vernehmung eines früheren Mitarbeiters des DDR-Landwirtschaftsministeriums. Es wies die Klage mit der Begründung ab, mit der Rehabilitierungsentscheidung stehe die Rückgabeberechtigung des früheren Rechtsinhabers, nicht aber die Rechtsnachfolge fest. Zudem müsse aus Gründen rechtlichen Gehörs dem Verfügungsberechtigten die im Rehabilitierungsverfahren ausgeschlossene Rechtsverteidigung im Restitutionsverfahren möglich sein. Die Bodenreformstelle wäre zwar mit dem Tode des Erblassers beim Erben angefallen. Jedoch hätten staatliche Stellen nach den einschlägigen Besitzwechselverordnungen entscheiden müssen, ob der Erbe das Bodenreformeigentum habe behalten dürfen. Rechtsnachfolger iSd § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG könne nur ein staatlich bestätigter Erbe sein. Mit seiner dagegen gerichteten Revision machte der Kl. geltend, das VG habe die Bindungswirkung des Rehabilitierungsbescheids verkannt. Als Rechtsnachfolger komme nur er in Betracht; dies habe auch die Beweisaufnahme ergeben. Die Beigel. zu 3. u. 4. als Träger öffentlichen Rechts seien nicht grundrechtsfähig und hätten daher keinen Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Revision hatte keinen Erfolg. Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: 1. Das VG durfte entscheiden, ob der Kl. Rechtsnachfolger seines Vaters ist. a) Nach § 12 Abs. 1 Satz 3 VwRehaG sind die Feststellungen der Rehabilitierungsbehörde bindend für die Stellen, die über Folgeansprüche entscheiden. Die Bindung umfasst die Feststellung der anspruchsbegründenden Voraussetzungen, nämlich ob (1.) eine Verwaltungsmaßnahme einer deutschen behördlichen Stelle im Beitrittsgebiet zwischen dem 8.5.1945 und dem 2.10.1990, die (2.) mit Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar ist und (3.) zu einem Eingriff in eines der Rechtsgüter Gesundheit, Vermögen oder Beruf geführt hat, vorliegt; schließlich müssen (4.) die Folgen des Eingriffs noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken. Bei Eingriffen in die Gesundheit ist die Rehabilitierungsbehörde auf eine bloße Schlüssigkeitsprüfung beschränkt (Urt. v. 9.10.2003, NJ 2004, 185 [bearb. v. Keßler] ), während sie beim Rechtsgut Vermögen abschließend feststellt, ob eine rechtsstaatswidrige Maßnahme zu einem noch fortwirkenden Eingriff geführt hat. § 1 Abs. 7 VermG ist eine bloße Rechtsfolgenverweisung. Werden Vermögensentziehungen nach dem VwRehaG aufgehoben, besteht grundsätzlich die Pflicht zur Rückgabe (Urt. v. 25.2.1999, BVerwGE 108, 315; Parallelverfahren: NJ 1999, 275). Anspruchsberechtigt ist auch der Erbe (Urt. v. 29.8.1996, Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 23 = NJ 1997, 55 [Leits.]). Mit der bindenden Feststellung der Rehabilitierungsbehörde, dass der Vermögenswert dem Grunde nach dem Rechtsnachfolger

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des unmittelbar Geschädigten zurückzuübertragen ist, ist aber die Person des Rechtsnachfolgers noch nicht festgelegt, da nach § 9 Abs. 1 VwRehaG nach dem Tod des unmittelbar Geschädigten jeder antragsberechtigt ist, der ein rechtliches Interesse an der Rehabilitierung hat. Dafür reicht es, wenn der Antragsteller als Rechtsnachfolger iSd § 2 Abs. 1 VermG in Betracht kommt. Nimmt die Rehabilitierungsbehörde an, der Antragsteller habe ein berechtigtes Interesse, weil er als Rechtsnachfolger die Rückübertragung verlangen könne, ist damit nur eine vorläufige Beurteilung ausgesprochen. Das Vermögensamt ist nicht gehindert zu prüfen, ob der Antragsteller wirklicher Erbe des Geschädigten ist. b) Die Bindung an die Feststellung des Rehabilitierungsbescheids, der einer Feststellung der Berechtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG gleichkommt (Urt. v. 25.2.1999, aaO), wirkt nicht zu Lasten der Beigel. zu 3. u. 4. Für sie ist der Rehabilitierungsbescheid der Rechtsgrund, aus dem ihnen ihr Eigentum entzogen werden kann. Sie müssen die Möglichkeit haben, die Fehlerhaftigkeit des Bescheids gerichtlich geltend zu machen. Wenn ihnen dies im Rehabilitierungsverfahren nicht möglich war, muss ihnen diese Befugnis im Restitutionsverfahren eingeräumt werden. Auf die fehlende Grundrechtsfähigkeit der beigel. Gemeinde kommt es nicht an, da ihr bürgerlich-rechtliches Eigentumsrecht jedenfalls einfachrechtlich geschützt ist; insoweit ist ihr wie jedem Prozessbeteiligten wirkungsvoller Rechtsschutz garantiert. Die Beigel. zu 3. u. 4. waren gehindert, gegen den Rehabilitierungsbescheid vorzugehen, da das BVerwG der Beigel. zu 3. unabhängig von dessen Bindungswirkung die Klagebefugnis abgesprochen hat. Dass die Beigel. zu 4. nicht geklagt hat, ist unerheblich, da sie nicht am Verfahren beteiligt war und sich ihr namentlich im Lichte der späteren Entscheidung des BVerwG die Anfechtbarkeit des Rehabilitierungsbescheids nicht aufdrängen musste. 2. Der Kl. ist hinsichtlich des Bodenreformeigentums nicht Rechtsnachfolger seines Vaters iSd § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG, da es schon zu dessen Lebzeiten in Eigentum des Volkes übergegangen ist (st.Rspr; zuletzt Beschl. v. 20.5.2003, Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 73 = NJ 2003, 497 [Leits.]). Das Eigentum konnte zwar auf den Erben des Bodenreformeigentümers übergehen, jedoch nicht allein nach dem bürgerlichen Erbrecht, sondern nur durch (erneute) staatliche Übertragung nach den Vorschriften der Besitzwechselverordnungen (ebenso im Ergebnis BGHZ 140, 223 = NJ 1999, 203). Dem steht das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht entgegen, da das VG den sachverständigen Zeugen dahin verstanden hat, dass jede Eigentumsumschreibung im Grundbuch ein staatliches Tätigwerden erfordert habe. Aus der Aussage ergibt sich nur, dass nach Abschluss der Kollektivierung der Landwirtschaft kein staatliches Interesse mehr bestand, Eigentumswechsel durch Erbschaft im Grundbuch nachzuvollziehen. Deshalb ist der Staat nur auf Initiative des Erben tätig geworden. Kommentar: Das Urteil schließt die Rechtsschutzlücke, die nach dem Urteil des 3. Senats v. 14.6.2001 drohte (vgl. dazu meinen Komm. in NJ 2001, 608), vollständig und – was den vorliegenden Fall betrifft – auf nicht unerwartete Weise. Hinsichtlich der Ausführungen zu 1. a) ist der Inhalt des Rehabilitierungsbescheids unklar: Während es im Urt. v. 14.6.2001 (aaO) noch hieß, der Kl. ist nach dem Tode des Vaters Eigentümer der Grundstücke geworden, soll nach der jetzigen Entscheidung des 7. Senats die Rehabilitierungsbehörde festgestellt haben, der Kl. wäre es geworden. Unabhängig davon erscheint es jedenfalls

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R e c h t s p re c h u n g als Kunstgriff, die offenbar ausdrückliche Feststellung der Restitutionsberechtigung im Rehabilitierungsbescheid im Lichte des § 9 Abs. 1 VwRehaG in eine schlichte Antragsberechtigung umzudeuten. Dass danach die Feststellung der Rechtsnachfolge losgelöst von der Person eines Rechtsnachfolgers bindend sein soll (vgl. 1. Leits.) erweist sich als bedeutungslos, da nach der unter 2. bestätigten Rspr. niemand als Rechtsnachfolger in Frage kommt. Tragfähiger und vor allem nicht nur im vorliegenden Sonderfall des Bodenreformeigentums, sondern auch im Regelfall unbeschränkt vererblichen »vollwertigen« Eigentums anwendbar ist die auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes gestützte zweite Begründungssäule unter 1. b), mit der der 7. Senat die vom 3. Senat aufgestellte Zwickmühle gelöst hat. Der Ansatz ist im Ergebnis überzeugend und schließt sich konsequent an die Rspr. zu solchen Fällen an, bei denen Verfügungsberechtigte in rein vermögensrechtlichen Konstellationen im Falle behördlich festgestellter Restitutionsausschlussgründe trotz fehlender Beschwer auch die Berechtigtenfeststellung angreifen und damit zum Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung machen können (Urt. v. 16.4.1998, NJ 1998, 493 [bearb. v. Kolb]; v. 15.7.1998, NJ 1998, 663 [bearb. v. Keßler], und v. 28.3.2001, NJ 2001, 556 [bearb. v. Schmidt]). Literaturhinweis: Zur Rechtsnatur des Eigentum aus der Bodenreform und zur erbrechtlichen Nachfolge siehe L. Schramm, NJ 2004, 448 ff. (450). RiVG Ulrich Keßler, Berlin

 04.3 – 11/04

Zuverlässigkeit von Flughafenbediensteten und frühere MfSTätigkeit BVerwG, Beschluss vom 15. Juli 2004 – 3 C 33/03 (OVG Bautzen) LuftVG §§ 19 b Abs. 1 Nr. 3, 29 d; Luftverkehr-ZuverlässigkeitsüberprüfungsVO §§ 5, 6, 9 1. Eine frühere Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter beim Staatssicherheitsdienst der ehem. DDR kann nur dann Zweifel an der luftverkehrsrechtlichen Zuverlässigkeit eines Flughafenmitarbeiters begründen, wenn das damalige Verhalten Grund für die Annahme gibt, beim Überprüfen sei aktuell oder künftig ein Verstoß gerade gegen die Anforderungen an die Sicherheit des Luftverkehrs zu befürchten. 2. Zuverlässig iSv § 29 d LuftVG ist nur, wer die Gewähr dafür bietet, die ihm obliegenden Pflichten zum Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor Flugzeugentführungen und Sabotageakten, jederzeit in vollem Umfang zu erfüllen. Wegen des gerade beim Luftverkehr hohen Gefährdungspotenzials und der Hochrangigkeit der zu schützenden Rechtsgüter sind dabei strenge Anforderungen zu stellen. Die Zuverlässigkeit ist bereits dann zu verneinen, wenn an ihr auch nur geringe Zweifel bestehen. 3. Bei der Beurteilung, ob der Überprüfte nach dem Gesamtbild seiner Persönlichkeit das erforderliche Maß an Verantwortungsbewusstsein und Selbstbeherrschung aufbringt, um selbst bei dem In-Aussicht-Stellen von Vorteilen oder der Androhung von Nachteilen die Belange der Sicherheit des Luftverkehrs zu wahren, ist u.a. auf den Grund für die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem MfS und für ihre Beendigung, ihre Dauer und Intensität sowie den Inhalt und Umfang der vom Inoffiziellen Mitarbeiter erstatteten Berichte abzustellen. Daneben ist insbesondere auch das Verhalten nach 1989 zu berücksichtigten.

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4. Der Luftfahrtbehörde steht bei der Feststellung der Zuverlässigkeit der überprüften Person kein Beurteilungsspielraum zu; die behördliche Entscheidung unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Überprüfung. Anm. d. Redaktion: Siehe dazu die Information in NJ 9/04, IV. Zu den Kriterien für die erforderliche Würdigung des Einzelfalls vgl. insbes. BVerwGE 106, 153, 158 f. = NJ 1998, 384 (Leits.); E 108, 64, 68 f. = NJ 1999, 329 (Leits.).

 04.4 – 11/04

Planfeststellung und Entschädigung im nachfolgenden Enteignungsverfahren BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2004 – 9 A 21/03 EnteignungsG LSA §§ 5 Abs. 3, 10 Abs. 1 Satz 1; FStrG § 19 Abs. 5; GG Art. 14 Abs. 1 u. 3; VwVfG LSA § 74 Abs. 2 Wird durch einen Planfeststellungsbeschluss der unmittelbare Zugriff auf ein Teilgrundstück ermöglicht, so ist über eine Entschädigung für die Folgewirkungen dieses Zugriffs auf das Restgrundstück – anders als über den Ausgleich für mittelbare planungsbedingte Grundstücksbeeinträchtigungen – nicht im Planfeststellungs-, sondern im nachfolgenden Enteignungsverfahren zu entscheiden. Das gilt namentlich auch für die Frage, ob dem Enteignungsbetroffenen wegen derartiger Folgewirkungen ein Anspruch auf Übernahme des Restgrundstücks zusteht. Anm. d. Redaktion: Die gegen den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Magdeburg v. 28.2.2003 für die Verlegung der Bundesstraßen B 71 u. B 248 einschließl. der Anbindung der Kreisstr. K 1002 und der Beseitigung plangleicher Bahnübergänge (Fernbahnstrecke Stendal-Uelzen) gerichtete Klage von Grundstückseigentümern hatte keinen Erfolg.

 04.5 – 11/04

Gewährung von Altersteilzeit in der Justiz OVG Greifswald, Beschluss vom 11. Mai 2004 – 2 M 62/04 (VG Greifswald) (rechtskräftig) LBG M-V § 80 a Zu den der Gewährung von Altersteilzeit entgegenstehenden Belangen zählt auch die Gefährdung der angemessenen Bewältigung der bisher von dem Beamten konkret wahrgenommenen Aufgaben. Die Ast. ist Justizbeamtin und begehrt vorläufigen Rechtsschutz, um ab 1.6.2004 Altersteilzeit (im Blockmodell) gewährt zu bekommen. Das VG hat die beantragte einstweilige Anordnung abgelehnt, weil es an einem Anordnungsanspruch fehle. Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte keinen Erfolg. Aus den Entscheidungsgründen: Das VG hat den Anordnungsanspruch mit der Begründung verneint, dass der Bewilligung von Altersteilzeit im Falle der Kl. dringende dienstliche Belange iSv § 80 a Abs. 1 Nr. 4 LBG M-V entgegenstünden. Zu diesen Belangen zählt auch die Gefährdung der angemessenen Bewältigung der bisher von dem Beamten, der die Altersteilzeit begehrt, konkret wahrgenommenen Aufgaben.

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Ve r w a l t u n g s re c h t

Der Ag. hat sich (…) darauf berufen, dass angesichts der derzeitigen Belastungssituation bei dem AG N. das Ausscheiden der Ast. zu einer dauernden Überbelastung der verbleibenden Mitarbeiter führen würde. Der Präsident des OLG hatte im Widerspruchsbescheid bereits auf die entsprechende Belastungssituation im betroffenen Beamtenbereich der ordentlichen Justiz des Landes hingewiesen. Wenn die Ast. demgegenüber meint, es würde mit ihrem Ausscheiden nicht zwingend zum Wegfall einer Stelle beim AG N. kommen, so mag dies zwar zutreffen. Es würde aber nichts daran ändern, dass sie als Arbeitskraft ausfiele, und die voraussichtlich in unverminderter Menge anfallenden Aufgaben gleichwohl bewältigt werden müssten, ohne dass personelle Reserven verfügbar wären. Auf eine fehlerhafte Ermessensbetätigung bzw. eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes kann die Ast. sich bereits deshalb nicht berufen, weil ihrem Begehren ein auch vom Ag. zwingend zu beachtendes rechtliches Hindernis (§ 80 a Abs. 1 Nr. 4 LBG M-V) entgegensteht.

 04.6 – 11/04

Ausbildungsförderung und Aufteilung des Freibetrags bei getrennt lebenden Ehegatten OVG Bautzen, Urteil vom 11. August 2004 – 5 B 497/03 (VG Chemnitz) (Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt) BAföG § 25 Abs. 3 Wird bei getrennt lebenden Ehegatten das Einkommen des einen bereits durch den Freibetrag aus § 25 Abs. 1 Nr. 2 BAföG anrechnungsfrei, ist dem anderen Ehegatten ein nach § 25 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG bestehender weiterer Freibetrag ohne hälftige Kürzung anzurechnen.

 04.7 – 11/04

Abbruchgebühr, wenn zusätzlich die Komplexität der Bausubstanz durch eine Staffelung nach Bauwerksklassen Berücksichtigung findet. Diese Kriterien sind zur Ausfüllung des § 9 Abs. 1 VwKostG M-V geeignet. Unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten ist die Annahme gut vertretbar, dass mit zunehmendem umbauten Raum, d.h. einem größeren Bauvolumen, und einer höheren Bauwerksklasse i.d.R. der Verwaltungsaufwand für die Erteilung der Abbruchgenehmigung steigt. Die beiden gewählten Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe (umbauter Raum und Bauwerksklasse) sind hinreichend geeignete Kriterien zur Ausfüllung des in § 9 Abs. 1 VwKostG M-V vorgesehenen Gesichtspunkts der Bedeutung, des wirtschaftlichen Wertes oder des sonstigen Nutzens der Amtshandlung für den Gebührenschuldner. Ebenso wie es nach Auffassung des Senats rechtlich zulässig ist, den Wert der Baugenehmigungsgebühren an eine Rohbausumme zu koppeln (vgl. OVG Greifswald, Urt. v. 20.5.2003, NVwZ-RR 2004, 165 = DÖV 2004, 264, mwN), ist es zulässig, den Wert einer Abbruchgenehmigung an die Abbruchkosten zu binden. 4. Bei einem Rauminhalt von 7.392 m3 und der Bauwerksklasse 3 ist für den Senat nicht ersichtlich, dass eine Abbruchgebühr von 2.000 DM in einem Missverhältnis zum erbrachten Verwaltungsaufwand steht; das Äquivalenzprinzip ist somit nicht verletzt. 5. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht unter dem Gesichtspunkt der willkürlichen Gleichbehandlung zu bejahen, wenn die Gruppe der Gebäude mit mehr als 2.196 m3 Rauminhalt mit einer einheitlichen Gebühr (hier 2.000 DM) belegt wird. Vielmehr hält sich dies im Rahmen einer zulässigen Typisierung. Anm. d. Redaktion: Mit seiner Entscheidung hat das OVG die Berufung der Kl. (BV VG) gegen das erstinstanzliche Urteil, mit dem die Klage auf Gebührenbefreiung bzgl. der erteilten Abbruchgenehmigung für eine Scheune abgewiesen worden war, zurückgewiesen.

Gebühr für die Erteilung einer Abbruchgenehmigung OVG Greifswald, Urteil vom 14. April 2004 – 1 L 344/02 (VG Greifswald) (rechtskräftig) VwKostG M-V §§ 1, 2, 6, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 13 Abs. 1; AO § 39; KAG M-V §§ 1 Abs. 3, 6 Abs. 3, 12 Abs. 1 1. Gebührenschuldner nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 VwKostG M-V ist derjenige, der die Amtshandlung veranlasst; das ist im Falle einer Abbruchgenehmigung derjenige, der diese beantragt (Bauherr). § 39 AO ist – mangels Regelungslücke – nicht entsprechend anwendbar. Die BVVG ist nicht nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 VwKostG M-V von der Zahlung solcher Verwaltungsgebühren befreit. Mangels einer Regelungslücke ist die Vorschrift nicht analog auf juristische Personen des Privatrechts anwendbar. Dies gilt auch im Hinblick auf die 3. DVO zum TreuhG bzw. den Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen der BVVG und der BvS. 2. Ein Gebührenrahmen von 100 DM bis 2.000 DM für eine Abbruchgenehmigung ist rechtlich unproblematisch. Es ist eine Frage der Rechtsanwendung, diesen Rahmen durch Ermessenserwägungen im Einzelfall und/oder durch ermessensbindende Verwaltungsvorschriften auszufüllen. Ein als Verwaltungsvorschrift erlassener Gebührentarif ist als antizipierte Ermessenserwägung anzusehen, sodass die Behörde nicht generell gehalten ist, in Gebührenbescheiden wegen § 9 Abs. 1 VwKostG M-V weitere Ermessenserwägungen anzustellen. 3. Das Abbruchvolumen ist jedenfalls dann ein geeigneter und praktikabler Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Bestimmung der

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 04.8 – 11/04

Erstattungsansprüche nach fehlgeschlagener Zwecksverbandsgründung OVG Weimar, Grundurteil vom 25. Februar 2004 – 4 KO 703/01 (VG Gera) (rechtskräftig) AO 1977 §§ 37 Abs. 2, 226 Abs. 1, 228; VwGO § 111; ThürKAG §§ 12, 15; Thür. Ges. über die kommunale Gemeinschaftsarbeit (ThürKGG) § 19 Abs. 1; ThürBekVO § 2 1. Allein die Bezeichnung als »Amtsblatt« schließt auch nach In-Kraft Treten der ThürBekVO nicht grundsätzlich aus, dass die unter dieser Überschrift erfolgten Bekanntmachungen Teil einer Zeitung sein können. 2. Ein mit einer Zeitung verbreitetes, aber als eigenes Druckwerk gestaltetes und herausgegebenes Amtsblatt, das nicht allen Anforderungen der ThürBekVO an ein Amtsblatt genügt, wird dadurch nicht gewissermaßen ersatzweise zu einer Zeitung oder zum Teil der Zeitung, mit der es vertrieben wird. 3. Ein fehlerhafter Zweckverband ist kein rechtliches »nullum«, sondern ein körperschaftlich strukturierter, öffentlich-rechtlicher Verband eigener Art, dem keine Hoheitsrechte zustehen, der jedoch für die Rückabwicklung von fehlgeschlagenen öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnissen im eigenen Namen teilrechtsfähig und im Verwaltungsprozess beteiligtenfähig ist. 4. Die von einem fehlerhaften Zweckverband eingegangenen Ver- und Entsorgungsverhältnisse sind öffentlich-rechtlicher und nicht privatrechtlicher Natur.

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R e c h t s p re c h u n g

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5. Zum Erstattungsanspruch eines fehlerhaften Zweckverbands für die tatsächlich geleisteten Wasserver- und Abwasserentsorgungsleistungen und zur Aufrechnung im Prozess um die Rückzahlung geleisteter Benutzungsgebühren.

beiden Augen eine Sehbeeinträchtigung von mindestens der Stufe 1 entsprechend der von der WHO empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung gegeben ist. Dies ist beim Ast. offensichtlich nicht der Fall.

Anm. d. Redaktion: Zur Problematik fehlgeschlagener Zweckverbandsgründung siehe auch OVG Bautzen, NJ 2003, 665 (bearb. v. Lühmann); OVG Weimar, NJ 2004, 138 (bearb. v. Lühmann); OVG Bautzen, NJ 2004, 238 (bearb. v. Preschel). Zur Erhebung von Wasserversorgungs-/ Abwasserentsorgungsbeiträgen siehe OVG Frankfurt (Oder), NJ 2004, 280 u. 377 (jew. Leits.).

Der Gesetzgeber hat mit den Neuregelungen eine weitgehende Gleichstellung von Sozialhilfeempfängern mit den Beziehern kleiner, knapp über dem Sozialhilfebedarf liegender Einkommen erzielen wollen. Der gesetzlichen Änderung liegt der Gedanke zugrunde, dass der Betroffene über entsprechende Ansparmöglichkeiten für eine neue Brille rechtzeitig Sorge tragen muss und sich ab dem 18. Lebensjahr auf eine Verschlechterung seiner Sehfähigkeit entsprechend einzustellen hat.

 04.9 – 11/04

Die Praxis wird zu erweisen haben, ob unzumutbare soziale Härten eintreten, die gesetzliche Korrekturen erforderlich machen.

Sozialhilfeleistung für Brillengläser VG Potsdam, Beschluss vom 27. Juli 2004 – 7 L 643/04 (rechtskräftig)

Kommentar:

BSHG §§ 37 Abs. 1, 38; SGB V §§ 33, 264; Regelsatz-VO § 1 Abs. 1

Das GMG ist Bestandteil der Umstrukturierung im bundesdeutschen Sozialversicherungsrecht, zu der u.a. auch die vier »Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« (im Volksmund: »Hartz I, II, II, IV«) gehören. Die in der Öffentlichkeit am meisten diskutierte Neuregelung im GMG ist die durch § 28 Abs. 4 SGB V eingeführte Praxisgebühr von 10 €/Quartal. Das GMG sieht darüber hinaus weitere Beschränkungen von Leistungen der Krankenkassen vor mit beträchtlichen Auswirkungen, z.B. für Sozialhilfeempfänger. Dass an eine Veränderung dieser Bestimmungen gedacht wird, ist derzeit nicht absehbar.

Ein Sozialhilfeempfänger, der das 18. Lebensjahr vollendet hat und nicht eine schwere Sehschwäche von mindestens der Stufe 1 entsprechend der von der WHO empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung aufweist, muss die anfallenden Kosten für die Beschaffung neuer Brillengläser aus der Hilfe zum Lebensunterhalt bestreiten. (Leitsatz des Bearbeiters) Problemstellung: Der 62-jährige Ast. erhält Sozialhilfe in Höhe des Regelsatzes von 283 € im Monat. Er beantragte beim Sozialamt des Ag. die Übernahme von Kosten für neue Brillengläser i.H.v. 219 € laut eines von ihm vorgelegten Kostenvoranschlags. Diesen Antrag begründete er damit, dass sich seine Sehstärke verändert habe (+4,5 bzw. +2,0 Dioptrien) und seine Krankenkasse die Kosten für die Brillengläser nicht übernimmt. Der Ag. lehnte den Antrag ab. Durch die Neuregelung des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung v. 14.11.2003 (GMG, BGBl. I, 2190) werden die Kosten für Brillengläser gem. § 33 Abs. 1 SGB V nF nicht mehr von der Krankenkasse erstattet. Eine einmalige Leistung gem. § 21 BSHG kann nicht in Betracht kommen, da durch Art. 29 GMG (Änderung der Regelsatz-VO) Kosten für Krankheit als Bestandteil des Regelsatzes definiert werden, sofern sie nicht gem. §§ 36 - 38 BSHG nF übernommen werden. Gem. § 37 Abs. 1 Satz 1 BSHG kann das Sozialamt nur solche Kosten des (nicht krankenversicherten) Sozialhilfeempfängers übernehmen, die die Krankenversicherung für die gesetzlich Versicherten tragen würde. Brillengläser fallen nicht mehr darunter. Der Antrag des Ast., den Ag. im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen für die Neuanfertigung von Brillengläsern zu gewähren, wurde vom VG abgelehnt. Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Durch Art. 28 Nr. 4 c GMG ist die in § 38 Abs. 2 BSHG aF vorgesehene Grundlage für die Gewährung einmaliger Hilfen für einen von den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen nicht umfassten Bedarf entfallen. Eine Leistungsverpflichtung des Sozialamtes besteht auch deshalb nicht, weil § 37 Abs. 1 Satz 1 BSHG auf die Leistungsvorschriften der §§ 27 ff. SGB V verweist, die durch Art. 1 Nr. 13 ff. GMG entscheidend verändert worden sind. Art. 1 Nr. 20 GMG ändert den § 33 SGB V dahingehend ab, dass nur noch Versicherte, die das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben, einen Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen haben, wobei dieser Anspruch grundsätzlich auf den Ersatz der Kosten der Gläser beschränkt ist. Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, erhalten die Kosten nur ersetzt, wenn auf

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Das VG wendet die durch das GMG geänderten Vorschriften des BSHG und SGB V – nach meiner persönlichen Auffassung – rechtlich zutreffend an. Das Ergebnis ist allerdings in jeglicher Hinsicht wenig befriedigend. Die Neuregelung des GMG hat zur Folge, dass ein Sozialhilfeempfänger Brillengläser aus seinem Regelsatz von 283 € bezahlen muss, es sei denn, er ist derartig schwer sehbehindert, dass er die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Satz 4 SGB V nF erfüllt. Letzteres wird auf die überwiegende Mehrheit der Sozialhilfeempfänger nicht zutreffen. Dem Hinweis des Ag. auf mögliche verfassungsrechtliche Probleme dieser Neuregelung, zu denen er als Organ der Exekutive keine Aussagen treffen könne, wich das Gericht mit der Begründung aus, dass im einstweiligen Rechtsschutz die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung nicht geprüft werden könne. Das VG verwies den Ast. damit auf den Instanzenzug, der im Falle der Verwaltungsgerichtsbarkeit durchaus länger dauern dürfte, weshalb der Ast. mit einer endgültigen Entscheidung in diesem Jahrzehnt wohl nicht mehr rechnen kann. In der Sache ist Folgendes kritisch anzumerken: Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass die Neuanschaffung von Brillengläsern den Betrag von 283 € übersteigt. Dass ältere Menschen nicht ganz billige Bifokalgläser für die Nah- und Fernsicht benötigen, ist ein durchaus geläufiger Fall. Wenn neben der Kurz- oder Weitsichtigkeit eine Hornhautverkrümmung hinzutritt, können in extremen Fällen die Gläser – mit entsprechenden Prismen versehen – 600 bis 700 € kosten, ohne dass die Voraussetzungen der Empfehlungen der WHO gegeben wären. Der Kommentator verfügt durchaus über Phantasie. Wie aber ein Sozialhilfeempfänger mit einem Regelsatz von 283 € im Monat einen Betrag von 700 € für notwendige Brillengläser – legal – bezahlen können soll, das übersteigt dann doch das Vorstellungsvermögen. Als Fazit bleibt festzustellen, dass der Gesetzgeber mit seinen Reform- und Modernisierungsgesetzen den Weg beschreitet, denjenigen Mitmenschen das Geld wegzunehmen, die es nicht haben. Justitiar Reinhard Neubauer, Belzig

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05 ARBEITSRECHT  05.1 – 11/04

Betriebsbedingte Änderungskündigung als unternehmerische Ermessensentscheidung BAG, Urteil vom 22. April 2004 – 2 AZR 385/03 (LAG Chemnitz) KSchG § 2; BGB § 612 a 1. Entschließt sich der Arbeitgeber zu einer betrieblichen Umorganisation, die zu einer anderen zeitlichen Lage und zur Herabsetzung der Dauer der Arbeitszeit führt, so handelt es sich dabei um eine im Ermessen des Arbeitgebers stehende unternehmerische Entscheidung, die im Kündigungsschutzverfahren von den Arbeitsgerichten nicht auf ihre Zweckmäßigkeit, sondern lediglich – zur Vermeidung von Missbrauch – auf offenbare Unvernunft oder Willkür zu überprüfen ist. 2. Ein Missbrauch der unternehmerischen Organisationsfreiheit liegt bspw. vor, wenn die Umgestaltung der Arbeitsabläufe sich als rechtswidrige Maßregelung (§ 612 a BGB) erweist oder die Vorgaben des BeschäftigungsschutzG umgeht. Problemstellung: Die Kl. war seit 1997 mit 40 Wochenstunden im Krankenhausbetrieb der Bekl. beschäftigt. Ihr wurden Aufgaben sowohl vom technischen Leiter als auch vom Bauleiter zugewiesen. Ab 2000 kam es zu Misshelligkeiten zwischen der Kl. und dem technischen Leiter, der die Leistungen der Kl. beanstandete, während sich die Kl. über sein Verhalten beschwerte. Mit Änderungskündigung v. 13.11.2001 bot die Bekl. der Kl. die Weiterbeschäftigung mit 20 Wochenstunden montags bis freitags vormittags mit Tätigkeiten für den Bauleiter und entsprechend verringertem Gehalt an. Die Kl. nahm unter Vorbehalt an. Die Bekl. stellte im Febr. 2002 eine weitere Teilzeitkraft mit der gleichen Arbeitszeit wie die Kl. ein. Ihr wurden die vorher von der Kl. erledigten Aufgaben im Zuständigkeitsbereich des technischen Leiters übertragen. Im Kündigungsschutzprozess berief sich die Bekl. auf ihre freie unternehmerische Entscheidung zur Aufteilung der Arbeitsaufgaben unter Änderung der zeitlichen Verteilung. Die Neuaufteilung habe zu einer Verdoppelung der Arbeitskapazität während der bis 13.00 Uhr reichenden Hauptfunktionszeit geführt, auch könnten sich beide Arbeitnehmerinnen gegenseitig vertreten. Zwei Halbtagskräfte bewältigten eine größere Arbeitsmenge als eine Vollzeitkraft. ArbG und LAG haben der Klage stattgegeben. Das BAG hob das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück. Zusammenfassung der Entscheidungsgründe: Das BAG hat unter Rückgriff auf seine gefestigte Rspr. ausgesprochen, dass die Organisationsentscheidung der Bekl. nur einer gerichtlichen Missbrauchskontrolle unterliegt. Da die Entscheidung zur Umorganisation mit dem Kündigungsentschluss aber praktisch deckungsgleich ist, hat die Bekl. konkret vortragen müssen, wie sich die Organisationsentscheidung auf die Einsatzmöglichkeit der Kl. auswirkt und in welchem Umfang konkreter Änderungsbedarf entsteht. Das hat sie mit der konkreten Darstellung des neuen Arbeitszeitkonzepts getan. Die Darlegung von die Einführung des Konzepts rechtfertigenden sachlichen Gründen kann nicht verlangt werden, da es nur um Missbrauchskontrolle und nicht um die Überprüfung der Stichhaltigkeit des von der Bekl. gewählten Arbeitszeitkonzepts

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geht. Willkür ist jedoch nicht festzustellen; die Bekl. hat gut nachvollziehbare Gründe für die Aufteilung der früheren Tätigkeit der Kl. auf zwei zeitlich parallel beschäftigte Teilzeitkräfte vorgebracht und ihr Konzept auch so verwirklicht. Da das LAG, das zwingende Gründe für die Maßnahme der Bekl. nicht erkennen konnte und deshalb die Rechtsunwirksamkeit der Änderungskündigung festgestellt hatte, folgerichtig nicht dem Vortrag der Kl. über Angriffe des technischen Leiters nachgegangen war, hat das BAG die Sache an das LAG zurückverwiesen. Dieser Vortrag, den die Kl. jedoch noch konkretisieren muss, kann die Umgestaltung der Arbeitsabläufe als rechtswidrige Maßregelung (612 a BGB) oder als Umgehung der Vorgaben des BeschäftigtenschutzG erscheinen lassen. Kommentar: Die Entscheidung des BAG bestätigt die mit seinem Urt. v. 17.6.1999 (BAGE 92, 71 = NJ 1999, 665 [bearb. v. Lakies] ) begonnene Rspr. zur sog. freien Unternehmerentscheidung, die von der Arbeitsgerichtsbarkeit nicht auf Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit überprüft werden kann. Wie der Arbeitgeber seinen Betrieb und die Arbeitsabläufe organisiert, entscheidet er selbst. Eine durchgeführte betriebliche Umorganisation hat die Vermutung für sich, sie sei aus sachlichen Gründen erfolgt. Wenn allerdings die Entscheidung zur Umorganisation mit dem Entschluss zur Kündigung von Arbeitnehmern zusammenfällt, greift diese Vermutung nicht von vornherein. Der Arbeitgeber hat in diesem Fall darzulegen, wie sich die Organisationsentscheidung konkret auf den Arbeitsplatz, den Arbeitsanfall und die künftige Verteilung der Arbeit auswirkt. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, die die Organisationsentscheidung als offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich erscheinen lassen. Das BAG hat diesen Grundsätzen strikt folgend keine Darlegung der Bekl. zu den Gründen der Umorganisation verlangt. Wenn man zunächst von dem Vortrag der Kl. zum Verhalten des technischen Leiters absieht, ist dem zu folgen. Der Vortrag der Bekl. zur Umsetzung der Organisationsentscheidung und zu den günstigen Effekten reichte aus, ist nachvollziehbar und schließt die Annahme einer willkürlichen Maßnahme aus. Unbehagen bereitet die Entscheidung, weil die Vermutung einer sachlich begründeten Organisationsmaßnahme angesichts des Vortrags der Kl. zu den Angriffen des technischen Leiters nicht einleuchtet. Es fällt auf, dass die Umorganisation in zeitlicher Nähe zu den Misshelligkeiten zwischen der Kl. und dem technischen Leiter erfolgte und zu dem »Anlass« für die unternehmerische Maßnahme in zeitlicher Hinsicht kein Vortrag der Bekl. vorliegt. Seriöse Unternehmen, die ihren Betrieb mit der Folge von Personalabbau umorganisieren, tragen von sich aus stets den Anlass für die getroffenen Maßnahmen vor, der oft auf eine aus unterschiedlichen Gründen notwendige oder auch nur gewünschte Kosteneinsparung zurückgeht. Auch wenn dieser Anlass nicht vom Gericht zu überprüfen ist, liegt solchen Unternehmen sehr daran, die Seriosität ihrer Unternehmerentscheidung deutlich zu machen. Diesen Erfahrungen der gerichtlichen Praxis folgend hätte es daher nahe gelegen, die Bekl. zumindest zu fragen, was denn Anlass für ihre Entscheidung zum konkreten Zeitpunkt gewesen ist. Schließlich treffen verantwortlich handelnde Unternehmer ihre Entscheidungen nicht mal eben so ohne besonderen Anlass. Nur ein solches überlegtes, verantwortungsvolles unternehmerisches Verhalten rechtfertigt die Vermutung, dass eine beschlossene und tatsächlich durchgeführte Umorganisation aus sachlichen Gründen erfolgt ist.

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R e c h t s p re c h u n g Vorliegend liegt ohne plausible Erklärung der Bekl. eher die Vermutung nahe, die Misshelligkeiten seien der eigentliche Anlass für die Umorganisation gewesen, wobei zur Bereinigung eine nur die Kl. treffende nachteilige Maßnahme als die leichtere Lösung der Probleme gewählt wurde. Nachzudenken wäre daher wegen der zeitlichen Nähe der Organisationsentscheidung zu den Misshelligkeiten über eine abgestufte Darlegungslast, nach der die Bekl. zunächst den konkreten Zeitpunkt ihrer Maßnahme und damit den eigentlichen Anlass zu erklären hätte, ehe die Kl. weiteren, konkreten Sachvortrag zum Verhalten des technischen Leiters zu halten hätte. VorsRinLAG Ingrid Weber, Berlin

 05.2 – 11/04

Zusage einer Versorgungszusage und Unverfallbarkeitsfrist BAG, Urteil vom 24. Februar 2004 – 3 AZR 5/03 (LAG Berlin) BetrAVG §§ 1 aF, 2, 17 Abs. 3 Satz 3 Sagt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis zu, ihm nach einer festgelegten Zeitspanne eine Versorgungszusage zu erteilen, und verbleibt dem Arbeitgeber nach deren Ablauf kein Entscheidungsspielraum, ob er die Zusage erteilt oder nicht, so beginnt die Unverfallbarkeitsfrist schon mit dem Zeitpunkt der »Zusage der Zusage«. Anm. d. Redaktion: Der Kl. hatte im Arbeitsvertrag eine Versorgungszusage erhalten. Sein Arbeitsverhältnis begann am 18.11.1991 und endete aufgrund arbeitgeberseitiger Kündigung am 31.12.2001. Das ArbG hatte angenommen, die gesamte Beschäftigungszeit von etwas mehr als zehn Jahren sei zu berücksichtigen, soweit es um die Frage geht, ob der Kl. eine unverfallbare Versorgungsanwartschaft erworben hat. Es stellte deshalb das Bestehen einer Versorgungsanwartschaft entsprechend dem Antrag des Kl. fest. Das LAG entschied mit Urt. v. 7.11.2002 (NJ 2003, 223 [Leits.] ) entgegengesetzt, weil nur die Zeit seit dem Ende der Probezeit anzurechnen sei, also nur neun Jahre und sieben Monate. Die Revision des Kl. führte zur Wiederherstellung des ArbG-Urteils.

 05.3 – 11/04

Gewährung eines höheren Ortszuschlags nach BAT-O für geschiedene Angestellte BAG, Urteil vom 22. Januar 2004 – 6 AZR 488/02 (LAG Halle/Saale) BAT-O § 29 B Abs. 2 Nr. 4 Die geschiedene Angestellte hat keinen Anspruch auf den höheren Ortszuschlag der Stufe 2 nach § 29 Abschn. B Abs. 2 Nr. 4 BAT-O, wenn für den Unterhalt der aufgenommenen Person Mittel zur Verfügung stehen, die bei einem Kind einschließlich des gewährten Kindergeldes und des kinderbezogenen Teils des Ortszuschlags, das 6-fache des Unterschiedsbetrags zwischen der Stufe 1 und der Stufe 2 des Ortszuschlags der Tarifklasse 1 c übersteigen (Satz 2). Das Unterschreiten dieser Eigenmittelgrenze ist anspruchsbegründend.

A r b e i t s re c h t

 05.4 – 11/04

Schadensersatz wegen Mobbings am Arbeitsplatz LAG Erfurt, Urteil vom 10. Juni 2004 – 1 Sa 148/01 (ArbG Erfurt) (Revision nicht zugelassen) BGB §§ 253, 847 aF, 278, 823 Abs. 1, 831; ArbGG §§ 67 Abs. 4, 72 Abs. 2 Nr. 2; GG Art. 1, 2 Abs. 1 1. Mobbing kann nur angenommen werden, wenn systematische und zielgerichtete Anfeindungen gegen den Arbeitnehmer vorliegen. Daran fehlt es, wenn es in der Entwicklung einer im Wesentlichen psychisch bedingten Konfliktsituation zu einer Eskalation kommt, auf die der Arbeitgeber mit einem nicht mehr sozialadäquaten Exzess reagiert (hier: Suspendierung von der Arbeitsleistung und nachfolgende Versetzung). 2. Verfahren mit Mobbingbezug entscheiden sich i.d.R. an dem im Einzelfall gegebenen Sachverhalt und nicht an Rechtsfragen. Für die streitentscheidende Aufgabe der Gerichte ist es nicht hilfreich, wenn der Eindruck erweckt wird, die Gerichte müssten »gegenüber Mobbing ein klares Stopp-Signal« setzen (so LAG Erfurt, Urt. v. 15.12.2001, LAGE Nr. 3 zu Art. 2 GG Persönlichkeitsrecht = NJ 2001, 669 [Leits.] ). Anm. d. Redaktion: Das Verfahren endete aufgrund der eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde der Kl. vor dem BAG mit einem Vergleich der Parteien. Zu den im Zusammenhang mit Mobbing am Arbeitsplatz bestehenden Rechtsfragen siehe auch LAG Erfurt, Urt. v. 10.4.2001, NJ 2001, 442.

 05.5 – 11/04

Abschluss eines Aufhebungsvertrags und Störung der Geschäftsgrundlage LAG Halle/Saale, Urteil vom 4. Mai 2004 – 11 Sa 690/03 (ArbG Dessau) (rechtskräftig) BGB § 313 1. Die gemeinsame Fehlvorstellung der Parteien über Art und Umfang des dem Arbeitnehmer zustehenden Altersrentenanspruchs bei Abschluss eines Aufhebungsvertrags kann zu einer Störung der Geschäftsgrundlage führen, wenn ein mit der Aufhebungsvereinbarung verbundener Abfindungsanspruch an diese sozialversicherungsrechtlichen Regelungen anknüpft. 2. Führt der tatsächlich bestehende Rentenanspruch nach den zur Anwendung kommenden Abfindungsrichtlinien zu einem vollständigen Verlust des von den Parteien zunächst angenommenen Abfindungsanspruchs, so ist es dem Arbeitnehmer dennoch zumutbar, an dem Vertrag festgehalten zu werden, wenn nach den Vorstellungen der Parteien die Abfindung dem Ausgleich der durch den Aufhebungsvertrag vermeintlich verursachten Rentenminderung dienen sollte. Das nach den Parteivorstellungen sich ergebende wirtschaftliche Gleichgewicht der Vereinbarung wird nicht unzumutbar gestört, da die tatsächlich bestehenden (höheren) Rentenansprüche den »Verlust« der Abfindung »kompensieren«.

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