In der vorliegenden Masterarbeit gehen wir der Frage nach, wie öffentliche Räu-
me genutzt und angeeignet werden. Dazu haben wir sechs öffentliche Räume ...
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Masterarbeit Zur Erlangung des
MAS Master of Advanced Studies FHZ Fachhochschule Zentralschweiz in Community Development
Aneignung des öffentlichen Raums Eine interdisziplinäre Fallstudie am Beispiel von öffentlichen Räumen in der Stadt Bern und der Gemeinde Vechigen BE
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Wir danken Christina Schumacher für die Methodentipps, Mark Meier für seine spontane Bereitschaft, das Lektorat zu übernehmen Martin Beutler, Alfred Kriesten und Werner Reber für die informativen Gespräche, und allen anderen, die uns mit Rat und Tat zur Seite standen.
1
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Abstract Eine ganz alltägliche Szene irgendwo in einem öffentlichen Raum: Eine Frau isst ein Sandwich, sitzend auf einer Bank. Ein Paar schlendert durch den Park. Die beiden bleiben stehen, betrachten einen blühenden Busch. Zwei Kinder spielen beim Sandkasten. Der Vater liest Zeitung. Er blickt ab und zu in Richtung der Kinder. Öffentliche Räume bedeuten Lebensqualität. Sie gehören uns allen und bieten uns Möglichkeiten, dort vielerlei zu tun. In gewissen Räumen halten wir uns gerne auf, andere Räume wiederum benutzen wir nicht. In der vorliegenden Masterarbeit gehen wir der Frage nach, wie öffentliche Räume genutzt und angeeignet werden. Dazu haben wir sechs öffentliche Räume in der Stadt Bern und der Gemeinde Vechigen BE mit der Methode der "Teilnehmende Beobachtung" untersucht: den funktionalen Bahnhofplatz Boll-Utzigen, den grosszügigen Monbijoupark, das begegnungsfreundliche Bachmätteli, den gestylten Bahnhofplatz Bümpliz-Süd, den introvertierten Dorfplatz Boll, sowie den doppelgesichtigen Cäcilienplatz. Sie haben wir mehrmals mit Protokollblock und Fotokamera besucht. Wir haben den Leuten beim Benutzen und Aneignen der Räume unauffällig zugesehen und wurden dabei selbst zu Nutzer/innen, erfuhren so selber Qualitäten und Mankos der jeweiligen Räume. Wieder zuhause setzten wir uns eingehend mit den Beobachtungen auseinander. Warum sitzen so wenige Leute auf dem Cäcilienplatz? Wie kommt es, dass man trotz Verbot sein Auto mitten auf einen Platz stellt? Wieso versprüht der Bach als Spielplatz viel mehr Reiz als das Ritigampfi? Wie geschieht es, dass Leute einen Raum nicht nur wahrnehmen, sondern sich auch sinnlich mit ihm beschäftigen, ihn umgestalten oder gar den Raum als "ihren Raum" betrachten? Unsere Beobachtungen gliederten wir in fünfzehn Kategorien, dabei untersuchten wir jede Kategorie auf ihre Besonderheiten hin, um so dem Geheimnis der Aneignung auf die Spur zu kommen. Als gemeinsame Räume der Gesellschaft sollen öffentliche Räume in Prozessen der Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung (GSR) mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht werden. Wenn wir die Besonderheiten der Räume und ihrer Umgebung berücksichtigen, auch mal den Mut haben, etwas nicht bis zum Letzten durchzuorganisieren und vermehrt lernen, partizipativ zu planen, schaffen wir aneignungsfreundlich Räume und damit eine wichtige Grundlage zur Identifikation der Bevölkerung mit ihrem Quartier, ihrem Dorf, ihrer Stadt.
2
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Inhaltsverzeichnis Abstract ............................................................................................................................................. 2 Inhaltsverzeichnis.............................................................................................................................. 3 1
Einleitung und Fragestellung ..................................................................................................... 5
2
Öffentlicher Raum: Allgemeinverständnis und Begriff ............................................................... 7
3
4
2.1
Nutzungsaspekte.......................................................................................................... 7
2.2
Baulich-räumliche Aspekte ........................................................................................... 8
2.3
Rechtliche Aspekte....................................................................................................... 8
2.4
Symbolische Aspekte ................................................................................................... 9
2.5
Integrale Sichtweise auf den öffentlichen Raum .......................................................... 9
2.6
Definition des öffentlichen Raums im Rahmen unserer Arbeit ................................... 10
2.7
Akteursgruppen im öffentlichen Raum ....................................................................... 10 2.7.1
Die Ersteller/innen................................................................................................ 10
2.7.2
Die politischen Instanzen ..................................................................................... 11
2.7.3
Die Interessensvertreter/innen............................................................................. 11
2.7.4
Die Nutzer/innen .................................................................................................. 11
2.8
Beeinflussungen des öffentlichen Raums .................................................................. 13
2.9
Öffentlicher Raum in Prozessen der Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung ... 14
2.10
Fazit............................................................................................................................ 15
Aneignung: Allgemeinverständnis und Begriff ......................................................................... 16 3.1
Aneignung und Raum................................................................................................. 16
3.2
Ebenen der räumlichen Aneignung ............................................................................ 17
3.3
Formen der räumlichen Aneignung ............................................................................ 17
Methodische Anlage und Forschungsprozess ......................................................................... 19 4.1
Auswahl der Untersuchungsräume: Prinzip der Kontrastierung................................. 20
4.2
Angewandte empirische Verfahren ............................................................................ 22 4.2.1
4.2.1.1
Begriffserklärung ......................................................................................... 22
4.2.1.2
Arbeit im Feld .............................................................................................. 23
4.2.2
5
Teilnehmende Beobachtung ................................................................................ 22
Datenauswertung: Grounded Theory................................................................... 25
4.2.2.1
Begriffserklärung ......................................................................................... 25
4.2.2.2
Offenes Kodieren: Definition........................................................................ 26
4.2.2.3
Konkretes Vorgehen.................................................................................... 26
4.2.3
Dokumentation der Raumanalyse........................................................................ 28
4.2.4
Prozesstagebuch ................................................................................................. 28
4.2.5
Experteninterviews............................................................................................... 29
Untersuchungsräume............................................................................................................... 30 5.1
Bachmätteli................................................................................................................. 30
5.2
Bahnhofplatz Bümpliz Süd ......................................................................................... 34 3
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
6
5.3
Cäcilienplatz ............................................................................................................... 37
5.4
Monbijoupark .............................................................................................................. 41
5.5
Bahnhofplatz Boll-Utzigen .......................................................................................... 44
5.6
Dorfplatz Boll .............................................................................................................. 46
Resultate der Untersuchungen ................................................................................................ 49 6.1
6.2
Auswertung der Kategorien ........................................................................................ 49 6.1.1
Transit .................................................................................................................. 50
6.1.2
Flanieren .............................................................................................................. 50
6.1.3
Warten ................................................................................................................. 52
6.1.4
Ausruhen ............................................................................................................. 53
6.1.5
Beobachten.......................................................................................................... 55
6.1.6
Konsumation ........................................................................................................ 56
6.1.7
Abstellen von Fahrzeugen ................................................................................... 59
6.1.8
Einkaufs- und Dienstleistungsangebote vor Ort................................................... 61
6.1.9
Begegnung mit Fremden und Fremdem .............................................................. 63
6.1.10
Begegnung mit Bekannten und Bekanntem .................................................... 66
6.1.11
Bühne............................................................................................................... 68
6.1.12
Arbeiten............................................................................................................ 69
6.1.13
Spielen ............................................................................................................. 71
6.1.14
Sport ................................................................................................................ 74
6.1.15
Draussen sein .................................................................................................. 75
6.1.16
Indirekte Beobachtungen ................................................................................. 76
Aneignung in den Beobachtungsräumen ................................................................... 77 6.2.1
Beobachtungskategorien und Aneignung ............................................................ 78
6.2.2
Untersuchungsräume und Aneignung ................................................................. 82
6.2.2.1
Bachmätteli.................................................................................................. 83
6.2.2.2
Bahnhofplatz Bümpliz Süd .......................................................................... 85
6.2.2.3
Cäcilienplatz ................................................................................................ 88
6.2.2.4
Monbijoupark ............................................................................................... 90
6.2.2.5
Bahnhofplatz Boll-Utzigen ........................................................................... 93
6.2.2.6
Dorfplatz Boll ............................................................................................... 94
7
Empfehlungen im Umgang mit öffentlichen Räumen............................................................... 97
8
Reflexion ................................................................................................................................ 102
Literaturverzeichnis ....................................................................................................................... 105 Anhang .......................................................................................................................................... 108
4
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
1
Einleitung und Fragestellung
Hochgesteckte Ziele wie "Erhöhung der Lebensqualität" oder "Förderung der Identifikation" finden sich heute in vielen Gemeindeleitbildern oder Legislaturplanungen. Eine wichtige Funktion bekommt dabei der öffentliche Raum zugewiesen. Weil sich Behörden, etc. der Bedeutung des öffentlichen Raums bewusst sind, werden vielerorts Plätze umgestaltet, neue Orte mit Zentrumsfunktion geplant und Parkanlagen aufgewertet. Die entsprechenden Räume sollen attraktiv sein, integrierend wirken, Platz bieten für verschiedenste Nutzungen und - allem voran - Identität stiften. Der Architekturkritiker und Journalist Kil (1995, S. 140) ist der Meinung, dass "Identifikation mit einem Ort ... das Resultat eines sozialen Prozesses [ist]. Sie entsteht durch Aneignung, durch praktische Inbesitznahme und Einbeziehung in alltägliche Lebensvorgänge". Um sich mit einem Ort zu identifizieren, müssen die Benutzenden sich ihn also zuerst angeeignet oder in Besitz nehmen. Ausgehend von dieser These wollen wir klären, wie Aneignung und Inbesitznahme eines öffentlichen Raums geschieht. Um dies herauszufinden, haben wir uns zum Ziel gesetzt, die folgenden Fragen zu beantworten: •
Wie wird der öffentliche Raum genutzt und angeeignet?
•
Wie zeigt sich diese Aneignung?
•
Welche Empfehlungen lassen sich für den Umgang mit öffentlichen Räumen ableiten?
Beim Literaturstudium haben wir festgestellt, dass es eher wenig wissenschaftliche Studien über die konkrete Nutzung des öffentlichen Raums gibt. Hingegen gibt es vielerlei Abhandlungen aus planerischer Sicht darüber, welche Bedeutung der öffentliche Raum hat und wie er gestaltet sein sollte. Wir vermuten hier einen gewissen Graben zwischen dem, was die Planungswelt anstrebt, und der gelebten Realität in den öffentlichen Räumen. Ebenso fragen wir uns, inwieweit sich die planenden, bauenden, möblierenden Akteur/innen des öffentlichen Raums überhaupt der effektiven Nutzung der öffentlichen Räume bewusst sind. Zumal gerade in Städten eine Vielzahl von Akteur/innen an der Produktion des öffentlichen Raums beteiligt sind. Untersuchungsgegenstand bilden sechs exemplarisch ausgewählte öffentliche Räume in der Stadt Bern und in der Gemeinde Vechigen (BE). Diese Räume werden wir möglichst unvoreingenommen dahingehend untersuchen, wie die jeweiligen Nutzer/innen sich den Ort aneignen. Wie wir dabei methodisch vorgehen, erläutern wir in Kapitel 4 "Methodische Anlage und Forschungsprozess". In diesem Kapitel behandeln wir einerseits die gewählten Methoden und Arbeitsinstrumente anhand der Theorie, andererseits zeigen wir auf, wie wir sie konkret angewendet haben. Vorgelagert zu diesem Kapitel wird auf den öffentlichen Raum (Kapitel 2) und auf seine Aneignung (Kapitel 3) nä5
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
her eingegangen. Beide Begriffe - der des öffentlichen Raums und der der Aneignung - bedürfen einer genaueren Definition und eines daraus abgeleiteten, für diese Arbeit gültigen Verständnisses. In Kapitel 5 werden wir die sechs Untersuchungsräume genauer vorstellen. Neben den "harten" Fakten berücksichtigen wir auch unseren persönlichen Eindruck. Auf die Resultate unserer Untersuchungen gehen wir in Kapitel 6 ein: In einem ersten Teil erläutern und interpretieren wir unsere Beobachtungen der Untersuchungsräumen. Unsere Beobachtungen haben wir verschiedenen Begriffen (sogenannten Kategorien) zugeführt. In einem zweiten Schritt prüfen wir, was an Beobachtetem der Aneignung zugeordnet werden kann - was also von dem, was die Menschen in den Untersuchungsräumen taten, als Aneignung bezeichnet werden kann. Dabei fokussieren wir speziell auf die Intensität der Aneignung. Ausgehend von den so gewonnenen Erkenntnissen schliessen wir wieder auf die einzelnen Untersuchungsräume zurück: Wir wollen dabei auf das Besondere der jeweiligen Räume hinweisen und zeigen dazu förderliche und hinderliche Faktoren auf, die eine Aneignung begünstigen resp. erschweren. Diese Masterarbeit1 ist im Kontext der Ausbildung in Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung (GSR) entstanden, eines interdisziplinär ausgerichteten Studiums, bei dem es - aus verschiedenen Zugängen (bspw. Raumplanung, Soziologie und Ökonomie) - immer wieder um Mensch und Raum geht. Der öffentliche Raum ist daher per se in GSR-Prozessen in vielfacher Hinsicht von Bedeutung. Die Empfehlungen, die wir in Kapitel 7 formulieren, stehen aus diesem Grund schwerpunktmässig in Zusammenhang mit solchen GSR-Prozessen. Den Abschluss (Kapitel 8) bildet eine Reflexion unseres methodischen Vorgehens. Sie dient vor allem einer kritischen Auseinandersetzung mit der von uns gewählten Methode und mit unserem Arbeitsprozess insgesamt.
1
Diese Masterarbeit hat die Form einer Recherche, in der theoretische Bezüge hergestellt und Schlussfolgerungen gezogen werden. 6
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
2
Öffentlicher Raum: Allgemeinverständnis und Begriff
Die Fragestellung unserer Arbeit bezieht sich auf den öffentlichen Raum. In diesem Kapitel geht es weniger um eine präzise Definition des Begriffs - dieser wird nämlich in Literatur und Praxis je nach Fachdisziplin unterschiedlich beschrieben – als vielmehr um eine Auslegeordnung von verschiedenen Aspekten, die den öffentlichen Raum (mit)prägen und für unsere Arbeit relevant sind. Die aus unserer Sicht wesentlichen Aspekte sollen hier aufgezeigt werden und so zu einem Verständnis des Begriffs öffentlicher Raum beitragen. Im Vordergrund stehen vor allem Nutzungsaspekte, daneben baulich-räumliche sowie rechtliche und symbolische Aspekte. Wenn in der Literatur von öffentlichen Räumen die Rede ist, meinen die Verfasser/innen damit in erster Linie Räume im städtischen Umfeld. Entsprechend bezieht sich auch die nachfolgend zitierte Literatur oft auf Stadt oder städtisches Leben. In unserer Arbeit untersuchen wir jedoch auch öffentliche Räume in Vechigen, einer ländlich geprägten Agglomerationsgemeinde von Bern. Wir gehen davon aus, dass öffentliche Räume besondere Funktionen haben und mit besonderen Nutzungen verknüpft sind, egal, ob sie sich in einem städtischen oder ländlichen Umfeld befinden. In diesem Sinne verstehen wir diese Auslegeordnung der wesentlichen Aspekte zum grössten Teil als zutreffend auf Stadt und Land. Im Kapitel 2.4 gehen wir kurz auf Unterschiede in der Symbolik von öffentlichen Räumen ein.
2.1
Nutzungsaspekte
In der Literatur gilt die allgemeine Zugänglichkeit und Verfügbarkeit als hauptsächliches Kriterium für die Beurteilung, ob ein Raum zu den öffentlichen Räumen gehört oder nicht. Der Architekt und Stadtplaner Andreas Feldtkeller hält dazu fest: Als öffentlich empfinden wir eine Situation immer dann, wenn der vorhandene Raum für jedermann frei, das heisst ohne Berechtigung, zugänglich ist und nicht einer bestimmten Benutzergruppe zugeordnet wird (Feldtkeller,1995, S. 57). Wenn ein Raum diesem Kriterium entspricht, also für verschiedenste Nutzergruppen zur Verfügung steht, liegt es nahe, dass diese Nutzergruppen den Raum auch unterschiedlich benutzen wollen. Diese Schlussfolgerung bringt uns zu einem weiteren Aspekt, nämlich zur Nutzungsvielfalt, die öffentliche Räume bieten sollen. So empfiehlt bspw. die Stadt Bern, vielseitige Nutzungsmöglichkeiten anzubieten. Durch Flexibilität und Multifunktionalität der öffentlichen Räume soll eine Vielzahl von Bedürfnissen abgedeckt werden (Stadt Bern, 2007, S. 20). Zweckgebundene Räume wie z.B. Friedhöfe, Sportanlagen und Schrebergärten dienen sowohl der Öffentlichkeit, doch sie schliessen durch die vorgegebene Nutzung alle übrigen Bevölkerungsgruppen aus, die nicht diese Nutzung beabsichtigen. Feldtkeller meint zur Nutzungsvielfalt, dass dort wo, die Nutzung uniform ist, sofort jene Vielfalt der Lebensäusserungen fehlt, die die öffentliche Szene bestimmt. Dazu gehört ganz 7
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
wesentlich auch das Aufeinandertreffen von Fremden oder mit Fremdem. "Vielfalt der Nutzungen bedeutet aber auch, dass zur Öffentlichkeit nicht nur Angenehmes, Unterhaltendes, Bereicherung gehören, sondern ebenso Auseinandersetzung mit dem Unerfreulichen, dem Beunruhigenden, Hässlichem und Quälendem im Alltag der Stadt" (Feldtkeller, 2003, S. 256). Prägend für den öffentlichen Raum ist also die konkrete Inanspruchnahme durch die Menschen, also durch die Öffentlichkeit. Der Soziologie-Professor Herbert Schubert weisst darauf hin, dass "der öffentliche Raum keine eigenständige Kategorie ist, die unabhängig vom Menschen existiert (...). Die Entwicklung der urbanen öffentlichen Räume ist immer schon eine Geschichte des Verhaltens der Menschen gewesen, die ihn figurativ bilden" (Schubert, 2000, S. 7).
2.2
Baulich-räumliche Aspekte
Ein baulich-räumliches Merkmal von öffentlichen Räumen2 ist das eigentliche Freisein von Bebauung. Öffentliche Räume sollen aber nicht einfach die Resträume zwischen den Bauvolumen sein, vielmehr sollen sie bewusst gestaltet, durch einprägsame Raumkanten gefasst (Hausfassaden, Bäume, Einfriedigungen etc.) und in dem Sinne als positiver Aussenraum wahrnehmbar sein. Feldtkeller spricht in diesem Zusammenhang von "Freiräumen mit bestimmten Qualitäten" (Feldtkeller, 1995, S.53). Die Planer/innen legen denn auch besonderen Wert auf baulich-räumliche Aspekte wie einheitliche Fassadenfluchten, weil durch diese räumlichen Begrenzungen der "Leerraum" dazwischen besser erfahrbar wird: "...öffentliche Räume gewinnen ihre besondere Erlebbarkeit und Qualität aus ihrer Begrenzung, den Raumkanten und Übergängen. Damit werden diese Kanten und Übergangszonen zum Bestandteil der Räume" (Wentz, 2003, S. 246). Da die öffentlichen Räume für den gestalterischen Ausdruck einer Stadt prägend sind und dort das eigentliche Handlungs- und Einflussfeld der öffentlichen Hand liegt, ist es naheliegend, dass sich die Stadtplanung bei der Bearbeitung öffentlicher Räume zu einem gewichtigen Teil mit Gestaltungsfragen beschäftigt.
2.3
Rechtliche Aspekte
Ein weiterer Aspekt bei der Betrachtung von öffentlichen Räumen liegt bei den Eigentumsverhältnissen respektive der Widmung eines Raumes. Nach juristischer Definition wird ein Raum erst durch den Akt der Widmung (z.B. durch das Festlegen einer bestimmten Zone im Zonenplan oder den Eintrag eines öffentlichen Wegrechts im Grundbuch) zum öffentlichen Raum. In der realen Welt sind jedoch die Eigentumsverhältnisse nicht immer ablesbar. Ein scheinbar öffentliches Trot-
2
Es gibt Definitionen, die allgemein zugängliche, öffentliche Bauten ebenfalls zu den öffentlichen Räumen zählen. Im Rahmen unserer Arbeit konzentrieren wir uns jedoch auf Aussenräume und ihre Eigenschaften. 8
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
toir kann teilweise auf einer privaten Parzelle liegen. Die Eigentumsverhältnisse können nicht alleine für die Definition von öffentlichen Räumen herangezogen werden. Sie sind jedoch bezüglich der Verfügungsgewalt entscheidend. Der emeritierte Städtebauprofessor Thomas Sieverts formuliert in seinen Forderungen an die Politik: "Die erste und wichtigste politische Forderung besteht darin, dass der öffentliche Raum als allgemein öffentlich zugänglich erhalten bleiben muss, und zwar für alle sozialen Gruppen" (Sieverts, 2003, S.246). Nur die öffentliche Hand als mehrheitliche Eigentümerin der öffentlichen Räume kann sicherstellen, dass öffentliche Räume auch für alle zugänglich bleiben.
2.4
Symbolische Aspekte
Neben diesen doch einigermassen fassbaren Kriterien verfügen die öffentliche Räume meist auch über so etwas wie eine symbolische Aufladung, sei es durch die Historie (z.B. der historische Brunnen mitten auf dem Dorfplatz, wo früher gewaschen wurde), besondere Namen, Funktionen (Markt-, Rathaus-, Bahnhofplatz etc.). Eine andere Symbolik, die eng mit öffentlichen Räumen in Verbindung gebracht wird, ist "das Städtische" an sich resp. eine städtische Lebensweise (Urbanität). Man assoziiert öffentliche Räume oft mit Stadt - und Stadt umgekehrt oft mit einem Angebot an öffentlichen Räumen, Plätzen und Parks. Dabei geht man meist von einer normativen Vorstellung des städtischen Lebens aus, dass gerade eben in den öffentlichen Räumen stattfindet: "Urbanität als Ergebnis und Ort der Kultivierung enthält von Anfang an ein emanzipatorisches Element, zunächst von der Natur, später von gesellschaftlichen Zwängen" (Siebel, 1998, S.262). Siebel meint damit eine gewisse Freiheit im persönlichen Verhalten, die das städtische Leben seinen Bewohner/innen bietet. Diese Freiheit widerspiegelt sich denn auch in den öffentlichen Räumen, indem hier die Verschiedenartigkeit der Individuen aufeinandertrifft und sichtbar wird.
2.5
Integrale Sichtweise auf den öffentlichen Raum
Um den öffentlichen Räumen gerecht zu werden, darf nicht nur eine einzelne Perspektive eingenommen werden. Erst bei einer integralen Betrachtungsweise, der Berücksichtigung der verschiedenen Aspekte also, werden öffentliche Räume begreifbar. Schubert verbindet in seiner integralen Sichtweise die physikalische, die soziale und die historische Perspektive auf die öffentlichen Räume. In der physikalischen Perspektive wird "der öffentliche Raum auf eine Gestaltungsaufgabe reduziert, bei der es nur darauf ankommt, Gestaltvorstellungen wirkungsvoll umzusetzen" (2000, S. 19). Die soziale Perspektive umfasst den "...Einbezug des Moments der sozialen Nutzung und des Wandels der individuellen Ansprüche an Räumlichkeiten" (ebd, S. 25). Erst wenn Menschen solche Räume nutzen, werden sie zu öffentlichen Räumen, wird so Öffentlichkeit erzeugt. Die historische Perspektive umfasst den Wandel der öffentlichen Räume und der Öffentlichkeit von der Anti9
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
ke bis hin zur Neuzeit, wo heute öffentliche Räume als Orte des Transports, der Geschwindigkeit oder der inszenierten Individualität gelten.
2.6
Definition des öffentlichen Raums im Rahmen unserer Arbeit
Eine nach unserem Verständnis stimmige, kurze und einprägsame Definition des öffentlichen Raums liefert Barbara Engel in ihrer Dissertation: "Öffentliche Räume sind die zum allgemeinen Gebrauch vorgesehenen Räume, die prinzipiell für jeden frei zugänglich und zu benutzen sind. Dazu gehören Aussenräume vorwiegend unbebauter und grünbestimmter Art sowie Innenräume mit öffentlichem Zugang und unentgeltlicher Benutzung" (Engel, 2004, S. 31). Für unsere Arbeit einigen wir uns auf folgende Kriterien, die für uns einen öffentlichen Raum auszeichnen: •
allgemeine Zugänglichkeit und somit die Möglichkeit auf Fremdes oder Fremde zu treffen,
•
verschiedenartig nutzbar und
•
unüberbaut, aber von Menschenhand erstellt (also bspw. keine Landschafträume).
Ferner haben wir das System von öffentlichen Räumen nach B. Engel mit der Unterscheidung in gesellschaftliche Zentren ("Plätze"), Strassen und Grünanlage übernommen3. Reine Transiträume (also verkehrsdominierte Strassen ohne Aufenthaltsqualität) haben wir jedoch ausgeschlossen, da uns ja die verschiedenen Aneignungsformen interessieren und da ein Raum, der hauptsächlich durch den Verkehr angeeignet ist, somit nicht von Interesse ist. Für uns stehen öffentliche Räume im Vordergrund, die aufgrund der geplanten oder effektiven Nutzung dem Aufenthalt, der Erholung und der Begegnung dienen.
2.7
Akteursgruppen im öffentlichen Raum
Eine Vielzahl von Akteur/innen ist an der Gestaltung und Nutzung der öffentlichen Räume beteiligt. Die Akteur/innen lassen sich grob in vier Gruppen unterteilen:
2.7.1
Die Ersteller/innen
Da sind die Ersteller/innen, also die Behörden als Verantwortliche, und mehrheitlich die Besitzenden des öffentlichen Raums sowie die beauftragten Planungsbüros. Aus Sicht der Behörden ist der öffentliche Raum wiederum in eine Vielzahl von Aufgaben und Verantwortlichkeiten unterteilt. Im
3
Vgl. Kapitel 4.1 10
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Entwurf zu den Richtlinien über die Gestaltung und die Sicherheit in öffentlichen Räumen der Stadt Bern werden fünfzehn verschiedene verwaltungsinterne und –externe Stellen genannt, die in irgendeiner Form für den öffentlichen Raum oder Teile davon verantwortlich sind. Dies legt die Vermutung nahe, dass hier ein beachtlicher Koordinationsaufwand zwischen den verschiedenen Stellen zu leisten ist. Die Behörden und Planungsbüros haben die Aufgabe, öffentliche Räume zu planen, zu bauen und zu unterhalten. Sie sind als Ersteller/innen und Betreiber/innen verantwortlich für das Funktionieren von öffentlichen Räumen z.B. hinsichtlich Verkehrsabwicklung (Stadt Bern, 2007, S. 34-35).
2.7.2
Die politischen Instanzen
Der öffentliche Raum ist aber auch den Anforderungen und dem Gestaltungswillen der Politik unterworfen. Die politischen Instanzen sind Auftrag- und Geldgeber gegenüber den Behörden. Sie genehmigen Zielsetzungen, Konzepte, Planungen und Kreditanträge und gestalten mit politischen Vorstössen und Anträgen den öffentlichen Raum mit. In Bern fordert bspw. die Motion "Wohnstadt Bern – Piazza Breitenrain", dass ein Planungswettbewerb zur Umgestaltung des Breitenrainplatzes durchgeführt werden soll, u.a. mit der Zielsetzung, den motorisierten Verkehr massiv zu reduzieren und den Platz ästhetisch aufzuwerten (Zysset, 2003). Der Gestaltungswettbewerb ist im Juni 2007 öffentlich ausgeschrieben worden. Ein anderes Beispiel findet sich in Vechigen: Ende der Sechzigerjahre hatte der damalige Gemeinderat Land für den Bau eines Gemeindehauses erworben. Gut zehn Jahre später kam ein weiterer Landkauf dazu mit dem Ziel, ein "Geschäfts-, Dienstleistungs- und Begegnungszentrum" zu erstellen. Der Ideenwettbewerb fand 1981 statt. Anfang der Neunzigerjahre konnte das neue Ortszentrum inkl. Dorfplatz in Betrieb genommen werden (Vechigen, 1990).
2.7.3
Die Interessensvertreter/innen
In dieser Akteursgruppe fassen wir sämtliche organisierte Gruppen zusammen, die sich für bestimmte Zielsetzungen stark machen und mit Aktionen oder Anträgen an die Behörden Einfluss auf den öffentlichen Raum nehmen. Dies können Quartiervereine, Anwohnergruppen, Parteien, Umweltorganisationen etc. sein.
2.7.4
Die Nutzer/innen
Als weitere Akteursgruppe kommen die eigentlichen Nutzer/innen ins Spiel. Zum einen differenzieren sich die Nutzer/innen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit (Alter, Herkunft, Geschlecht, Beruf, Milieu etc.). Der Soziologe Klaus M. Schmals spricht in diesem Zusammenhang die Theorien von Bour11
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
dieu und Beck an und hält fest: "Bezüglich der Sozialstruktur unserer Gesellschaft können wir schon seit geraumer Zeit nicht mehr von homogenen Schichten geschweige denn von Klassen sprechen. Vielmehr scheint sich unsere Gesellschaft – entsprechend gesellschaftlicher Individualisierungs- bzw. soziokultureller Pluralisierungsschübe – in vielfältige Milieus aufzulösen" (Schmals, 1995, S. 209). Als weitere Differenzierung dient die Aktivität, die die Menschen im öffentlichen Raum ausführen. So gliedern sich die Leute in eine Vielzahl von Gruppen, z.B. in Erholungssuchende, Velofahrer/innen, spielende Kinder, Picknicker/innen etc. Es liegt auf der Hand, dass wir es hier mit einer Vielzahl von unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Bedürfnissen zu tun haben.
Ersteller/innen
Politische Instanzen
Interessensvertreter/innen
Nutzer/innen
Funktion
sind Eigentümer und tragen Verantwortung für den öffentlichen Raum, gestalten und unterhalten
sind Geld- und Auftraggeber
stellen Forderungen, nehmen Stellung
nutzen den öffentlichen Raum
Gestaltungseinfluss
erarbeiten Betriebs- und Gestaltungsprojekte
definieren oder beeinflussen Zielsetzung
durch Eingaben und Aktionen
beeinflussen durch konkrete Nutzung, werden z.T. in Planungsprozess einbezogen
Differenzierung
durch verschiedene Aufgabengebiete und Verantwortung
durch das politische Programm und ihre Funktion
durch Themen
durch Persönlichkeit und Nutzung
Motiv
Konsensfähige Lösung (funktional, gestalterisch akzeptiert, kostengünstig)
öffentliche Räume als Gegenstand des politischen Programms (könnnen auch der Profilierung dienen)
kämpfen für bestimmtes Ziel
Nutzbarkeit für persönliche Bedürfnisse steht im Vordergrund
12
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Die Gegenüberstellung der Motive zeigt das Spannungsfeld, in dem sich öffentliche Räume befinden. Die politischen Instanzen erteilen Aufträge und nutzen öffentliche Räume als Schauplatz ihrer politischen Programme. Die Ersteller/innen sind gefordert, konsensfähige Lösungen zu entwickeln und das Funktionieren des öffentlichen Raums sicherzustellen. Interessensvertreter/innen kämpfen für die Durchsetzung ihrer Ziele. Die Nutzer/innen letztlich fordern öffentliche Räume, die ihren verschiedenartigen persönlichen Bedürfnissen entsprechen.
2.8
Beeinflussungen des öffentlichen Raums
Viele Problemanalysen zum öffentlichen Raum beginnen mit der Bennennung von gesellschaftlichen und räumlichen Veränderungen, die durchaus einen starken Einfluss auf den öffentlichen Raum und seine Nutzbarkeit haben können. Selle (2003, S. 44-45) benennt dazu folgende Einflüsse: Delokalisierung: Im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung relativiert sich die lokale räumliche Verankerung. Mobilität: Die zunehmende Mobilität prägt öffentliche Räume einerseits in dem Sinne, dass der Verkehr zunimmt und vermehrt Flächen beansprucht und so die verbleibenden Stadträume durch Lärm und Abgase belastet. Andererseits führen Mobilität und Medientechnik dazu, dass sich heute die Gleichzeitigkeit von Zeit und Raum in den individuellen Handlungen immer mehr auflöst. Virtualität: Der Cyberspace übernimmt zum Teil Funktionen, die früher ausschliesslich dem öffentlichen Raum zugeschrieben waren (Begegnungen und Kommunikation mit Bekannten und Fremden). Individualisierung: Traditionelle, handlungsleitende Normen und soziale Bindungen in Schichten und Klassen lösen sich immer mehr auf. Diese Prozesse haben – so scheint es - auch Auswirkungen auf das individuelle Verhalten in öffentlichen Räumen. Suburbanisierung: Die Verlagerung von publikumsbezogenen Nutzungen an die Peripherie führt zu anderen Stadtstrukturen und letztlich auch zu neuen öffentlichen Räumen. Nutzungsentmischung: Die Nutzungstrennung von Wohnen und Arbeiten wird als wesentlicher Grund für den Verlust von Urbanität angesehen. Insbesondere die öffentlichen Räume, in denen sich in früheren Zeiten zahlreiche Nutzungen überlagerten, würden so ihrer Funktion beraubt. Segregation: Die soziale Entmischung kann zu Ausgrenzung und Abschottungstendenzen (gated communities) führen. Somit entfällt in der Tendenz eine wesentliche Funktion des öffentlichen Raums, nämlich das Erleben des Fremden.
13
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Aus diesen Einflüssen leitet Selle (S. 47-57) folgende Probleme ab:
Funktionsverlust
Flächenverlust
Qualitätsverlust
Steuerungsdefizite
Funktionen wie Handel, Begegnung, Meinungsbildung passieren zunehmend in anderen Räumen. An ihrer Stelle treten neue Nutzungen wie z.B. die Zunahme von Events.
Zweckentfremdung des öffentlichen Raums durch Verkehr, Privatisierung und Kommerzialisierung
Einschränkung der Freiheitsrechte z.B. durch Ausgrenzung von unerwünschten Gruppen und durch Videoüberwachung, Unsicherheit, Vernachlässigung von öffentlichen Räumen
Auslagerung von Aufgaben der öffentlichen Hand an Private (z.B. Bewachung, Reinigung), Aushebeln der politischen Kontrolle
2.9
Öffentlicher Raum in Prozessen der Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung
Der öffentliche Raum ist in GSR-Prozessen in vielfacher Hinsicht von Bedeutung. Er prägt das Bild eines Ortes in entscheidendem Masse, hat einen wesentlichen Einfluss auf das Image eines Ortes. Dies ist im Zusammenhang mit der zunehmenden Konkurrenz unter den Gemeinden nicht zu unterschätzen. Der öffentliche Raum gilt als wichtiger Standortfaktor sowohl für Wohn- wie auch für Firmenstandorte. Wesentliche Ursache-Wirkungszusammenhänge fasst Oliver Kuklinski, Beteiligter am Forschungsprojekt "Städte als Standortfaktor: Öffentlicher Raum" wie folgt zusammen: •
"Schwierige Haushaltlagen in den Kommunen führen zu selektivem Instandhaltungsstau, reduzieren eigene Handlungsspielräume und erhöhen den Druck, Kooperationen einzugehen.
•
Standortkonkurrenz führt zur Konzentration der Aktivitäten auf die öffentlichen Räume in den Innenstädten und damit (tendenziell) zur Vernachlässigung anderer Räume.
•
Verwaltungsinterne Kompetenzstreitigkeiten und Ressortegoismen führen zu Reibungsverlusten" (Kuklinski, 2003, S.2).
Der öffentliche Raum bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen "Sparschwein und Aushängeschild" (ebd.). Bezüglich seiner Funktion als Aushängeschild ist der öffentliche Raum zunehmenden Ansprüchen unterworfen. Er soll attraktiv sein, Identität stiften, integrierend wirken, Platz bieten für Nutzungen von Events bis Erholung etc. Gleichzeitig zu den steigenden Ansprüchen gesellen sich auch Schwierigkeiten im öffentlichen Raum dazu (z. B. Vandalismus, Konflikte zwischen einzelnen Nutzer/innengruppen, die Anwesenheit von "Problemgruppen", Lärm oder Schmutz). Als eigentliches "Gerippe" eines Ortes muss der öffentliche Raum immer in Veränderungsprozesse miteinbezogen werden. Zumal er das hauptsächliche Handlungsfeld der öffentlichen Hand ist, z.B. wenn es um räumliche Aufwertungsmassnahmen geht. Oder wie es Sieverts formuliert: "Das wirksamste Feld zur Durchsetzung von Stadtgestaltungszielen ist der öffentliche Raum der Strassen, Plätze, Freiflächen und öffentlichen Einrichtungen, weil in diesem Bereich die Gemeinde die Ver14
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
antwortung von der Planung bis zur Baudurchführung und Nutzungsregelung hat" (Sieverts, 1983, zit. in Schubert, 2000, S. 19).
2.10 Fazit Die vorangegangenen drei Kapitel umreissen die enorme Komplexität, die dem Thema öffentlicher Raum innewohnt: •
die grosse Anzahl an Akteur/innen mit unterschiedlichen Motiven und Bedürfnissen,
•
die Verschiedenartigkeit der Einflüsse, die auf den öffentlichen Raum einwirken und zu einem grossen Teil nicht kontrollierbar sind,
•
die hochtrabenden Erwartungen, die man an den öffentlichen Raum stellt,
•
und nicht zuletzt die knappen Ressourcen, die zur Verfügung stehen.
15
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
3
Aneignung: Allgemeinverständnis und Begriff
Der Begriff der Aneignung wird von verschiedenen Disziplinen jeweils unterschiedlich definiert. Mehrheitlich erscheint der Begriff im Kontext von Bildung und Erziehung und wird umgangssprachlich in erster Linie für das Erlernen von Fertigkeiten und für das Aneignen von Wissen benutzt. Die Rechtslehre wiederum spricht im Zusammenhang von Aneignung vom Erwerb des Eigentums an herrenlosen Sachen (z.B. Tieren oder Grundstücken). Im Rahmen der Dialektik - einer philosophische Arbeitstechnik - versteht man unter dem Prozess der Aneignung die bewusste Gestaltung der menschlichen Lebensbedingungen. In der Psychologie, insbesondere in der Entwicklungspsychologie steht Aneignung für einen innerpsychischen Prozess, der mehr oder weniger unbeeinflusst von aussen verläuft (Deinet, 1999, S. 29). Demgegenüber entwickelte Leontjew, ein Vertreter der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie, ein etwas divergierendes Konzept der Aneignung: Er versteht die Entwicklung des Menschen als tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, als Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur. Mit Umwelt meint Leontjew sowohl eine gesellschaftliche als auch eine gegenständliche Umwelt oder, anders gesagt, eine soziale und ein physische Umwelt.
3.1
Aneignung und Raum
Wenn nun in dieser Arbeit von Aneignung gesprochen wird, meinen wir damit die Aneignung im "physischen Raum" (Bourdieu, 1991, zit. in Sailer, 2004, S. 17). Bourdieu prägte den Begriff des physischen Raums und meint damit den "konkreten Raum, den körperlich-materiellen, den gebauten und umbauten Raum, der die örtliche Gebundenheit des Menschen zum Ausdruck bringt", einen Raum, auf den "wir uns im Allgemeinen beim Planen beziehen". Aneignung im konkreten Raum vollzieht sich im Rahmen des alltäglichen Gebrauchs der Umwelt. Durch Routinentätigkeiten, regelmässige Verrichtungen und Gewohnheiten wird Raum zur bekannten und vertrauten Umgebung, mit der sich Einzelne wie auch Gruppen identifizieren können. Doch findet Aneignung von Raum nicht nur über die Reproduktion von Altbekanntem und Vertrautem statt, sondern passiert auch - insbesondere bei Kindern und Jugendlichen - über die Veränderung und Umnutzung von (öffentlichen) Räumen. Räume werden intensiv angeeignet durch Eigentätigkeit, z.B. durch Spiele, was dem Raum eine besondere Bedeutung gibt. Paul-Henry Chombart de Lauwe beschreibt Aneignung des Raumes als das "Resultat der Möglichkeiten, sich im Raum frei zu bewegen, sich entspannen, ihn besitzen, etwas empfinden, bewundern, träumen, etwas kennenlernen, etwas den eigenen Wünschen, Ansprüchen, Erwartungen
16
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
und konkreten Vorstellungen gemässes tun und hervorbringen zu können" (Chombart de Lauwe, 1977, S. 6, zit. in Tessin, 2004, S. 116). Wer sich einen Raum angeeignet hat, verweilt gerne dort. Es entsteht das Gefühl, dorthin zu passen und von anderen Leuten an diesem Ort akzeptiert zu werden. Die sozialen Strukturen werden nicht als Zwänge, sondern als Möglichkeit erfahren: "Angeeignete Räume bestehen aus Regionen relativer Handlungsfreiheit, die beeinflusst, erobert und durch eigene Aktivitäten gestaltet werden können" (Scheller, 1995, S. 92, zit. in Fredrich, 1999, S. 161).
3.2
Ebenen der räumlichen Aneignung
Menschen eignen sich, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmass, ihre Umwelt an. Sie machen sie sich zu eigen bis hin zu dem Punkt, wo sie sich mit bestimmten Aspekten ihrer Umwelt identifizieren und beginnen, von "ihrem" Spielplatz, "ihrer" Sitzbank oder "ihrem" Quartier zu sprechen. Die Aneignung geschieht dabei je nachdem auf eine aktivere oder passivere Art. Unter aktiverer Aneignung können bspw. die Verwendung von vorhandenen Spielgeräten (Schaukel, Wippe etc.), ein Picknick auf der Wiese oder das Zubereiten von Speisen auf einem vor Ort montierten Grill verstanden werden. Passivere Aneignung ist z.B. das Durchqueren eines Parks. Tessin (2004, S. 160) differenziert die verschiedenen Ebenen eines Aneignungsprozesses folgendermassen: •
Wahrnehmen;
•
Erkunden mit Hilfe der Sinne;
•
Praktisch nutzen (in Gebrauch nehmen);
•
Sich geistig mit dem Objekt beschäftigen (sich vorstellen, sich erinnern);
•
Eigene Spuren hinterlassen durch Zeichen, verteilen persönlicher Dinge im Raum, umgestalten, Souvenirs mitnehmen (Photos, Steine etc.);
•
Rechtlich-materielle Inbesitznahme durch Erwerb, Einfriedung, durch Vertreibung anderer, aber auch sprachliche Zu-Eigen-Machung (davon Sprechen, "mein" sagen) im Sinne eines Territoriums, das man anderen gegenüber abgrenzt und gegebenenfalls verteidigt.
Die Aneignung muss dabei nicht jede einzelne Ebenen erfassen und tut es in aller Regel auch nicht.
3.3
Formen der räumlichen Aneignung
Anhand der Aufzählung der Ebenen des Aneignungsprozesses nach Tessin können zwei wesentliche Formen der Aneignung herausgeschält werden: Eine sichtbare, im konkreten Raum stattfin17
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
dende Aneignung (z.B. die Nutzung einer Sitzbank) sowie eine Aneignung, die sich auf einer eher geistigen Ebene - "im Kopf" - abspielt und die vor allem die Bedeutung, die einem Raum zugeschrieben wird, beinhaltet. Aneignung heisst in diesem Sinne, sich den physikalischen, aber auch den sozialen und geistigen Raum handelnd so zu erschliessen, "dass Orientierung, also Handlungsentwurf und -realisation, in ihm möglich ist" (Kruse & Graumann, 1978, S. 187 in Herlyn, von Seggern, Heinzelmann & Karow, 2003, S. 28). Nach Herlyn et al. verfügt jeder konkrete Raum rein physisch über eine spezifische Raumkonstellation, die bestimmte Aktivitäten möglich sein lässt und andere ausschliesst. Es lassen sich eine Reihe von Merkmalen des jeweiligen Raums benennen, die Einfluss auf das Freiraumverhalten und demzufolge auf die Aneignung haben. Dies sind die Lage, die Zuordnung und die Art der konkreten Nutzungsangebote, die Erreichbarkeit, die Grösse, der Zuschnitt und die innere Bereichsbildung, die Ausstattung, die jeweiligen Ausprägungen von Grenzen und Verbindungen und das Mass an nicht zweckgebundener räumlicher Vielfalt. Hinzu kommen Aspekte wie z.B. Lärmbelästigung. Gemäss Herlyn et al. werden Räume erst verhaltensrelevant aufgrund von Bedeutungen, welche Menschen an diese verschiedenen Räume herantragen. Diese Bedeutungen entstehen aus der sozialen Interaktion mit anderen Menschen und haften den Räumen nicht schon von vornherein an; sondern sie werden schliesslich in der konkreten Auseinandersetzung mit der Umwelt situationsadäquat interpretiert. "Dieser auf den Symbolischen Interaktionismus zurückgehende Ansatz ... stellt die Definitions-, Interpretations- und Interaktionsprozesse in den Vordergrund und erklärt das Verhalten in Räumen insofern als sozialen Prozess" (Herlyn et al., 2003, S. 29). Ganz in diesem Sinne schreibt Chombart de Lauwe: "Die Aneignung des Raums ist kein individueller oder isolierter Akt, sie ist vielmehr gesellschaftlicher Natur, da die Objekte und ihre Verteilung im Raum als Träger von Botschaften und Bedeutungen fungieren. Derart ist die Aneignung von Raum ein Kommunikationsprozess" (Chombart de Lauwe, 1977, S. 6 in Herlyn et al., 2003, S. 29). So umfassend und weitreichend Aneignung von Räumen auch geschehen kann, so stehen der Aneignung verschiedentlich Hindernisse entgegen: Sie können vorrangig juristisch (z.B. Verbot, den Raum zu betreten), sozial (z.B. Meidung von Räumen aufgrund von Ängsten), ökonomisch (z.B. Raumnutzung gebunden an finanzielle Leistungen) oder auch räumlich (z.B. physische Behinderung von Aktivitäten, nicht behindertengerechte Ausstattung) sein. Herlyn et al. sprechen hierbei von "Aneignungsbarrieren" (2003, S. 30) und kommt zum Schluss, dass es aufgrund dieser Barrieren nur in Ausnahmefällen zu einer vollständigen Raumaneignung kommt, dass also die Aneignung von Raum in der Realität häufig unvollkommen bleibt.
18
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
4
Methodische Anlage und Forschungsprozess
Entsprechend dem Thema und unserer Fragestellung haben wir uns entschieden, mit unterschiedlichen Methoden zu arbeiten, wobei diese von der Ausrichtung her der qualitativen Sozialforschung zugeordnet werden können. Unser Ziel, möglichst unvoreingenommen verschiedene öffentliche Räume aufzusuchen und zu beobachten, was dort genau passiert und wie diese Räume genutzt werden, legte es nahe, qualitative Forschungsmethoden zu wählen. Die qualitative Forschung nutzt gemäss Flick, von Kardorff und Steinke (1995, S. 14) "das Fremde oder von der Norm Abweichende und das Unerwartete als Erkenntnisquelle und Spiegel, der in seiner Reflexion das Unbekannte im Bekannten und Bekanntes im Unbekannten als Differenz wahrnehmbar macht und damit erweitere Möglichkeiten von (Selbst-)Erkenntnis eröffnet". Ohne hier eine Diskussion über qualitative vs. quantitative Methoden anreissen zu wollen, sind wir der Meinung, dass Methoden der qualitativen Forschung in ihren Zugangsweisen zu den untersuchten Phänomenen häufig offener und deshalb wohl auch näher am Untersuchungsgegenstand sind, als dies mit quantitativen Methoden möglich ist. Da wir zudem prozessorientiert arbeiten wollten, kamen uns Methoden, die auch auf die subjektive Wahrnehmung sowie Reflexivität der Forschenden als Bestandteil der Erkenntnis zurückgreifen, mehr entgegen. Grundsätzlich werden qualitative Verfahren oft benutzt, wenn der Forschungsgegenstand neu ist oder um das Forschungsgebiet zu erkunden und Hypothesen zu bilden. Qualitative Forschung hat eine starke Orientierung am Alltagsgeschehen und/oder im Alltagswissen der Untersuchten (Flick et al., 1995, S. 23). Sie hat keinen Anspruch auf Repräsentativität: Gesucht wird nicht nach dem "Mainstream", dem allgemein Gültigen, sondern nach dem Besonderen. Mit den Methoden der qualitativen Forschung sollen primär Hypothesen herausgearbeitet werden und nicht quantitative Ergebnisse. Die Wissenschaftlichkeit definiert sich daran, dass wir in einem transparenten, systematischen und anschlussfähigen4 Vorgehen neues Wissen schaffen und laufend das eigene Forschungshandeln reflektieren. Methoden, die der qualitativen Sozialforschung zugewiesen werden, sind u.a. teilnehmende Beobachtungen, Einzelfallstudien, qualitative Interviews (narrative, episodische, fokussierte etc.) und Gruppendiskussionen. Im Folgenden gehen wir auf die von uns gewählten Methoden näher ein. Zwei Methoden werden theoretisch, im Sinne einer Begriffsdefinition, näher erläutert. Das Schwergewicht liegt auf der Beschreibung unseres konkreten methodischen Vorgehens und des damit einhergehenden Prozesses.
4
Anschlussfähig meint hier das Anknüpfen an bisheriger Forschung und wiederum anschlussfähig sein für künftige Forschung. 19
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
4.1
Auswahl der Untersuchungsräume: Prinzip der Kontrastierung
Von Beginn weg hatten wir das Ziel, wenn irgendwie möglich unsere beiden aktuellen Arbeitsorte (Bern und Vechigen) mit in die Masterarbeit einzubeziehen. Mit diesem Ziel verknüpft ist die Absicht, einerseits von persönlichem Lokalwissen zu profitieren, andererseits aber auch den Blick für den Raum zu schärfen, in dem wir (mitunter) beruflich tätig sind. Neben der Stadt Bern war demzufolge auch die Gemeinde Vechigen für uns von Interesse. Die Gemeinde Vechigen liegt am Rande des Agglomerationsgürtels des Grossraums Bern und weist eine eher ländliche Dorfstruktur auf. Obwohl Vechigen sicher bedeutend weniger öffentliche Räume zur Auswahl bietet als Bern, sind sie nicht weniger interessant. In einem ersten Schritt überprüften wir anhand von Kartenmaterial, wo und in welchem Umfang öffentliche Räume in der Stadt Bern und in Vechigen vorhanden sind. Bevor wir uns entschieden, welche öffentlichen Räume wir für unsere Arbeit wählen wollten, suchten wir diverse in Frage kommende Untersuchungsräume zu Fuss oder mit dem Fahrrad auf. Jeweils vor Ort, liefen wir den gesamten Raum ab, notierten kurz unsere ersten Eindrücke, besondere Merkmale und Prägungen des Raums sowie - punktuell - Interaktionen, die im Raum zu beobachten waren. Neben einem ersten Kurzprotokoll hielten wir das Ganze auch fotografisch fest. Mit diesen Begehungen gelang es uns, die Räume sinnlich zu erfassen und ein Raumgefühl zu entwickeln. Dadurch wurde für uns sichtbar, was alles neben der Anlage, Ausstattung und Infrastruktur den Raum noch mit beeinflusst (z.B. wettergeschützt oder nicht, Lärmbelastung etc.). Wir konnten dank diesen Begehungen einen ersten Einblick in die Nutzung des Raumes gewinnen und abschätzen, ob und in welchem Umfang es hier überhaupt etwas zu beobachten gibt und inwieweit wir uns dabei - beim Beobachten - exponieren müssten. Um nun eine Auswahl aus den vielen aufgesuchten Räumen treffen zu können, erstellten wir eine knappe, prägnante Liste mit den jeweiligen, aus unserer Sicht für die entsprechenden Räume typischen "Charaktereigenschaften". So wurden die unterschiedlichen Merkmale der Räume sichtbar und konnten besser differenziert werden. Anhand dieser teilweise divergierenden Merkmale der Räume konnten wir nun unter dem Kriterium der Kontrastierung eine definitive Auswahl der Beobachtungsräume treffen. Unter Kontrastierung verstehen wir, dass die ausgewählten Räume eine gewisse Bandbreite an Eigenschaften abdecken sollen, damit wir so ein breiteres Resultat bei den Beobachtungen erzielen konnten. Also bspw. nicht nur Grünanlagen zu wählen, sondern auch Plätze, nicht nur kleine Räume, sondern auch grosse, nicht nur städtische, sondern auch ländliche Räume etc. einzubeziehen. Kriterien der Kontrastierung waren u.a. Lage, Grösse, Funktion, Beschaffenheit, Verkehrsbelastung etc. Die auf diese Weise exemplarisch ausgewählten öffentlichen Räume sind folgende: 20
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Kriterien der Kontrastierung
Zuordnung der Räume5
•
•
Grünanlage
• • • •
sehr zentrale Lage innerhalb des Quartiers mittelgross Park, Spielplatz grün verkehrsfrei
Bahnhofplatz Bümpliz Süd (Bümpliz, Gemeinde Bern)
• • • • •
am Rande des Quartiers klein Umsteigeort eher grau nicht verkehrsfrei
• •
gesellschaftliches Zentrum Strasse
Cäcilienplatz (Mattenhof, Gemeinde Bern)
•
zentrale Lage innerhalb des Quartiers klein Quartierplatz, Spielplatz grün und grau verkehrsfrei
• •
Grünanlage gesellschaftliches Zentrum
zentrale Lage innerhalb des Quartiers, Nähe zur Innenstadt gross Park, Spielplatz grün verkehrsfrei
•
Grünanlage
eher peripher, dörfliches Umfeld klein Umsteigeort grau nicht verkehrsfrei
• •
gesellschaftliches Zentrum Strasse
zentrale Lage, dörfliches Umfeld klein Dorfplatz grau verkehrsfrei
•
gesellschaftliches Zentrum
Bachmätteli (Bümpliz, Gemeinde Bern)
• • • • Monbijoupark (Monbijou, Gemeinde Bern)
•
• • • • Bahnhofplatz Boll-Utzigen (Gemeinde Vechigen)
• • • • •
Dorfplatz Boll (Gemeinde Vechigen)
• • • • •
Die einzelnen Räume werden im Kapitel 5 genauer vorgestellt.
5
Nach B. Engel vgl. Kapitel 2.6 21
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
4.2
4.2.1
Angewandte empirische Verfahren
Teilnehmende Beobachtung
4.2.1.1 Begriffserklärung Unter teilnehmender Beobachtung versteht man eine Forschungsmethode, bei der der Beobachtende - zumindest im weitesten Sinne - selbst in Interaktion zur beobachteten Person resp. zum Beobachtungsgegenstand steht. Ein massgebliches Kennzeichen der teilnehmenden Beobachtung ist der Einsatz der Beobachter/innen in der natürlichen Lebenswelt der Untersuchungspersonen. Dabei hält er/sie beobachtete Vorgänge genau und systematisch fest, z.B. mittels Beobachtungsprotokollen. Die Teilnahme des Forschenden kann von blosser physischer Präsenz bis hin zur vollständigen Interaktion reichen. Die Kunst dabei ist, trotz allfälliger Nähe eine Distanz zum Beobachtungsgegenstand zu wahren. Diese Distanz ist notwendig, um die Erfahrungen wissenschaftlich reflektieren zu können, und bewahrt vor dem allzu starken Eintauchen der Beobachter/innen in das Leben der andern. Der zu untersuchende Raum kann mit einer offenen oder verdeckten Beobachtung erforscht werden. Bei der offenen Beobachtung ist den zu untersuchenden Personen die Anwesenheit des Forschenden bekannt, bei der verdeckten Beobachtung sollte niemand von der Absicht der Forschungsarbeit erfahren. Weiter lassen sich bezüglich Beobachtungsverfahren die Dimensionen natürlich - künstlich (erfolgt die Beobachtung im natürlichen Feld oder unter speziell hergestellten Bedingungen), systematisch - unsystematisch (inwieweit ist die Beobachtung durch vorgefertigte Schemata standardisiert) sowie selbst - fremd (inwieweit werden Fremde und inwieweit wird der Beobachter selbst zum Gegenstand der Beobachtungen) unterscheiden. Der Beobachtungsraum muss in der "Reichweite der menschlichen Sinnesorgane" (Lamnek, 2005, S. 555) liegen. Er ist darum von der Grösse her einer gewissen Beschränkung unterworfen. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung bietet sich vor allem in jenen Fällen an, in denen es drauf ankommt, soziales Verhalten zu ermitteln. Gegenstand der Beobachtungen ist daher vornehmlich das soziale Handeln von Individuen oder Gruppen. Dabei wird weniger eine Vogel- als vielmehr eine Binnenperspektive eingenommen, denn die teilnehmende Beobachtung will ihren Untersuchungsgegenstand von innen heraus verstehen: "Mit ihrer Hilfe können subjektive Sichtweisen, die Abläufe sozialer Prozesse oder die kulturellen und sozialen Regeln, die diese Prozesse prägen, verstanden werden" (Schöne, 2003, S. 4). Weiter meint Schöne, etwas anspruchsvoll: "Das der teilnehmenden Beobachtung zugrunde liegende Erkenntnisprinzip heisst Verstehen". Also ein Verstehen oder in Ansätzen ein Verständnis-Erlangen bezüglich der Wertvorstellungen, Sinnwelten und Normen des Beobachteten. Zudem sieht Schöne (2003, S. 16) einen nicht zu un22
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
terschätzenden Gewinn der teilnehmenden Beobachtung darin, durch die Felderfahrung "nicht nur ein intellektuelles Wissen, sondern auch ein Gefühl für den Untersuchungsgegenstand zu erhalten."
4.2.1.2 Arbeit im Feld Im Zeitraum von Mitte März bis Ende April 2007 fanden unserer teilnehmenden Beobachtungen statt. Die Beobachtungsdauer pro Raum betrug durchschnittlich eine Stunde - im Minimum 30 Minuten, maximal 1.5 Stunden. Der Erhebungszeitraum umfasste die späteren Morgenstunden (ab 10.00h) bis in die Abendstunden (19.30h). Unsere Ausgangslage war so, dass wir die Räume in erster Linie dann beobachten wollten, wenn dort "etwas lief" und somit auch beobachtbar war. Ziel war, die für den jeweiligen Beobachtungsort günstigsten Beobachtungszeitpunkte festzulegen, was bedeutete, dass wir bewusst Beobachtungszeiten ausschlossen, an denen mit grosser Wahrscheinlichkeit nur ganz wenige Beobachtungen hätten gemacht werden können. Vor 10.00h die Räume zu beobachten, hätte nur bedingt Sinn gemacht, wurden die von uns beobachteten öffentlichen Räume grundsätzlich erst später benutzt. Da wir die meisten der beobachteten Räume bereits aus eigener Erfahrung kannten, beruht die Auswahl nicht nur auf einer Annahme, sondern resultiert aus eigenen Erfahrungen. Zudem machten wir in allen Räumen Stichproben, wobei wir feststellten, dass die beiden Bahnhofsplätze (Bümpliz Süd und Boll-Utzigen) zwar zu den frühen Morgenstunden rege benutzt werden, doch fast ausnahmslos für den Transit. Möglicherweise mehr Sinn gemacht hätten Beobachtungen nach 19.30h. Dann war es jedoch bereits dunkel, die Räume waren zusehends entleert. Zudem gingen wir davon aus, dass unser Beobachten (zwar teilnehmend, aber verdeckt) in der Nacht bedeutend mehr auffallen würde als den Tag durch, die Sicht wäre teilweise massiv eingeschränkt gewesen, das Schreiben der Protokolle erschwert. Nicht zuletzt hätten sich wohl die in der Nacht im öffentlichen Raum Anwesenden vermehrt in ihrer Aneignung des Raums gestört gefühlt. Wir waren mehrmals und zu unterschiedlichen Zeiten in den einzelnen Räumen unterwegs. Zu Beginn waren wir immer zu zweit vor Ort präsent. Einzig im Monbijoupark trennten wir uns wegen der Grösse des Raums von Beginn an auf. Den Ort, woher wir beobachteten, wählten wir so, dass der Raum möglichst gut überblickbar war. Beim Beobachten sassen wir auf Bänken. Eine Ausnahme bildetet der Bahnhofplatz Boll-Utzigen: Dort sind nur auf dem Bahnperron Sitzbänke vorhanden, allerdings ohne Sicht auf den Platz. Um nicht gleich mitten auf dem Platz stehen zu müssen, wählten wir einen Stehtisch beim Kiosk als Beobachtungsposten. Ob wir in den andern Räumen am Rande oder eher zentral sassen, war in hohen Mass von der Grösse und Möblierung der Räume abhängig. Wir versuchten, uns möglichst unauffällig zu verhalten, um zu vermeiden, dass 23
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
sich die andern Anwesenden beobachtet fühlten. Somit waren wir zwar Teil des Beobachtungsraums, waren insofern klar sichtbar, traten manchmal gar in direkten Kontakt mit Anwesenden (Menschen und Tiere), sollten aber stets als normale, z.B. lesende oder Briefe schreibende Benutzer/innen des Raums wahrgenommen werden. Wir gewannen den Eindruck, dass wir weniger auffielen, wenn gemischtgeschlechtlich unterwegs waren. Vor allem in kleineren Räumen, die zu gewissen Zeiten mehrheitlich von Frauen mit Kindern besucht werden, fällt ein Mann, der alleine auf einer Bank sitzt, der sich umschaut und Notizen macht, viel mehr auf - ein Pärchen hingegen wirkt neutraler. Für uns waren die gemeinsamen Beobachtungen auch in anderer Hinsicht von Vorteil: Wir konnten uns abwechseln beim Schreiben, zudem sehen vier Augen bekanntlich mehr als zwei. Ferner konnten wir uns hinsichtlich Umfang sowie Art und Weise der Notizen gegenseitig eichen - während dem Beobachten, aber auch beim späteren Reinschreiben. Erst im letzten Teil unserer Beobachtungen waren wir alleine unterwegs. Sämtliche Beobachtungen wurden in Form von detaillierten Beobachtungsprotokollen dokumentiert. Auf den Protokollen hielten wir neben den konkreten Beobachtungen auch Zeit, Ort und Klima sowie den persönlichen Eindruck fest. Eine vierte Spalte wurde reserviert für Interpretationen, was nicht vor Ort, aber für die spätere Verarbeitung der Beobachtungen zweckmässig war. Mit dieser Aufsplittung in verschiedene Rubriken war zudem gewährleistet, dass keine Vermischung von Beobachtungen mit Interpretationen oder mit der momentanen persönlichen Verfassung stattfanden. Jedes handgeschriebene Protokoll erfuhr eine Reinschrift auf dem PC. Dabei wurde für jede Beobachtungssequenz eine separate Zeile verwendet. Nach einer ersten Staffel Beobachtungen sichteten wir die bisher festgehaltenen Daten und ergänzten die Beschreibungen der Beobachtungen mit Interpretationen und Hypothesen. Diese Form der Datenverarbeitung während des noch laufenden Datenerhebungsprozesses wählten wir in Anlehnung an die Grounded Theory6 nach Strauss und Corbin (1996, S. 148ff). Strauss ist der Meinung, dass oftmals Berge von Daten erhoben werden, ohne dass man sich überlegt, was mit den Daten gemacht werden soll. Er plädiert dafür, die Daten laufend auszuwerten und anhand der daraus gewonnenen Erkenntnisse weiterzuforschen. Das Interpretieren der Protokolle erfolgte im Dialog. Wir versuchten, den Interpretationen und der Hypothesenbildung (relativ) freien Lauf zu lassen, ohne jedoch allzu weit Hergeholtes miteinzubeziehen. Leitfragen für diesen Prozess lauteten wie folgt: Was fällt uns auf in der Beobachtungsse-
6
Wir kommen im Kapitel 4.2.2.1 nochmals auf die Grounded Theory zu sprechen. 24
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
quenz? Was ist besonders? Was könnte der beobachteten Interaktion/Handlung zu Grunde liegen? Was hat das Beobachtete mit Aneignung zu tun? Solche Interpretationen entwickelten wir auf Basis konkreter Beobachtung, des Kontextes, in dem das Beobachtete stattfand sowie unseres Alltags- und Fachwissens. Die dialogische Vorgehensweise gekoppelt mit unseren unterschiedlichen beruflichen Hintergründen ermöglichte ein gutes Abgleichen der von den Beobachtungen abgeleiteten Interpretationen und der (ersten) Erkenntnisse. Als Nebenprodukt wurden wir je selber und gegenseitig konfrontiert mit unseren mentalen Modellen. Neben der Fachlichkeit und der Interdisziplinarität kam uns hier - wie auch später - zugute, dass wir die Daten aus der Perspektive einer Frau und der eines Mannes analysieren konnten. Anhand der gewonnenen, aber erst vorläufigen Erkenntnisse (und auch Fragen) war es uns möglich, bei den folgenden Beobachtungen den Fokus konzentriert auf bestimmte Interaktionen zu lenken. Nach der zweiten Staffel Beobachtungen folgte eine weitere Interpretationsphase. Bei den folgenden und letzten Beobachtungen war der Fokus darauf gerichtet, nur noch etwas Neues, bisher noch nicht Beobachtetes festzuhalten. Während der gesamten Beobachtungsphase führten wir eine chronologische Übersichtsliste aller Beobachtungen7. Auf diese Weise hatten wir stets einen guten Überblick, in welchen Räumen noch weitere Beobachtungen anstanden und welche Zeiträume noch nicht abgedeckt waren.
4.2.2
Datenauswertung: Grounded Theory
4.2.2.1 Begriffserklärung Um die Beobachtungsprotokolle gezielt auswerten und interpretieren zu können, stützten wir uns auf Kodierverfahren aus dem Arsenal der Grounded Theory nach Strauss und Corbin, so wie sie in ihrem Grundlagewerk (1996) dargestellt sind. Der Begriff der Grounded Theory bezeichnet einen sozialwissenschaftlichen Ansatz zur systematischen Auswertung vor allem qualitativer Daten (erhoben z.B. mittels Beobachtungen, Interviews etc.). Dabei stellt die Grounded Theory keine einzelne Methode dar, sondern beinhaltet eine Reihe von ineinandergreifenden Verfahren. Das Ziel der Grounded Theory ist gemäss Strauss et al. (1996, S. 9) "das Erstellen einer Theorie, die dem untersuchten Gegenstandsbereich gerecht wird und ihn erhellt." Strauss et al. legen Wert darauf zu betonen, dass dieser Ansatz stark praxisbezogen sei und damit versucht werde, möglichst realitätsnahe Theorien zu entwickeln. Nach ihrem Verständnis müssen jedoch nicht zwangsläufig nur Theorien das Produkt einer nach ihrem Ansatz erfolgten Forschung sein, sondern als ebenso wich-
7
Vgl. Anhang 25
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
tig und angemessen erachten sie "kurze, anwendungsorientierte Erkundungsstudien" (Strauss et al., 1996, S. 18).
4.2.2.2 Offenes Kodieren: Definition Unter dem Begriff Kodieren verstehen Strauss et al. den eigentlichen Prozess der Datenanalyse. Das offene Kodieren ist der Analyseteil, der sich besonders auf das Benennen und Kategorisieren der Phänomene8 mittels einer eingehenden Analyse der Daten bezieht. Während des offenen Kodierens sollen "die Daten in einzelne Teile aufgebrochen, gründlich untersucht, auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin verglichen" (Strauss et al., 1996, S. 44) werden. Mit Aufbrechen der Daten meinen Strauss et al. "das Herausgreifen einer Beobachtung, eines Satzes, eines Abschnitts und das Vergeben von Namen für jeden einzelnen darin enthaltenen Vorfall, jede Idee oder jedes Ereignis" (1996, S. 45). Es werden Fragen über die Phänomene, wie sie sich in den Daten widerspiegeln, gestellt, z.B.: Was ist das? Was repräsentiert es? Im weiteren Vorgehen werden Vorfall mit Vorfall (oder Ereignis mit Ereignis) verglichen, damit ähnliche Phänomene den gleichen Namen bekommen. Die daraus gewonnen Bezeichnungen oder Umschreibungen (die "Namen") werden Konzepte genannt. In einem nächsten Schritt fasst man die vorläufig gefundenen Konzepte in Kategorien zusammen. Was wir unter Konzepten und Kategorien verstehen und wie wir mit dem offenen Kodieren generell arbeiteten, wird im folgenden Kapitel beschrieben.
4.2.2.3 Konkretes Vorgehen Grundlage für die Auswertung und somit Gegenstand der offenen Kodierung bildeten unsere Beobachtungsprotokolle. Auf Basis der Beobachtungsprotokolle erstellen wir beide, unabhängig voneinander, eine Liste mit Begriffen und Stichwörtern, die uns anhand der konkreten Beobachtungen in den Sinn kamen. Wir gaben auf diese Weise den beobachteten Phänomenen aus unserer Sicht plausible Namen. Zur Veranschaulichung ein paar Beispiele der so entstandenen Konzepte: •
sich in Gruppen aufhalten
•
Mittagspause machen
•
Picknick
•
im Bach spielen
•
Kindervelo fahren
•
auf Wiese liegen
8
Phänomene meint in dieser Arbeit beobachtete Ereignisse, Vorkommnisse und/oder Interaktionen. 26
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
•
lernen
•
grillieren
Wir orientierten uns dabei an den von Strauss et al. vorgeschlagenen Fragen9, wobei wir diese ergänzten und konkretisierten: Was passierte im von uns beobachteten öffentlichen Raum? Was für Interaktionen und Handlungen waren beobachtbar? Was könnte mit Aneignung in Zusammenhang stehen? Dieser Vorgang geschah in einem offenen Setting, jedoch nicht willkürlich, sondern im Kontext des längeren Beobachtungszeitraums, beim umfangreichen Erfassen der Protokolle (was einer Zweitlese der Beobachtungen gleichkam) sowie in den intensiven, im Dialog erarbeiteten Interpretationsphasen. Die Fülle an Konzepten wurde in einem weiteren Arbeitsschritt nochmals abstrahiert. Diejenigen Konzepte, die sich auf dasselbe Phänomen zu beziehen schienen, haben wir zu Kategorien zusammengefasst. Die folgenden Beispiele von Kategorien beziehen sich auf die oben exemplarisch aufgeführten Konzepte: •
Kategorie Begegnung mit Bekannten/m (sich in Gruppen aufhalten)
•
Kategorie Ausruhen (Mittagspause machen, auf Wiese liegen)
•
Kategorie Spielen (im Bach spielen, Kindervelo fahren)
•
Kategorie Arbeiten (lernen)
•
Kategorie Konsumation/Verpflegung (Picknick, grillieren)
Die zahlreichen Konzepte wurden zu insgesamt 15 Kategorien verdichtet. Der Akt des Verdichtens ermöglichte eine Reflexion und Prüfung der Konzepte, indem wir uns gegenseitig kommentierten, was wir unter den einzelnen Konzeptbegriffen verstanden. In den digital verarbeiteten Beobachtungsprotokollen10 hielten wir jede Beobachtungssequenz in einer eigenen Zeile fest. Die einzelnen Beobachtungen codierten wir nun anhand der Kategorien. Einzelne Beobachtungen konnten auch mehreren Kategorien zugeordnet werden. Wenn sich Beobachtungen nicht bereits definierten Kategorien hätten zuordnen lassen, wären neue Kategorien gebildet worden. Wir betrachteten die Kategorienbildung nicht als absolut und in sich abgeschlossen, sondern als Arbeitsinstrument und als Versuch, die Komplexität, bedingt durch die grosse Menge an Beobachtungen, zu reduzieren. Bereits während des Verdichtens der Konzepte zu Kategorien stellten wir
9
Siehe dazu Kapitel 4.2.2.2 Die Beobachtungsprotokolle sind als Excelfile erstellt.
10
27
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Bezüge unter den einzelnen Kategorien her, standen diese doch meist nicht isoliert da, sondern bedingten und beeinflussten einander gegenseitig. Die Bezeichnung der einzelnen Beobachtungen mittels Kategorien machte es uns möglich, die Beobachtungen nach Merkmalen und nach Räumen zu sortieren. Wir erhielten somit eine geeignete Gesamtübersicht über die sechs beobachteten öffentlichen Räume sowie die Besonderheiten der einzelnen Räume.
4.2.3
Dokumentation der Raumanalyse
Während unserer ganzen Schaffensphase legten wir Wert darauf, viel vor Ort zu sein. Wir suchten die Räume auch ausserhalb der definierten Beobachtungszeiten auf - im Sinne eines Augenscheins. Neben den Beobachtungen hielten wir in den von uns untersuchten öffentlichen Räumen auch die Raumporträts direkt fest. Dies geschah teils schriftlich, teils mit Hilfe eines Dictaphones. Die auf diese Weise gewonnenen Porträts erlaubten eine zusätzliche und andere Optik auf den Raum: Das eigene Erleben fliesst mit ein und so werden Umweltfaktoren überhaupt erst wahrnehmbar. Die Nutzung wird eins zu eins erlebbar und kann gleich persönlich ausprobiert werden (z.B. ein "Testsitzen" auf Bänken). Ebenfalls hielten wir die Räume und das Geschehen in den Räumen fotografisch fest. Das Fotomaterial diente neben den schriftlich festgehaltenen und auf Tonband gesprochenen Eindrücken und Wahrnehmungen einer vertieften Analyse der Räume. Zusätzliche studierten wir vorhandenes Datenmaterial und Pläne, erstellten Skizzen und machen Fotos, um die Masterarbeit illustrativ und visuell zu ergänzen.
4.2.4
Prozesstagebuch
Von Beginn weg führten wir eine Art "Forschungstagebuch" (Breuer, 1996, S. 119). Unter einem Forschungstagebuch versteht Breuer das tägliche Festhalten von Problemen, Ideen, Einfällen, Überraschungen, Ärgernissen etc., im weitesten Sinne also von allem Themenbezüglichen, mit dem man im Kontext einer Forschung, konfrontiert wird. Zweck dieses Tagebuches ist "ein entlastendes Loswerden und Distanznehmen von Affekten und Emotionen, es fördert das Ernst - und Wichtignehmen der eigenen Einfälle, hilft bei der Sortierung der Ideen-Unordnung im Kopf, bei der Gewährleistung eines kontinuierlichen Am-Ball-Bleibens in der Themenverfolgung" (S. 119). So unterstützt das Forschungstagebuch auch die Reflexion des eigenen Tuns, erlaubt einem, mit schriftlichen Darstellungsformen zu experimentieren, und kann durch den Wegfall bestimmter Gestaltungszwänge helfen, Schreibhemmungen zu überwinden.
28
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Ähnlich wie oben beschrieben hielten wir unsere Gedanken resp. v.a. unseren gemeinsam geführten Gedankenaustausch schriftlich fest. Dies taten wir nicht täglich, aber in regelmässigen und verhältnismässig kurzen Zeitabständen. Wert legten wir insbesondere auf das Festhalten des Forschungs- oder Arbeitsprozesses. Aus diesen Gründen, und weil die von uns gewählte Dokumentationsform nicht je einzel geschrieben, sondern alternierend protokollarisch festgehalten und umgehend dem andern zugehalten wurde, sprechen wir von einem Prozesstagebuch. Was Nutzen und Verwendbarkeit betrifft, können wir Breuer voll und ganz zustimmen.
4.2.5
Experteninterviews
Im Sinne einer erweiterten Fachliteratur führten wir mit drei ausgewiesenen Experten je ein Interview. Bei der Auswahl der Fachleute legten wir Wert darauf, dass sie sich alle intensiv mit der Gestaltung und Planung von (öffentlichen) Räumen beschäftigen, doch je aus unterschiedlichen Blickwinkeln (Soziale Arbeit/Soziologie, Planung/Verwaltung, Kultur/Planung im selbstständigen Auftragsverhältnis). Die Gespräche wurden anhand eines von uns erarbeiteten Leitfadens11 strukturiert, wobei die Fragestellungen verhältnismässig offen formuliert waren. Der Fragekatalog haben wir in einem Interview leicht spezifiziert und ergänzt, da ein Interviewpartner konkret mit zwei der von uns untersuchten öffentlichen Räume beruflich konfrontiert war. Die jeweils rund 1 – 1.5stündigen Interviews wurden auf einem Dictaphone aufgenommen. Im Nachhinein wurde die Fülle an Informationen schriftlich festgehalten - in Anlehnung an Meuser und Nagel (1991, S. 457) teilweise transkribiert, meistens paraphrasiert. Die Aussagen der drei Experten dienten einer zusätzlichen Verifizierung unserer Annahmen und haben uns wichtige Impulse für die Schlussfolgerungen gegeben.
11
Vgl. Anhang 29
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
5
Untersuchungsräume
Im folgenden Kapitel porträtieren wir die Untersuchungsräume. Bei unseren Begehungen und während den Beobachtungsphasen haben wir uns eingehend mit der Gestaltung, der Ausstattung und der Atmosphäre der Untersuchungsräume auseinandergesetzt. Aus diesen Erkenntnissen, den Fotos, dem Studium von Plänen und weiteren Materialen haben wir für jeden Raum eine detaillierte Beschreibung mit folgendem Inhalt entwickelt: •
Lage innerhalb Stadt und des Quartiers
•
Milieu
•
Nutzungen im Umfeld und direkt angrenzend
•
Funktion des öffentlichen Raums
•
Gestaltung und Ausstattung (Möblierung, Grün, Bodenbeschaffenheit, Topografie etc.)
•
Begrenzungen, Zugänge und Wege
•
Verkehr
•
Besonderheiten
Zu dieser Beschreibung kommen illustrierende Skizzen und Fotos, sowie eine Beurteilung der Anlage aus unserer Sicht und unsere persönlichen Eindrücke hinzu. Hierbei haben wir ein besonderes Augenmerk auf allenfalls belastende Einflüsse wie z.B. Lärm, Graffitis gelegt.
5.1
Bachmätteli
Das Bachmätteli liegt im Stadtteil Bümpliz–Bethlehem, im Westen der Stadt Bern, ca. 4 km12 vom Zentrum entfernt. Innerhalb des Stadtteils befindet sich das Bachmätteli direkt angrenzend an das eigentliche Zentrum Bümpliz, das dem Quartier viele Infrastrukturen bietet (Läden, Dienstleistungen, Restaurants). Neben den Laden- und Dienstleitungsnutzungen dominiert allerdings Wohnnutzung. Im Stadtteil 6 leben knapp 31'400 Einwohner/innen. Das entspricht einem Viertel der Stadtberner Bevölkerung. Im Vergleich zu den übrigen bernischen Stadteilen ist Bümpliz-Bethlehem der statusniedrigste13 Stadtteil mit einem wenig individualisierten Lebensstil (Stadt Bern, Verein Region
12
Luftlinie In der Sozialraumanalyse 1990/2000 werden mittels der Kombination verschiedener Volkszählungsvariabeln Aussagen zu den Themen sozialer Status und Lebensstil gemacht. Der soziale Status wird durch die Indikatoren Bildungsniveau und beruflicher Status quantifizierbar. Das Thema Lebensstil und Einstellung wird aus den Indikatoren Haushalstypen, Erwerbstätigkeit, Familienstatus u.a. operationalisiert (Stadt Bern / Verein Region Bern, 2005, S. 42) 13
30
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Bern, 2005, S. 42). Das Teilquartier Bümpliz liegt mit einem Ausländeranteil von 28.5% deutlich über dem gesamtstädtischen Mittel von 21.4%. Die Arbeitslosenquote liegt bei 6.7% (Stadt Bern 4.4%), die Sozialhilfequote bei 7% (Stadt Bern 4.3%). (Stadt Bern, 2006, S. 30, 31, 73, 183) Der westseitige Abschluss des Bachmätteli bildet die stark versprayte Busshaltestelle der Linie 13 Bern-Bümpliz inkl. Haltestellengebäude, öffentlicher WC-Anlage und Schuhmacher-Laden. Im Übrigen ist die öffentliche Grünanlage durch die umliegende Glockenstrassen sowie Zäune und Baumpflanzungen begrenzt. Im direkten Umfeld zum Bachmätteli befinden sich vor allem Wohngebäude, teilweise mit Kleingewerbe und Verkaufsnutzung im Erdgeschoss, sowie ein Schulhaus, ein Restaurant und ein altes Löschmagazin, das heute der Stadtgärtnerei als Depot dient. Das Bachmätteli hat den Charakter eines kleinen, zentralen Parks mitten im Quartier mit diversen Spielmöglichkeiten. Mitten durch die Anlage fliesst der offen geführte Stadtbach. So erklärt sich auch der Name das "Mätteli" am Bach. Von Ost nach West führt ein gradlinig geführter, nachts beleuchteter Fussweg mitten durch die Anlage. Bei der Bushaltestelle weitet sich der Weg in einen kleinen, mit Zementplatten ausgelegten Platz aus. Prägend für das Bachmätteli ist die im Verhältnis zur Ausdehnung der Anlage grosse Anzahl an Bäumen (ca. 45 Stück). Das Bachmätteli wirkt dadurch ausserordentlich grün, teilweise leicht waldartig und bei voller Belaubung auch teilweise sehr schattig. Neben den abgrenzenden Baumreihen an der West-, der Süd- und der Nordseite (bildet Sichtschutz gegenüber dahinterliegendem Wohnhaus), gibt es eine Baumreihe entlang des Bachs und weitere Einzelbäume. Dazwischen befinden sich Rasenflächen und mehrere Spielbereiche mit Klettergerüsten, Rutschbahn, Schaukeln und einem Sandkasten. Der Bach, der mitten durch die Anlage fliesst, ist mit einem Zaun abgesichert, doch gibt es eine zugängliche Stelle, wo das Ufer abgeflacht ist. Neben dem Weg mit der Brücke kann man auch hier den Bach mittels Steinen im Wasser überqueren. In der ganzen Anlage gibt es zehn Bänke, entlang dem Bach und bei den Spielbereichen. Persönlicher Eindruck / Beurteilung Der Bach und die Bäume machen diese Anlage sehr attraktiv, wenn auch teilweise sehr schattig. Die Anlage machte bei unseren Besuchen jeweils einen gepflegten und sauberen Eindruck, sehr im Kontrast zum versprayten Haltstellengebäude14. Hier orten wir eine gewisse Belastung des Ortes, bedingt durch die Ausstrahlung der ungepflegten Fassade und den damit verbundenen Fantasien, was sich dort wohl sonst noch alles abspielt, wenn das Bachmätteli z.B. nachts nicht mehr von verschiedenen Nutzergruppen belebt wird. Mit Ausnahme des Bereichs zwischen Haltstellen-
14
Im Rahmen des Projekts Tram Bern West ist eine neue Haltstellengestaltung vorgesehen. 31
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
gebäude und Löschmagazin ist die Anlage übersichtlich. Belastung durch Lärm oder Fahrzeuge gibt es praktisch nicht. Situation Bachmätteli
32
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Westseitige Wiese
Ost – West Wegverbindung
Uferbereich, Haltestellegebäude 33
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5.2
Bahnhofplatz Bümpliz Süd
Der Bahnhofplatz Bümpliz Süd liegt wie das Bachmätteli im Stadtteil 6, Bümpliz-Bethlehem. Innerhalb des Stadtteils liegt der Bahnhofplatz Bümpliz Süd, wie es der Name schon sagt, am südlichen Rand, an der Schnittstelle zweier Quartierteile: Nördlich des Bahnhof befindet sich das Wohnquartier rund um das eigentliche Zentrum von Bümpliz, südlich des Bahnhofs liegt ein Industriegebiet, dahinter die Autobahn Richtung Freiburg sowie der Könizbergwald. Der Bahnhof Bümpliz Süd liegt an der S-Bahnlinie Nr. 1 Thun – Fribourg/Laupen. Direkt vor dem Bahnhof hält zudem die Buslinie 27 Weyermannshaus – Niederwangen. Somit ergibt sich die Funktion dieses öffentlichen Raums vorwiegend aus der Umsteigefunktion auf den öffentlichen Verkehr. Dieser primären Funktion trägt auch das Verkehrsregime auf dem Platz Rechnung: Der Platz selbst ist eine Begegnungszone nach Art. 22b der eidgenössischen Signalisationsverordnung SSV, d.h. es gilt Tempo 20 und Fussgängervortritt. Der Platz ist kaum mit Durchgangsverkehr belastet. Hingegen erzeugt der Avec-Laden (siehe unten) einen gewissen Kundenverkehr. Direkt angrenzend an den Bahnhofplatz gibt es Wohngebäude mit Garten oder Kleingewerbenutzung im Erdgeschoss, ein Restaurant sowie das Bahnhofgebäude selbst mit einem Avec-Laden. Der Avec-Laden verkauft Grundnahrungsmittel, Kiosk- und Geschenkartikel sowie Alkohol. Zudem kann man dort an einer kleinen Bar und ein paar Tischchen drinnen und draussen Kaffee oder sonstige Getränke konsumieren. Durch das Zusammentreffen von Strassen und der Bahnlinie ergibt sich eine dreieckige Platzform, die gegenüber dem Strassenbereich leicht erhöht ist und sich mit einem hellgrauen Betonbelag auch farblich gegenüber der Strasse abhebt. Die Möblierung (drei Bänke, Lampen, Abfalleimer) konzentriert sich hauptsächlich auf die nördliche Seite, wo eine Baumreihe mit jungen Bäumen in einem Grünstreifen den Abschluss bildet. Die Bänke wie auch die Lampen entsprechen nicht dem üblicherweise verwendeten städtischen Standardmobiliar. Weitere Grünelemente sind eine grosse Linde und eine Baumreihe entlang dem Lagerhausweg. Im näheren Umfeld bei der Busstation sind überdeckte Veloabstellplätze vorhanden. Hier steht auch der alte Brunnen, der früher mitten auf dem Platz war. Eine Tafel der SBB und der Stadt Bern, gleich neben dem Brunnen, informiert über die neue Gesamtgestaltung der Bahnhofs und des Platzes im Jahre 2004, die als Private Public Partnership realisiert wurde. Persönlicher Eindruck / Beurteilung Der Platz wirkt zusammen mit dem Bahnhofsgebäude und den weiteren Elementen "gestylt". Die besonderen Bänke und Lampen betonen diesen Eindruck. Der Platz ist übersichtlich und klar organisiert, wirkt aufgeräumt und ordentlich. Einzig die Stele mitten auf dem Platz, welche die Bus34
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
station Richtung Zentrum Bümpliz markiert, wirkt störend. Belastungen orten wir beim Lärm, verursacht durch die Eisenbahn (Güter- und Schnellzüge) und die wild parkierten Autos. Suboptimal ist zudem, dass die Bänke auf dem Platz von den noch kleinen Bäumen wenig Schatten bekommen. Übermässiges Littering und Vandalismus sind uns nicht aufgefallen. Teilweisse hatte es etwas Abfall oder einzelne Tags bei der Busstation. Situation Bahnhofplatz Bümpliz Süd
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Platzbereich mit Avec-Laden im Hintergrund
Besonderes Mobiliar
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5.3
Cäcilienplatz
Der Cäcilienplatz liegt etwa mittig im südwestlich gelegenen Stadtteil 3 Mattenhof-Weissenbühl der Stadt Bern. Die Distanz zum Zentrum der Stadt beträgt ca. 1,5 km15. Innerhalb dieses Stadtteils liegt der Cäcilienplatz im Zentrum des Teilquartiers Mattenhof, das im südlichen Teil, wo der Cäcilienplatz liegt, vor allem ein Wohnquartier ist. Der Stadtteil 3 zählt knapp 27'000 Einwohner/innen. Das entspricht einem guten Fünftel der Stadtberner Bevölkerung. Der Stadtteil 3 ist sowohl von seiner Quartierstruktur wie auch von seiner Bewohnerschaft her sehr heterogen. Das Teilquartier Mattenhof hat einen individualisierten Lebensstil und einen durchschnittlichen Status (Stadt Bern, Verein Region Bern, 2005, S. 42). Der Mattenhof liegt mit einem Ausländeranteil von 24.2% etwas über dem gesamtstädtischen Mittel von 21.4%. Die Arbeitslosenquote liegt bei 3.8% (Stadt Bern 4.4%), die Sozialhilfequote bei 4.3% (Stadt Bern 4.3%). (Stadt Bern, 2006, S. 31, 73, 183) Rund um den Cäcilienplatz herrscht Wohnnutzung vor. Gleich angrenzend an den Platz gibt es einen kleinen Laden und auf der gegenüberliegende Strassenseite eine Bäckerei. Der Cäcilienplatz ist ein kleiner Quartierplatz, ein Treffpunkt für die Quartierbewohner/innen. Diese Funktion wird durch den direkt angrenzenden, aber räumlich abgetrennten und etwas höher gelegenen Spielplatz mit dem "Träffpunkt Cäcilia" unterstützt. Unserer Meinung nach greift die Bezeichnung Cäcilienplatz zu kurz, handelt es sich doch eigentlich um zwei völlig unterschiedliche Räume. In unsere Beobachtungen haben wir beide Räume einbezogen. Der Einfachheit halber bleiben wir bei der Bezeichnung Cäcilienplatz und schliessen den angrenzen Spielplatz in diese Bezeichnung ein. Der Platz selbst liegt auf dem Niveau der umliegenden Strassen, in deren Kreuzungsbereich. Es macht den Anschein, als ob es sich hierbei um eine Restfläche der Strassenführung handelt, die später als kleiner Platz gestaltet wurde. Gegenüber der Quartierstrasse (Tempo 30-Zone) ist die Platzkante mit Absperrpfosten gesichert. Auf den Quartierstrassen hat es wenig Verkehr, hingegen führt die Brunnmattstrasse/Pestalozzistrasse mit der Tramlinie Nr. 5 Richtung Fischermätteli einiges mehr an Verkehr. Auf dem Platz stehen fünf Bäume, mehrere Bänke und Abfalleimer, dazwischen liegt eine mit Kies bedeckte Fläche, die teilweise mit Gras bewachsen ist. An einer Stützmauer gegenüber dem Platz gibt es mehrere grosse Graffitis. Der Spielplatz ist vom Platz her über eine Treppe erreichbar. Er ist etwas höher gelegen und gegen den Platz mit einem Holzzaun abgetrennt. Links neben der Treppe befinden sich der aussen versprayte "Träffpunkt Cäcilia" (Öffnungszeiten: Do, 15.00-17.00; Fr, 19.00-22.00) und eine neu
15
Luftlinie 37
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
errichtete WC-Anlage; auf der anderen Seite steht ein Steintisch mit Bänken. In diesem Teil der Anlage stehen zahlreiche Bäume (ca.15), dazwischen unterschiedlich dichtes Buschwerk mit Trampelpfaden. Der Boden ist in diesem Bereich waldartig, teilweise bekiest. Es gibt verschieden Spielgeräte: ein Holzhaus (Kritzeleien und Tags im Innern), Schaukeln, eine Wippe, zwei Rutschbahnen, ein Kletterkarussell, zwei Schaukelpferde und einen Sandkasten. Der westliche Teil - dort befindet sich auch ein Zugang - ist geprägt von einer Wiese mit drei jungen Bäumen, Bänken und dem Weg, der mitten durch die Wiese läuft. Nördlich des Spielplatzes begrenzen Wohnhäuser mit grossen Gärten den Spielplatz. Von diesen Parzellen ist der Spielplatz mit Bäumen, Büschen und einem Zaun abgetrennt. Persönlicher Eindruck / Beurteilung Durch das Zusammenlaufen von verschiedenen Quartierstrassen, den angrenzenden Ladengeschäften, weiteren Elementen wie Briefkasten, Kultursäule, Anschlagbretter und der Gestaltung erhält der Platz durchaus den Charakter eines kleinen Dorfplatzes. Auch die Umgebung wirkt ruhig, fast schon dörflich. Die Gestaltung des Platzes wirkt etwas karg. Die Begrenzung der Fläche ist durch die Strassen vorgegeben, was den Eindruck verstärkt, es handle sich hier um eine dem Verkehr abgerungene "Restfläche". Der Spielplatz ist wegen seiner leicht erhöhten Lage und der Bäume vom Lärm geschützt. Dass es dort einen "Träff" mit regelmässigen Angeboten gibt, deutet auf eine hohe Wichtigkeit dieses Ortes fürs Quartier hin. Der Spielplatz ist mit seinen zwei unterschiedlichen Bereichen (Wiese im Westen, eher waldartig im Osten) klein, aber fein. Herumtollen oder Fussball spielen kann man wegen der bescheidenen Grösse nur bedingt. Als Kleinkinderspielplatz ist er aufgrund der unterschiedlichen Raum- und Naturerlebnisse, der Übersichtlichkeit und der Abgrenzung, die Schutz gegenüber den Strassen bietet, ideal. Im Kontrast zur sonst gepflegten Anlage stehen die verschiedenen Graffitis, Tags, Kritzeleien und Kleber an Mauern, Bänken, dem "Träff", dem WC und dem Holzhaus. Diese "Zeichen" von vermutlich nächtlichen Aktivitäten beeinflussen und belasten diesen Ort. Uns ist bekannt, dass es in vergangener Zeit verschiedentlich zu Nachtruhestörungen und Nutzungskonflikten zwischen Anwohner/innen und Jugendlichen gekommen ist.
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Situation Cäcilienplatz
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Platzbereich
Spielplatz
Zugang zum Spielplatz, "Träff" 40
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
5.4
Monbijoupark
Der Monbijoupark befindet sich wie der Cäcilienplatz im Stadtteil 3 Mattenhof-Weissenbühl. Innerhalb des Stadtteils liegt der Monbijoupark in der südöstlichen Ecke des Teilquartiers Monbijou. Das Teilquartier Monbijou hat gegenüber den übrigen Teilquartieren dieses Stadtteils den individualisiertesten Lebensstil und auch den höchsten Status (Stadt Bern, Verein Region Bern, 2005, S. 42). Das Monbijou liegt mit einem Ausländeranteil von 21.3% im Durchschnitt der Stadt Bern (21.4%). Die Arbeitslosenquote liegt bei 4.1% (Stadt Bern 4.4%), die Sozialhilfequote bei 1.8% (Stadt Bern 4.3%). (Stadt Bern, 2006, S. 31, 73, 183) Das Teilquartier Monbijou grenzt an die Innenstadt. Entsprechend ist das Quartier von der Nutzung her stark durchmischt. Rund um den Monbijoupark (Distanz zum Stadtzentrum: ca. 1 km16) befinden sich diverse Arbeitsnutzungen (Bundes- und Stadtverwaltung, Büros, Dienstleistungsbetriebe, Läden und Restaurants), aber auch Wohngebäude und ein Altersheim. Nicht direkt angrenzend, aber in der Nähe befindet sich eine Drogenabgabestelle. Speziell an der Lage des Monbijouparks ist, dass er nord- und ostseitig unmittelbar an das Bürogebäude der Oberzolldirektion (Bundesverwaltung) grenzt. Der südliche Teil des Parks ist teilweise mit einem Zaun von Wohngebäuden und vom Stützpunkt der Stadtgärtnerei abgetrennt. Der Monbijoupark ist der grösste von uns beobachtete Raum und auch einer der grössten, nicht zweckbestimmten, siedlungsinternen öffentlichen Grünanlagen der Stadt Bern überhaupt. Der Monbijoupark hat die Funktion eines Quartierparks, Erholungsorts und Spielplatzes für einen grösseren Perimeter der Umgebung. Eine grosse Wiese ist das zentrale Element des Monbijouparks. Rund um diese Wiese gruppieren sich weitere Bereiche. Nördlich der Wiese befindet sich der sogenannte Sinnesgarten17, eine leicht erhöhte, befestige Fläche, die mit einer Mauer umrandet und mit Bänken, einem Mühlespiel, einer Grillstelle und diversen "Sinnes-Elementen" ausgestattet ist. Unmittelbar hinter dem Sinnesgarten gibt es einen Bereich mit vielen Bäumen, Büschen und darin verlaufenden Trampelpfaden (inoffizieller Zugang von Norden her). Südlich des Sinnesgartens befinden sich eine weitere befestigte Fläche (Zementplatten), der Grillplatz mit einem Brunnen, zwei Grillstellen, eine Spielkiste und mobilen Tische. Vor diesem Platz aus hat man eine gute Sicht auf nahezu den ganzen Park. Westlich des Weges, der quer durch den Park läuft und nachts beleuchtet ist, liegt der eigentliche Spielplatz mit Balancierscheibe, Schaukeln, Kletterkarussell, Schaukelpferden, Kletterhaus, Weidenhaus, Sandkasten, Rutschbahn und Turnstangen. Eine Mauer grenzt diesen Bereich zur Müh-
16
Luftlinie Der Sinnesgarten enthält verschiedene sinnlich anregende Elemente wie Blumenbeete, klingende Windspiele in den Bäume und diverse betastbare Oberflächen.
17
41
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
lemattstrasse ab. Eine WC-Anlage befindet sich ebenfalls in diesem Bereich. Südlich des Weges steigt das Terrain zu einem Hang an, der teilweise mit Sandsteinquadern abgetreppt ist. Ein Tischtennistisch, umgeben von ein paar Bäumen und abseits der übrigen Spielgeräte, befindet sich südlich der grossen Wiese. Die südöstliche Ecke des Parks bildet einen etwas anders gestalteten Bereich: Zahlreiche Bäume, schmale, mäandrierende Wege und ungemähtes Gras lassen diesen Teil des Parks naturnaher und etwas verwunschen erscheinen. Auch hier gibt es diverse Sitzbänke. Ein Zaun grenzt gegenüber den Strassen ab. Hingegen fehlt eine physische Abgrenzung gegenüber dem Wohnhaus. Erst die andere Gestaltung und das Vorhandensein von Gartenmöbeln zeigen, dass man sich plötzlich in einem privaten Garten befindet. Im Park gibt es ferner zahlreiche Bäume unterschiedlicher Grösse und Art. Zwei besonders mächtige Bäume fallen beim Spielplatz und beim Grillplatz auf. Schliesslich gibt es Pflanzbereiche mit Büschen oder Blumen. Persönlicher Eindruck / Beurteilung Die unterschiedliche Raumgestaltung (grosse Wiese, Spielgeräte, Hang, offene und eher intimere Ecken) machen diesen Park sehr erlebnisreich und (spiel)anregend. Die Grösse, Gestaltung und die Topografie lassen es problemlos zu, dass zahlreiche Gruppen gleichzeitig verschiedenartig spielen können und dass Ruhesuchende sich trotzdem nicht gestört fühlen. Der Park wirkt angenehm gepflegt und ordentlich. Belastungen orten wir in Form von Strassenlärm. Die Mühlemattstrasse ist eine nicht sehr rege befahrene Quartierstrasse, doch verursachen die verkehrenden Busse verhältnismässig viel Lärm. Gegenüber der eher stark befahrenen Monbijoustrasse ist der Park zu einem grossen Teil durch das Gebäude der Oberzolldirektion geschützt. Die südöstliche Ecke hingegen ist stark lärmbetroffen.
Blick vom Nachbarhaus auf dem Park
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Situation Monbijoupark
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
5.5
Bahnhofplatz Boll-Utzigen
Der Bahnhofplatz Boll-Utzigen liegt in der bernischen Agglomerationsgemeinde Vechigen an der Vorortsbahnlinie Bern-Worb. Vechigen liegt 8 km18 östlich von Bern, am Rand des Emmentals und ist ländlich geprägt. In der Gemeinde leben 4654 Einwohner/innen. Im Vergleich zu den übrigen Gemeinden der Region Bern hat Vechigen einen durchschnittlichen Status und einen traditionellbürgerlichen Lebensstil. (Stadt Bern, Verein Region Bern, 2005, S. 42). Vechigen liegt mit einem Ausländeranteil von 6.5% deutlich unter dem Durchschnitt des Kantons Bern (12%). Die Arbeitslosenquote liegt bei 0.8% (Kt. Bern 1.8%), die Sozialhilfequote bei 1.7% (Kt. Bern 4.2%). (Vechigen 2007; beco 2007; Bundesamt für Migration 2007; Bundesamt für Statistik 2005) Innerhalb des im Vergleich zur Einwohnerzahl verhältnismässig grossen Gemeindegebiets liegt der Bahnhof Boll-Utzigen eher am südlichen Rand und wird direkt durch die Hauptstrasse nach Worb (Bernstrasse) erschlossen. Im direkten Umfeld zum Bahnhofplatz befinden sich Wohnhäuser (teilweise Bauernhäuser), die Landi, eine öffentliche WC-Anlage, Veloabstellplätze und ein Kiosk. Der Bahnhofplatz ist in erster Linie ein Erschliessungsraum (die Vorortbahn nach Worb und das Postauto nach Utzigen halten hier in kurzer Distanz zueinander) mit gewissen Versorgungsdienstleistungen (Kiosk, Telefonkabine, Postomat, Briefkasten, WC). Der Platz ist über die ganze Fläche asphaltiert. Nördlich wir die langgezogene Fläche durch die gedeckten Veloabstellplätze, das WC (Schlüssel bekommt man bei der Kioskfrau) und durch zwei Bäume abgegrenzt, südlich bilden die Bahnlinie und das Bahnhofsgebäude mit Kiosk den Abschluss. Einziges Möblierungselement ist eine Bank aus Beton ohne Rückenlehne direkt vor dem Kiosk. Am westlichen Ende befinden sich bewirtschaftete Parkplätze (inkl. Mobility-Parkplatz). Die ganze Fläche ist gegenüber dem Strassenniveau nicht abgesetzt und ist für Autos frei befahrbar. Persönlicher Eindruck / Beurteilung Der Bahnhofplatz ist vor allem ein Durchfahrts- und Durchgangsbereich und in diesem Sinne eine rein funktionale Anlage ohne besondere Aufenthaltsqualität. Alles was es zum Umsteigen braucht, ist vorhanden, es fehlen jedoch Elemente, die Aufenthaltsqualität schaffen würden, fast gänzlich (z.B. Bänke, Bäume, ein angenehm gestalteter Bereich wie z.B. beim Bahnhofplatz Bümpliz Süd). Der Platz selbst sowie der Kiosk und das Bahnhofgebäude wirken etwas in die Jahre gekommen und nicht bewusst gestaltet. Hier vergibt die Gemeinde einiges an Potenzial. Belastungen sehen wir vor allem im Verkehr und dem wilden Parkieren auf dem Platz (Behinderung der Fussgänger/innen und Velofahrer/innen). Eher gering erscheint uns die Belastung durch den Bahnlärm. Die zusammengewürfelten baulichen Elemente geben dem Ort etwas Unordentliches, auch wenn de
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Luftlinie 44
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
facto vorwiegend Sauberkeit und Ordnung herrschen. Die einzige "Unordnung" waren bei unseren Besuchen Kritzeleien und wild geklebte Plakate am Kiosk sowie herumliegender Abfall unten an einem Kellertreppenabgang. Situation Bahnhofplatz Boll-Utzigen
Blick von Westen her 45
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
5.6
Dorfplatz Boll
Der Dorfplatz Boll liegt nur wenige Minuten zu Fuss vom Bahnhof Boll-Utzigen entfernt. Nördlich wird der Dorfplatz von bogenförmig angeordneten Bauten umschlossen, südlich grenzt das Gebäude der Gemeindeverwaltung den Platz ab. Rund um den Dorfplatz befinden sich die Post, die Migros, ein Café, eine Drogerie sowie weitere Kleingewerbe und Dienstleitungen. Diese publikumsbezogenen Nutzungen befinden sich vor allem im Erdgeschoss. Die darüberliegenden Geschosse dienen dem Wohnen. Die Wohnungen sind teilweise auf den Dorfplatz hin orientiert und verfügen über Balkone, die in den öffentlichen Raum hineinragen. Der Dorfplatz ist der zentrale Ort des Anfang der Neunziger-Jahre erstellten Dorf- und Ladenzentrums Boll. Ziel war es, an zentraler und gut erschlossener Lage ein der Entwicklung der Gemeinde entsprechendes Geschäfts-, Dienstleitungs- und Begegnungszentrum zu erstellen (Vechigen, 1990, S. 1). Der Dorfplatz umfasst die zentrale, verkehrfreie Erschliessungsfläche, die alle Nutzungen vor Ort miteinander verbindet. Der Dorfplatz ist gänzlich mit Betonpflästerung ausgelegt. Auf dem Platz gibt es vier kleine Bäume, die wegen der darunter liegenden Einstellhalle in erhöhten Pflanzbereichen stehen. Rund um die Pflanzbereiche sind je fünf Sitze angeordnet. Als weitere Grünelemente gibt es diverse Rankpflanzen, die den Balkonstützen entlang hoch wachsen. Mitten auf dem Platz steht ein Brunnen. Speziell ist die Zugangssituation zum Dorfplatz: Der Dorfplatz ist über sieben verschiedene Zugänge erreichbar. Diese Zugänge sind teilweise sehr schmal und verlaufen mehrheitlich als "Durchstiche" durch die Gebäude. Der Platz ist verkehrsfrei. Ein grosser Parkplatz befindet sich unmittelbar hinter der Migros. Persönlicher Eindruck / Beurteilung Eine Besonderheit dieses öffentlichen Raums liegt in der dichten Nutzungsmischung von Wohnen und Dienstleistung. Man wohnt hier quasi auf den Dorfplatz hinaus. Dieses dichte Nebeneinander hat zweifelsfrei gewisse Vorteile: Eine gewisse soziale Kontrolle ist durch die anliegenden Wohnungen gewährleistet. Andererseits macht diese Nähe den Raum unter Umständen auch unbenutzbar: Wer sich auf dem Dorfplatz befindet, ist zu einem hohen Masse "ausgestellt", fühlt sich unter Umständen beobachtet oder stört die Ruhe der Anwohner/innen. Eine weitere Besonderheit sind die abgeschottete Lage des Dorfplatzes und die Gestaltung der Zugänge. Es ist praktisch unmöglich vom Dorfplatz nach draussen zu sehen und umgekehrt. Diese Besonderheit lässt diesen Ort trotz seiner Funktion eher privat und introvertiert erscheinen, so als hätte er mit dem Rest des Dorfes nichts zu tun. Ein Vorteil dieser Anordnung der Gebäude liegt allerdings darin, dass der Strassenlärm der direkt anliegenden Hauptstrasse auf dem Platz praktisch nicht zu hören ist. Bei unseren Besuchen haben wir keine besonderen Belastungen festgestellt. Die abgestellten Fahr46
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zeuge (v.a. Velos, zweimal wurde der Platz mit dem Auto befahren) können jedoch aufgrund der engen Platzverhältnisse rasch zu Hindernissen werden. Eine "Belastung" bzw. einen Mangel sehen wir aber klar in der ausgrenzenden Architektur, den fehlenden Sichtbezügen, den schmalen Zugängen und dem für einen Dorfplatz zu privaten Charakter. Situation Dorfplatz Boll
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Brunnen, Balkone auf den Dorfplatz hinaus
Zugang von Süden her
Durchstich durchs Gebäude als Zugang 48
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6 6.1
Resultate der Untersuchungen Auswertung der Kategorien
Wie im Kapitel 4.2.2.3 beschrieben, haben wir ein Set an Kategorien entwickelt. Diese Kategorien dienen als Struktur, um die einzelnen Beobachtungssequenzen zu ordnen und untereinander zu vergleichen. Die einzelnen Kategorien sind nicht scharf voneinander trennbar. Bspw. gibt es fliessende Übergänge zwischen den Kategorien "Warten" und "Flanieren" oder den Kategorien "Draussen sein" und "Beobachten". In solchen Fällen haben wir die Beobachtungssequenzen entweder mehreren Kategorien zugeordnet oder aber eine Abwägung vorgenommen, welches Element uns stärker erschien, und dann die Beobachtung entsprechend zugeordnet. Unter den einzelnen Kapiteln wird jeweils auf die Unschärfen hingewiesen. Viele Beobachtungssequenzen sind aufgrund ihrer Dichte oder der Wirkungszusammenhänge mehreren Kategorien zuzuordnen. Dazu ein Beispiel: Mädchen, ca. 13j. schlendert über Platz, trinkt dazu einen Energy-Drink, geht zum Brunnen, hält die Unterseite ihrer Flip-Flop so in den Brunnen, dass die Sohle abgespült wird, zieht den Flip-Flop aus und hält ihren nackten Fuss ins Wasser, geht dann weiter zu Bank beim Baum nord-östlich. setzt sich hin, tippt auf dem Handy rum. Zweites Mädchen kommt dazu, setzt sich auch hin, sie reden kurz... Diese Beobachtungssequenz haben wir folgenden Kategorien zugeordnet: Konsumation (EnergyDrink), Spiel (Flip-Flop / Fuss und Wasser), Ausruhen (hinsetzen auf Bank), Begegnung mit Bekannten/m (zweites Mädchen, reden). In den nachfolgenden Kapiteln sind die jeweiligen Beobachtungssequenzen pro Kategorie zusammengefasst. Dazu wird, falls dies für das Verständnis nötig ist, eingangs erklärt, welche Art von Beobachtungen zum jeweiligen Kapitel gehören. Dort, wo wesentliche Eigenschaften oder Unterschiede (z.B. hinsichtlich des Bezugs zum Raum) zwischen den Beobachtungssequenzen eruierbar sind, werden mögliche Subkategorien bezeichnet. Die verschiedenen Eigenschaften, das Typische, aber auch das Aussergewöhnliche der einzelnen Kategorien wird beispielhaft illustriert mit verschiedenen Beobachtungssequenzen. Die Zitate aus den Beobachtungsprotokollen sind grundsätzlich wortgetreu den Beobachtungsprotokollen entnommen. Der besseren Lesbarkeit wegen wurde lediglich teilweise ein Personalpronomen (der, die, ein etc.) ergänzend aufgeführt oder ein Tippfehler korrigiert. Teilweise haben wir die Beobachtungen gekürzt, indem wir für die jeweilige Illustration nicht relevante Teile der Beschreibung weggelassen haben. Den Beispielen folgen jeweils die Analyse und die Interpretation der einzelnen Beobachtungssequenz mit Bezügen zum 49
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Raum, zu anderen Kategorien und weiteren Aspekten. Hierbei gilt es anzumerken, dass in der Analyse und der Interpretation das eigene Erleben und Wissen mit einfliesst. Durch unsere Interdisziplinarität, das Beobachten zu zweit und unser dialogisches Vorgehen bei der Auswertung versprechen wir uns jedoch eine gute Abgleichung und somit eine gewisse Absicherung in den Aussagen. Die Gültigkeit der Aussagen bezieht sich auf die jeweiligen Beobachtungssequenzen und auf die jeweils betroffenen Räume. Wenn also in den nachfolgenden Texten von öffentlichen Räumen die Rede ist, so meinen wir damit unsere Untersuchungsräume.
6.1.1
Transit
Sofern jemand einfach einen öffentlichen Raum durchquert, dies ohne innezuhalten, sich hinzusetzen und ohne ersichtliches Beobachten der Umgebung, sprechen wir von Transit. Transit bezieht sich auf ein meist relativ schnelles Über- oder Durchqueren eines öffentlichen Raums, auf Personen also, die einen Raum ausschliesslich als Verkehrsweg nutzen. Die von uns beobachteten öffentlichen Räume werden meistens zu Fuss durchquert, seltener mit dem Fahrrad. In öffentlichen Räumen wie dem Bahnhof Bümpliz Süd und Bahnhof Boll-Utzigen findet der Transit zudem oft auch mit dem Auto statt. Das Ziel der "Transiter" scheint stets klar vorgegeben zu sein: Eine Bushaltestelle wird angepeilt, der nächste Bahnanschluss muss erreicht werden, man geht in die Migros, die sich in der Nähe befindet, einkaufen. Der Raum wird durchquert mit dem Ziel, ihn gleich wieder zu verlassen. Die meisten Transiter sind eilig unterwegs und scheinen möglichst schnell von A nach B kommen zu wollen. Transit mit Anschluss, d.h. das Durchqueren eines Raums mit dem Ziel, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, ist oft mit Warten in demselben Raum verbunden.19
6.1.2
Flanieren
Den Beobachtungen der Kategorie Flanieren ist gemeinsam, dass Fortbewegungen und damit verbundene Handlungen in einem eher langsameren, gemächlichen Tempo stattfinden. Insbesondere bei den reinen Transitbewegungen, z.B. Durchqueren eines Parkes, fiel uns das unterschiedliche Tempo der Leute auf. Eilen die einen, scheinbar ohne nach links und rechts zu schauen, durch den Raum, zieht der Flaneur eine etwas langsamere Gangart vor. Dabei bleibt er ab und zu stehen, schaut sich um, lässt sich von der Umgebung anregen und beobachtet ein bisschen. All dies sind für uns Indizien, die dafür sprechen, dass es hier nicht in erster Linien um ein zielstrebi-
19
Vgl. Kapitel 6.1.3 50
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
ges Zurücklegen einer bestimmten Distanz geht, sondern dass Unterwegssein auch ein Zeitvertreib sein kann. Eine Frau bummelt rauchend durch den Park, sie bleibt - ohne ersichtlichen Grund - immer wieder stehen und geht dann wieder ein paar Schritte.20 Die Frau hat es offensichtlich nicht eilig. Sie macht eine Pause und schlendert dazu ein paar Schritte im Park. Sie entspannt sich (rauchen) und lässt sich von der Umgebung anregen (stehen bleiben, schauen, wieder weitergehen). Flanieren hat immer etwas Entspanntes, Ruhiges; man macht Pausen, vertreibt sich die Zeit, lüftet den Kopf aus und nutzt die Gelegenheit, um sich ein wenig zu bewegen. Dies war allen dieser Kategorie zugeordneten Beobachtungen gemeinsam. Die Leute scheinen ihr Verhalten nach den vorhandenen sinnlichen Anreizen auszurichten: Eine Frau ... betrachtet einige Minuten die Blumen in der Auslage vor dem Laden, kauft aber nichts, geht anschliessend zum Anschlagbrett, schaut sich die Aushänge an, verlässt dann den Platz durch den schmalen Durchgang neben der Migros.21 Die Frau nimmt sich Zeit, sich verschiedene Dinge anzusehen. Ob sie etwas Bestimmtes suchte, war für uns natürlich nicht abschliessend erkennbar. Möglich gewesen wäre auch, dass sie auf jemanden wartete und sich dabei ein bisschen die Zeit vertrödelte. Bei solchen Beobachtungen gibt es sicher eine gewisse Unschärfe zu andern Kategorien, in dem Fall zu Warten. Denn gerade wenn Leute warten, gehen sie oft auch ein bisschen umher. In Unterscheidung zum Warten enthält die Kategorie Flanieren jedoch nur Beobachtungen, bei denen ein offensichtliches Warten, z.B. der Aufenthalt bei einer Bus-Haltestelle, ausgeschlossen werden konnten. Eine weitere Form des Flanierens ist das Ausführen von Hunden: Mann mit kleinem Hund läuft Strässchen (geteert) zwischen Bahnhofsperron und Kiesplatz entlang, lässt für den kurzen Weg Hund von der Leine. Wir spielen mit dem Hund, freuen uns über ihn (ist noch ganz klein und verspielt). Es kommt zu einer kurzen Konversation mit dem Hundebesitzer.22 Hunderhalter/innen sind quasi zum Flanieren gezwungen. Der Hund muss mehrmals täglich ausgeführt werden - joggend tun dies die wenigsten. Der Leinenzwang, der vielerorts herrscht, sowie die natürliche Neugier der Hunde, überall herumzuschnüffeln, verlangsamen zusätzlich das Tempo.
20
Monbijoupark Dorfplatz Boll 22 Bahnhofplatz Bümpliz Süd 21
51
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
6.1.3
Warten
Unter diese Kategorie fallen vor allem Beobachtungen von Personen, die auf öffentliche Verkehrsmittel warten. Sicherl mitbedingt durch die Auswahl unsere Beobachtungsräume, z.B. Bahnhofplatz Bümpliz Süd und Bahnhofplatz Boll-Utzigen, hat sich eine Häufung solcher Beobachtungen ergeben. Wartende halten sich meist in unmittelbarer Nähe der (Bus-)Haltestelle oder des (Bahn-)Perrons auf. Das Warten wird dabei unterschiedlich gestaltet: Die Leute benutzen die vorhandene Infrastruktur, z.B. Sitzbänke, oder das Dienstleistungsangebot, bspw. wird beim Kiosk noch eine Zeitschrift gekauft. Ein anderer Teil der Wartenden steht einfach an Ort und Stelle, schaut vor sich hin oder allenfalls in
Warten auf Bus und Zug am Bahnhofplatz Bümpliz Süd
die Richtung, aus der das erwartete Verkehrsmittel kommen soll, oder läuft ein bisschen umher und raucht dabei allenfalls eine Zigarette. Junger Mann setzt sich auf Bank an der Sonne und raucht eine Zigarette, nach kurzer Zeit steht er auf und geht in Richtung Unterführung, lehnt sich dort kurz ans Geländer (Schatten), geht dann rüber zur Busstation, steigt in den Bus.23 Neben dem oft beobachteten Rauchen verkürzt man sich die Zeit mit dem Bearbeiten seines Mobilephones und mit Lesen. Ein Mann setzt sich auf bereits besetzte Bank, liest Gratiszeitung, geht später auf Bus.24 Warten, wobei man einfach nichts tat, konnten wir wenig beobachten, ist anscheinend eher schwer auszuhalten. Ganz praktisch ist da das allgegenwärtige Angebot der Gratiszeitungen. Eine weitere Form der Beschäftigung liegt im Erkunden der Umgebung: Eine Frau mit Koffer steht bei Busstation, wartet. Sie lässt den Koffer stehen und schlendert in Richtung Avec-Laden, schaut sich um, betrachtet die Leute auf dem Perron, betrachtet Reklameschilder, geht wieder langsam zurück, bleibt immer wieder stehen und beobachtet, geht wieder ein
23 24
Bahnhofplatz Bümpliz Süd Bahnhofplatz Bümpliz Süd 52
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
paar Schritte, bis sie schliesslich wieder beim Koffer ist. Bis der Bus kommt vergehen fast 10 Minuten. In der ganzen Zeit schlendert die Frau immer wieder umher.25 Beim Warten hat man Zeit, Leute zu beobachten, Anschriften zu lesen etc. In diesem Sinne setzen sich die Wartenden mit dem Raum auseinander, lernen vielleicht den Raum sogar ein stückweit neu kennen, indem sie bspw. etwas bisher Übersehenes entdecken. Interessant an obiger Sequenz ist aus unserer Sicht auch, dass die Frau ihren Koffer unbeaufsichtigt zurücklässt. Offenbar fühlt sie sich sicher und sieht keine Gefahr, dass ihr Koffer bspw. gestohlen werden könnte. Wir vermuten, dass die übersichtliche Gestaltung des Bahnhofplatzes hierzu mit beiträgt.
6.1.4
Ausruhen
Ausgeruht wird allem voran sitzend oder liegend auf Bänken oder auf einer Wiese. Manchmal dient auch eine Mauer oder ein Winterdepotkasten dazu, um sich daraufzusetzen oder daran angelehnt auszuruhen. Ausruhen meint faulenzen, schlafen, rumliegen, lesen, sich eine kleine Auszeit nehmen. Der Monbijoupark scheint ein besonders begehrter Ort zu sein, um eine Arbeitspause einzulegen und sich ein
Monbijoupark
bisschen zu erholen. Ein Velokurier fährt mit seinem Fahrrad bis zur Treppe Sinnesgarten/Grillplatz, setzt sich und verpflegt sich.26 Im Monbijoupark zeigen sich dann auch am deutlichsten zwei unterschiedliche Bedürfnisse punkto Ausruhen: Einige Personen brauchen die Arbeitspause (meist Mittagspause), um sich mit andern zu treffen, gemeinsam zu plaudern und um zusammen zu essen. Man wechselt dafür die Örtlichkeit (weg vom Büro, rein in den Park) und nutzt wohl die Gelegenheit, mit seinen Arbeitskolleg/innen auch ausserhalb des Betriebes mal einen Schwatz zu führen. Wir ordneten diesen Typus
25 26
Bahnhofplatz Bümpliz Süd Monbijoupark 53
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
nicht der Kategorie Ausruhen zu27. Ausruhen hat unserer Meinung nach viel mehr mit Ruhe zu tun. Zum Ausruhen suchen sich die meisten Leute eine Ecke für sich aus. Einige wollen einen Platz möglichst weit weg vom restlichen Geschehen. Ausgeruht wird in den von uns gemachten Beobachtungssequenzen meistens alleine. So befindet sich bspw. das in der folgenden Sequenz erwähnte Gebäude am Rande der Monbijou-Parkanlage und bildet somit eine der äusseren Kanten: Ein Mann liegt nahe bei der Zolldirektion, auf Höhe des letzten Drittels des Gebäudes, auf der Wiese und liest.28 Kurz darauf legt sich eine weitere Person in der Nähe, auf ungefähr gleicher Höhe, aber mit klarem Abstand auf die Wiese. Der Abstand zwischen den beiden Personen kann als Sicherheitsabstand interpretiert werden - so ist gewährt, dass jeder für sich ist. Wenn sich die Benutzer/innen in den von uns beobachteten öffentlichen Räumen ausruhen wollen, suchen sie generell eher ihre Ruhe, als den Kontakt zu andern Menschen. Weiter zu beobachten ist ein aktiveres und ein passiveres Ausruhen: Einige Leute liegen und sitzen ohne sichtbare Tätigkeit auf einer Bank oder auf der Wiese, andere wiederum beginnen nach kurzer Zeit etwas zu essen, mit dem Handy zu spielen oder zu lesen. Über längere Zeit dem absoluten Nichtstun verschriebenes Ausruhen konnte nicht beobachtet werden, nicht einmal bei älteren Menschen. Es ist nicht immer ersichtlich, ob es nur um das Ausruhen an sich geht oder ob jemand quasi gezwungen ist, für einen Augenblick "auszuruhen", aber eigentlich nur auf jemanden (verabredetet Person) oder etwas (Bus, Postauto) wartet29. Manchmal wird ausgeruht, um nicht den ganzen Weg auf einmal gehen zu müssen oder um sich zu sammeln, wie folgende Beobachtung auf dem Bahnhofplatz Bümpliz Süd zeigt: Alte Frau geht über Platz, setzt sich für kurze Zeit (ca. 3 Min.) auf die linke Bank. Danach steht sie auf und geht in den Avec-Laden.30 Ausgeruht wird vor allem dort, wo eine entsprechende Infrastruktur vorhanden ist, wie Sitzbänke, Tische, Mauervorsätze und dergleichen. Ausgeruht wird zweifellos gerne auf angenehmen "Bodenbelägen" wie Wiesen. Eine Wiese bietet sich geradezu an, ein wenig an der Sonne zu liegen, vor sich hinzudösen oder ein Buch zu lesen. Verweilen die einen gerne an der Sonne, ziehen andere Schattenplätze vor. Die effektivsten Schattenspender in öffentlichen Räumen sind Bäume.
27
Zugeordnet wurden solche Handlungen den Kategorien Konsum und Begegnung mit Bekannten. Monbijoupark 29 Könnte somit auch in die Kategorie Warten fallen. 30 Bahnhofplatz Bümpliz Süd 28
54
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Beides, die Sonne geniessen, aber auch im Schatten sitzen zu können, bildet eine gute Voraussetzung, um an einem Ort ausruhen zu wollen. Die Favoriten unserer Beobachtungsräume bezüglich Ausruhen sind nicht ganz überraschenderweise die Parkanlagen (Monbijoupark, Cäcilienplatz und Bachmätteli).
6.1.5
Beobachten
In öffentlichen Räumen gibt es viel zu beobachten. Oft werden Kinder von ihren Erziehungsbefugten beim Spielen im Raum beobachtet, meist aus einer gewissen Distanz. Drei Kinder spielen um einen Baum, auf der Wiese, Nähe Strässchen. Die Mutter sitzt etwas entfernt mit Kinderwagen auf der Wiese und schaut ihnen zu.31 Eine Tamilenfamilie, eine Frau und fünf Kinder ... läuft ... über die Wiese. Die Frau fährt (mit Kinderwagen) bis zur Bank ... und setzt sich. Die Kinder springen in alle Richtungen. Die Frau schaut aufmerksam zu, wo ihre Kinder sind.32 Die Kinder spielen ... stets in wechselnder Besetzung. Sie sind fast durchgehend in Bewegung. Betreuerinnen schauen immer wieder Richtung Kinder.33 Das hier beispielhaft aufgeführte Beobachten beinhaltet noch eine zweite Komponente: Kinderhüten, ob professionell oder im privaten Rahmen, d.h. ob in Form von bezahlter oder unbezahlter Arbeit, ist als effektive Arbeit zu bezeichnen. Hier wird also im öffentlichen Raum gearbeitet.34 Ferner werden fremde Personen, aber auch Tiere beobachtet: Der Mann beobachtet das Geschehen, er beobachtet auch mich, wie ich mir Notizen mache.35 Zwei jüngere Männer stehen bei der Grillstelle und schauen einem Hund auf der vor ihnen liegenden Wiese zu.36 Auch die Umgebung, gemeint sind die physischen Elemente im Raum werden beobachtet oder, vielleicht treffender formuliert, betrachtet: sei dies die Parkanlage, sei dies ein in der Nähe stehendes Gebäude oder ein Reklameschild. Eine wichtige Voraussetzung zum Beobachten ist das Vorhandensein von Sitzgelegenheiten, vor allem von Bänken: Beobachten scheint eine bevorzugt sitzende Tätigkeit zu sein. Vielleicht fühlt
31
Monbijoupark Monbijoupark 33 Cäcilienplatz 34 Vgl. Kategorie 6.1.12 35 Monbijoupark 36 Monbijoupark 32
55
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
man sich dabei selber weniger beobachtet, ist selber weniger sichtbar im Raum und hat dafür umso ungestörter eine freie Sicht auf das Geschehen um einen herum. Für das Beobachten resp. Beaufsichtigen von Kindern eignen sich Räume, die topographisch unterschiedlich angelegt sind. So hat die (leicht) terrassierte Anordnung bspw. des Monbijouparks den Vorteil, dass man, sobald man sich auf einer höhere Ebene befindet, den Grossteil des Parks im Überblick hat. Bevorzugte Räume zum Beobachten sind anhand unserer Auswertungen die Grünanlagen. Die Aufenthaltsdauer ist dort meistens länger, es sind mehr Sitzgelegenheiten vorhanden als in den andern von uns aufgesuchten Räumen. Trotzdem wird praktisch nie einfach nur verweilt und dabei ein bisschen die Umwelt beobachtet. Das Beobachten geschieht entweder mit einem klaren Auftrag (auf Kinder aufpassen) oder nebenbei beim Miteinander-Sprechen oder beim Lesen. Auf einer anderen Bank sitzen Zwei Männer, essen und plaudern. Männer beobachten immer wieder, was auf dem Spielplatz läuft.37 Ihr Verhalten lässt vermuten, dass blosses Beobachten von Menschen in diesen Räumen (Parkanlagen) auffallen würde, als unangenehm empfunden würde, vielleicht gar als tendenziell voyeuristisch interpretiert werden könnte und deshalb nicht unbedingt erwünscht ist. Weniger problematisch hingegen könnte das Beobachten von Leuten in Bahnhofsräumen sein. Auf jeden Fall hielten wir auf dem Bahnhofplatz Bümpliz Süd folgende Sequenz38 fest: Eine Frau mit Koffer steht bei Busstation, wartet. Sie lässt den Koffer stehen und schlendert in Richtung Avec-Laden, schaut sich um, betrachtet die Leute auf dem Perron...39
6.1.6
Konsumation
Alle Beobachtungssequenzen, bei denen getrunken, gegessen oder geraucht wurde, haben wir dieser Kategorie zugeordnet. Im Kontext unserer Beobachtungen stellten wir verschiedene Formen und Angehensweisen von Konsumation fest, die in folgende Subkategorien, unterteilt werden könnten: •
Konsumation als Verpflegung
•
Konsumation als Zeitvertreib
•
Konsumation als sozialer Akt
•
Konsumation als mögliches Suchtverhalten
37
Monbijoupark Dieses Beispiel wird, in anderem Kontext, noch in der Kategorie Warten verwendet. 39 Bahnhofplatz Bümpliz Süd 38
56
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Selbstredend sind diese Subkategorien, wie die Kategorien generell, nicht immer scharf voneinander trennbar. Wie wir bereits in der Kategorie Ausruhen aufzeigt haben, werden (zumindest einige der von uns beobachteten) öffentliche Räume gerne zum Verbringen der Mittagspausen aufgesucht: Am Steintisch sitzen zwei Frauen und zwei Männer zusammen und essen Zmittag (teilw. Take-away, teilw. Mitgebrachtes im Tupperware). Die Gruppe geht nach 45 Min.40 Diese Gruppe hat gemeinsam den
Gemeinsames Mittagessen im Monbijoupark
Cäcilienplatz aufgesucht, um am dortigen Steintisch zusammen zu essen. Sie verweilt relativ lange vor Ort, was dafür spricht, dass sie sich wohlfühlt und gerne dort aufhält. Eine derartige Pausengestaltung kann eine willkommene Alternative zu einem Restaurantbesuch darstellen: Man kann sich günstig verpflegen und zudem draussen an der Sonne und der frischen Luft sein. Ähnliches war allem voran im Monbijoupark zu beobachten, der über Mittag zu einer regelrechten Freiluft-Kantine umgenutzt wird. Weniger um das Stillen des Hungers geht es bei dieser Beobachtungssequenz: An der Seitenwand des Kiosk, parkplatzzugewandt, stehen drei Jungen und ein Mädchen (ca. 7-8 J. alt). Zwei haben ein Kickboard. Die Kindergruppe geht zum Kiosk, kauft Gummibärchen und isst diese wiederum neben dem Kiosk.41 Das "Gängele" und Naschen von Süssigkeiten ist wohl die Absicht, die zum Ausflug auf den Bahnhofplatz Boll führte. Es ist davon auszugehen, dass der Kauf und Verzehr von Süssigkeiten nicht primär der Verpflegung diente, sondern eine Art Zeitvertreib mittels Genussmitteln darstellt. Eine ähnlich gelagerte Motivation sehen wir bei denjenigen Personen, die sich während des Wartens eine Zigarette anzünden: Man beschäftigt sich und überbrückt die Zeit, indem man eine Zigarette raucht.
40 41
Monbijoupark Bahnhofplatz Boll-Utzigen 57
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Wir unterscheiden in dieser Kategorie weiter, ob die Konsumation alleine oder in einer Gruppe erfolgt. Das Teilen der Gummibärchen (vielleicht haben die Kinder sogar ihr Münz zusammengelegt) bewerten wir als sozialen Akt. Gemeinsam zu essen scheint generell im öffentlichen Raum beliebt zu sein: Ein Mann läuft mit Kinderwagen von Osten her mitten über die Wiese bis vor Grillstelle, nimmt Kohlesack hervor und Brennpaste und beginnt sofort ein Feuer im Grill zu machen und kurz darauf zu grillieren.42 Aus unseren Lokalkenntnissen wissen wir, dass im Monbijoupark bei gutem Wetter oft und gerne grilliert wird. Oft kommen Personengruppen und Familien, feiern Feste mit allem Drum und Dran und verbringen den ganzen Sonntag im Park. Bei solchen Anlässen geht es unserer Meinung nach nicht nur ums Essen und Trinken, sondern auch ums Zusammensein mit Familie und Freunden. Dieses Motiv liegt auch der folgenden Beobachtungssequenz zugrunde: Eine Gruppe - drei Männer, zwei Frauen - sitzen auf und neben einer Sitzbank. Sie konsumieren Alkohol und unterhalten sich lautstark. Die Bierbüchsen werden (immer wieder) im Abfalleimer neben Sitzbank entsorgt.43 Bei unseren Beobachtungstouren im Bachmätteli sind wir immer wieder auf Gruppen von fünf bis zehn Personen gestossen, die dort zusammen vorzugsweise Bier getrunken und miteinander geredet haben. Je nach Gruppengrösse, Raumeinnahme und Lautstärke lässt sich die Szenerie zwischen einem auffälligen Gelage und einem unscheinbareren Feierabend-Trunk einstufen. Jede Gruppe scheint ihre bevorzugte Ecke zu haben, wo sie sich - vermutlich regelmässig - zum gemeinsamen Biertrinken trifft. Wir mutmassen, dass eine solche "Stammkneipe unter freiem Himmel" nicht nur aus Kostengründen attraktiv ist, sondern auch deshalb, weil sie ein weniger genormtes Verhalten erlaubt, als dies in einem Restaurant der Fall wäre (punkto Auftreten, Lautstärke etc.). Das nahegelegene Einkaufsangebot (Pick Pay gleich nebenan, Coop in kurzer Fusswegdistanz) und das Vorhandensein einer öffentlichen WC-Anlage tun ihr Übriges. Die Anwesenheit dieser Gruppen scheint einigermassen akzeptiert zu sein, zumindest konnten wir keine gegenteiligen Beobachtungen machen: Der Park wurde auch von andern Benutzer/innen ziemlich rege benutzt, und es war niemand zu beobachten, der sich über die Leute mokierte. Das beobachtete Verhalten bezüglich Entsorgen der (Bier-)Büchsen im Abfall lässt darauf schliessen, dass die Konsument/innen bestrebt sind, keinen Ärger zu machen.
42 43
Monbijoupark Bachmätteli 58
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Solche Beobachtungen nun lediglich unter dem Aspekt des Zusammenseins im Sinne eines sozialen Aktes zu betrachten, würde der Situation nicht gerecht werden. Die Tatsache, dass in erster Linie Alkohol konsumiert wurde und dass wir die Leute als teilweise angetrunken bis sichtlich betrunken erlebt haben, lässt auch auf ein Abhängigkeits- oder gar Suchtverhalten schliessen. Inwieweit es sich hierbei um ein ernsthaftes Problem für die betroffenen Personen sowie den öffentlichen Raum ("Belagerung" des Parks durch diese Gruppen kann zur einer Verdrängung der anderen Nutzergruppen bis hin zu einer Unbenutzbarkeit führen) handelt, können wir nicht beantworten.
6.1.7
Abstellen von Fahrzeugen
In den von uns beobachteten Räumen ist man meistens zu Fuss unterwegs. Das am häufigsten verwendete Fahrzeug ist das Auto. Dies ist sicherlich in Zusammenhang mit den von uns ausgewählten Räumen zu sehen, von denen sich zwei unmittelbar vor einem Bahnhof befinden. Beide liegen im Transitbereich einer Strasse, wobei es sich bei der einen mehr um eine Zubringerstrasse44, bei der andern um eine verkehrsberuhigte Strasse45 handelt. Uns ist anhand dieser beiden eher verkehrsbetroffenen Plätzen am meisten aufgefallen, was auch für die andern, von uns beobachteten Räume gilt: Der grösste Teil der Benutzung des öffentlichen Raums durch Fahrzeuge ist im Graubereich der Legalität anzusiedeln resp. teilweise klar verboten: Autos werden ausserhalb von Parkplätzen, zum Teil vor Park- und Halteverboten hingestellt, als Fussgängerzonen gedachte Plätze werden mit Autos befahren. Dasselbe gilt für Fahrräder, mit denen bspw. Parkanlagen mit Fahrverbot durchquert werden. Die Auto- und Fahrrad-
Illegales Parkieren auf dem Bahnhofplatz Boll-Utzigen
lenker/innen benutzen dabei den Raum in scheinbarer Selbstverständlichkeit. Personen, die zu Fuss unterwegs sind, scheinen sich allerdings wenig bis nicht an den wild parkierten Autos und an den Fahrradfahrer/innen zu stören, wobei hier vermerkt sei, dass allfällig verbal geäusserte Reklamationen (z.B. Fluchen oder ein Murren) für uns infolge meist grösserer Distanz praktisch nie hörbar gewesen wären. Nur ein einziges Mal, und zwar auf dem Dorfplatz Boll, konnten wir eine
44 45
Quartier Bümpliz Süd Bahnhofplatz Boll-Utzigen 59
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
gewisse Irritation beobachten: Ein Mann fährt mit seinem Auto über den Platz, bis vor die Migros und lädt zwei Wassertanks ein. ... Der Mann mit Auto bleibt ungefähr 5 Min. und fährt dann wieder Richtung Westen weg.46 Worauf: Ein altes Ehepaar läuft vor Café durch, Richtung Ausgang Nord. Sie begutachten das vor der Migros parkierte ... Auto.47 Der Dorfplatz Boll ist ein verhältnismässig kleiner Platz. Die Zufahrt, grundsätzlich nicht für Autos gedacht, ist eng. Ein einziges Auto genügt, und der Fussgängerfluss ist behindert, d.h. der Raum kann nicht mehr ungehindert traversiert werden. Ob Auto oder Fahrrad, die Fahrzeuge werden fast ausschliesslich in Zusammenhang mit dem Erledigen von Einkäufen verwendet oder, anders ausgedrückt: Wer einkaufen geht, tut dies mit einem Fahrzeug. Wird ein öffentlicher Raum in erster Linie mit einem Fahrzeug zwecks Einkaufs vor Ort aufgesucht, ist die jeweilige Verweildauer äusserst kurz: Ein Auto hält kurz vor dem Kiosk, RBS-Mitarbeiter steigt aus, kauft etwas und fährt wieder fort.48 Ein Mann fährt von Osten her mit Velo dem Perron entlang zum Kiosk. Er kauft etwas und fährt auf demselben Wege wieder weg.49 Eine Ausnahme dazu bilden Jugendliche auf dem Dorfplatz in Boll. Sie fahren mit Mofas und Fahrrädern vor, versammeln sich um die rund angeordneten Sitzbänke, bleiben entweder auf den Vehikeln sitzen oder nehmen auf den Bänken, teils auch auf dem Boden Platz. Dort verweilen sie dann eine gewisse Zeit. Bei ihnen steht nicht der Einkauf im Zentrum, sondern für sie ist der Dorfplatz ein Ort, um sich nach der Schule auf dem Nachhauseweg noch kurz zu treffen. Hier zeigt sich sehr anschaulich wieder das Thema des wilden Parkierens. Weder auf dem Dorfplatz Boll noch bspw. im Monbijoupark gibt es markierte Abstellplätze für Fahrräder. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass diese Räume bewusst verkehrsfrei geplant sind. Wenn zwei Personen mit dem Auto für einen kleinen Einkauf vorfahren (beim Kiosk oder AvecLaden), war zu beobachten, dass meistens eine Person im Auto sitzen bleibt, während die andere schnell einkaufen geht.
46
Dorfplatz Boll Dorfplatz Boll: Dieses Beispiel wird, in einem anderen Kontext, in der Kategorie Begegnung mit Fremden und Fremdem verwendet. 48 Bahnhofplatz Boll-Utzigen 49 Bahnhofplatz Boll-Utzigen 47
60
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Ein Auto hält vor Kiosk - kleiner Einkauf wird getätigt von der Frau. Fahrer bleibt in Auto…50 Auffallend ist, dass Personen, die alleine oder zu zweit mit dem Auto unterwegs sind und kurz einen Stopp für einen Einkauf oder fürs Geldabheben bei einem Postomaten einlegen, noch eine Zeit lang im Auto verweilen. Sie erledigen also schnell ihr Geschäft, um sofort wieder zurück ins Auto zu schlüpfen, ohne jedoch gleich wegzufahren. Es liegt nun auf der Hand, dass es jeweils eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, sich ab- resp. wieder anzugurten, den Autoschlüssel herauszuziehen und wieder hineinzustecken, den Geldbeutel zu suchen und die Einkäufe zu platzieren, etc.. Wir gewannen den Eindruck, dass dafür eigentlich bedeutend weniger Zeit notwendig gewesen wäre, als die Leute jeweils im Auto verbrachten. Ferner war das Wetter an sämtlichen Beobachtungstagen angenehm. Scheinbar, leiten wir davon ab, hält man sich gerne im Auto auf und verlässt dieses nur ungern. Vielleicht stellt das Auto eine Rückzugsmöglichkeit dar, eine Art Schutzhülle. Es ist im Grunde ein privater Raum inmitten des öffentlichen Raums. Weiter stellt sich die Frage, inwieweit dieses Zurückziehen ins Auto auch etwas über die Aufenthaltsqualität des Raumes aussagt: Man ist lieber im Auto, als sich draussen im Raum aufzuhalten, wo es, zumindest im Fall von Bahnhof Boll-Utzigen, gar keinen Ort gibt, um sich wirklich wohlzufühlen.
6.1.8
Einkaufs- und Dienstleistungsangebote vor Ort
Unter diese Kategorie subsumieren wir sämtliche Einkäufe und Inanspruchnahmen von Dienstleistungen, die für uns beobachtbar waren, wie Geldbezüge beim Postomaten, Benutzung eines Briefkastens oder des öffentlich zugänglichen Telefons, Klein(st)einkäufe bei Kiosk, im Avec-Laden und am Selecta-Automaten. Einkäufe von Lebensmitteln und Drogerieartikeln, Einkauf von Zwischenverpflegungen (Essen und Getränke) sowie das Aufsuchen der Gemeindeverwaltung und der Post. In fünf der sechs von uns beobachteten Räume sind solche Einkaufs- und Dienstleistungsangebote direkt oder unmittelbar angrenzend vorhanden. Wiederum in drei von diesen Räumen wurde der gesamte Raum massgeblich von den Einkaufsmöglichkeiten geprägt, wenn nicht gar dominiert. Diese Räume sind der Bahnhof Bümpliz Süd
50
Einkaufen auf dem Dorfplatz Boll
Bahnhofplatz Boll-Utzigen 61
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
mit seinem Avec-Laden, der Bahnhof Boll-Utzigen mit dem Kiosk und der Dorfplatz Boll, der eingesäumt ist von der Migros, einer Drogerie, einem Café und weiteren Läden und Kleinunternehmen (Coiffeur, Zahnarzt, etc.). Eingekauft und/oder das vorhandene Dienstleistungsangebot in Anspruch genommen wird meistens sehr gezielt. Spontaneinkäufe, z.B. beim Warten auf das Postauto oder die S-Bahn, waren selten zu beobachten. Vielmehr scheinen die Benutzer/innen den Raum und "sein" Angebot zu kennen. Dazu zwei veranschaulichende Beispiele: Ein Auto hält vor Kiosk, ein älterer Man mit Krücke steigt aus und liefert Lotto/Totto-Schein ab.51 Ein Auto hält vor Selecta-Automat, eine Frau steigt aus, läuft zum Briefkasten, wirft Brief ein, läuft dann zum Kiosk.52 Typisch für die beiden Bahnhofsräume (Bümpliz Süd, Boll-Utzigen) ist, dass sie fast ausschliesslich mit dem Auto für Einkauf und Dienstleistungen aufgesucht werden. Einzig ein paar Frauen sind mit dem Kinderwagen unterwegs. Wer sonst nicht mit dem Auto vorfährt, kommt mit dem Fahrrad. Letzteres wird gerne für den Einkauf auf dem Dorfplatz Boll benutzt. Dort sind zwar einige Personen zu Fuss unterwegs; eine Vielzahl von ihnen verlässt dann den Dorfplatz via Durchgang zwischen Migros und Post, der direkt zu einem Parkplatz führt. Es ist also anzunehmen, dass zumindest ein Teil von ihnen das Auto hier parkiert hat. Wo mehrere Dienstleister auf kleinem Raum angesiedelt sind, wie dies bspw. auf dem Dorfplatz Boll der Fall ist, werden oft verschiedene Einkaufs- und Dienstleistungsangebote auf einmal in Anspruch genommen. Zwei Frauen gehen kurz in die Migros, dann in die Drogerie.53 Nach dem Einkauf resp. der erhaltenen Dienstleistung verlassen die meisten Personen wieder den Raum. In den wenigsten Fällen werden die bei den Dienstleistern erstandenen Produkte auch vor Ort gebraucht, verspeist, benutzt oder dergleichen. Eine Ausnahme dazu bildet eine Gruppe Kinder, die beim Kiosk Bahnhof Boll-Utzigen ein paar Süssigkeiten kaufen und sie dann direkt hinter dem Kiosk stehend verspeisen. Auch beim Bahnhof Bümpliz Süd konnten wir die Konsumation von Einkäufen vor Ort beobachten: Vier junge Erwachsene ... gehen in Avec-Laden einkaufen. Nach kurzer Zeit setzen sie sich mit Sandwiches auf eine der Bänke der Schotterwiese ... alle reden - essend - miteinander.54
51
Bahnhofplatz Boll-Utzigen Bahnhofplatz Boll-Utzigen 53 Dorfplatz Boll 54 Bahnhofplatz Bümpliz Süd 52
62
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Vor dem Avec-Laden hat es ein paar Bistrotische. Ein Paar mittleren Alters hat im Laden zwei Flaschen Ice-Tea gekauft und setzt sich an einen Bistrotisch. Nach kurzer Zeit stehen sie auf und verlagern sich auf eine freie Bank an der Sonne.55 Manchmal wird der Einkauf mit einem kurzen Gespräch mit dem Verkaufspersonal verbunden. Wir konnten dies im Bahnhof Bümpliz Süd und im Bahnhof Boll-Utzigen beobachten. Es schien uns, dass sich die Leute dann jeweils kannten, eventuell eine Art Stammgäste sind. Nicht beobachtbar waren solche Gespräche verständlicherweise in den Läden beim Dorfplatz Boll.56
6.1.9
Begegnung mit Fremden und Fremdem
Im Grunde genommen können wir alle Beobachtungen, bei denen mehr als eine Person im (öffentlichen) Raum anwesend war und die Personen sich nicht kannten, dieser Kategorie zuordnen. Die Benutzer/innen eines öffentlichen Raums nehmen sich gegenseitig jeweils unterschiedlich intensiv wahr. Dabei stellt sich die Frage, ab wann man nicht mehr von einem blossen Wahrnehmen, sondern von einer Begegnung im Sinne eines intensiveren Kontakts sprechen kann. Alle Beobachtungen, bei denen es nicht um ein blosses Zusammentreffen zwischen fremden Menschen ging, sondern wo zwischen diesen Menschen eine für uns deutlich erkennbare Interaktion stattfand, z.B. sich grüssen, zusammen spielen, nach der Uhrzeitfragen fragen, irritiert sein etc., sind in dieser Kategorie zusammengefasst. Mögliche Subkategorien (können auch in Kombination auftreten) sehen wir bezüglich der Unterscheidung, wer auf wen resp. was trifft: •
Begegnungen zwischen Kindern
•
Begegnungen zwischen Kindern und Erwachsenen
•
Begegnungen zwischen Erwachsenen
•
Begegnungen zwischen Personen (ganz generell) und Dingen oder Phänomenen
Aus unseren Beobachtungen leiten wir ab, dass die unkomplizierteste Form der Begegnungen mit Fremden zwischen Kindern stattfinden. Je kleiner die Kinder, desto unvoreingenommener sind sie gegenüber anderen Kindern: Eine Frau sitzt am Tisch bei der Grillstelle und liest. Ihr Kind, ein ca. 6J. Junge, sitzt auf dem Tisch. Er spielt mit einem Ball, zuerst beim Tisch, dann auf der Wiese. Zuerst alleine, dann mit einem kleinen Kind, das mit seiner Mutter etwas vorgelagert auf der Wiese ist.57
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Bahnhofplatz Bümpliz Süd Vgl. Kategorie Begegnung mit Bekannten/m 57 Monbijoupark 56
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Die sich zunächst fremden Kinder nehmen einander wahr, begegnen einander. Es kommt zu einer Interaktion. Sie spielen miteinander, teilen sich den Ball. Die Mütter lassen ihre Kinder gewähren. Bei dieser Beobachtungssequenz waren die beiden Mütter nur marginal in die Begegnung miteinbezogen, anders bei den folgenden zwei Beispielen: Eine Frau mit gebastelten Pfeilbogen wird von fremden Kindern angesprochen, ob sie mal mit dem Bogen schiessen dürfen. Die Frau verweist auf ihren Jungen - sie sollen ihn fragen. Der Junge ist einverstanden. Einer der fremden Jungen probiert, einen Pfeil abzuschiessen. Es gelingt nicht. Der Besitzer-Junge zeigt ihm, wie's geht.58 Der Pfeilbogen hat die Aufmerksamkeit der Kinder erregt und sie neugierig gemacht. Es kommt zuerst zu einem Kontakt zwischen den Kindern und der Frau (Kinder fragen), dann zu einem Kontakt zwischen den Kindern. Die Mutter übergibt die Verantwortung ihrem Sohn. Sie lässt die Kinder machen, lässt sie selbst die Angelegenheit regeln. Die Kinder handeln aus, teilen dann den Pfeilbogen und erlernen so voneinander die Fertigkeit des Pfeilbogenschiessens. Die zurückhaltende Art und die Offenheit der Mutter ermöglichen es den Kindern, wichtige Erfahrungen zu machen (aufeinander zugehen, aushandeln, einander etwas beibringen). Als Gegenbeispiel kann folgende Beobachtung dienen: Die Frau ... sitzt auf einem Holzpflock. Ihr Junge springt unablässig durch den Park. Er hält sich bei den Spielgeräten auf, will u.a. auf die Wippe, mit Nathalie spielen. Die Mutter kommt auf uns zugelaufen und heisst ihren Jungen, dies nicht zu tun.59 Der Junge ist neugierig auf das Spiel mit der Wippe und wohl auch auf uns. Die Mutter lässt jedoch den Kontakt mit uns (Fremden) nicht zu. Vielleicht erscheinen wir ihr etwas suspekt, ausgerüstet mit Fotokamera und Beobachtungsprotokoll, am Notizenmachen und Fotografieren. Oder sie interpretiert unser Verhalten richtigerweise als Arbeit und will nicht, dass ihr Junge uns dabei stört. Die Heftigkeit der Reaktion der Mutter (ruft ihren Jungen bestimmt und laut zurück) und ihr sofortiges Eingreifen (sogleich, als der Junge in unsere Richtung läuft) erstaunt uns jedoch und wirkt etwas übertrieben. Die Reaktion der Mutter hat die Kontaktaufnahme und die Auseinandersetzung des Jungen mit uns (Fremden) unterbunden. Im Gegensatz zu den Begegnungen zwischen Kindern liegt den Begegnungen zwischen einander fremden Erwachsenen oft ein eher konkretes Anliegen zugrunde:
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Monbijoupark Cäcilienplatz 64
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Eine Frau (aus dem Zug ausgestiegen) fragt die Leute bei den Bistrotischen nach dem Weg (Wangenstrasse). Der erste Mann, den sie anspricht, kann kein Deutsch. Dann spricht sie einen zweiten Mann an, .... Der Mann gibt dann eine Richtung an, die Frau geht zügig davon.60 Das Fragen nach dem Weg, der Uhrzeit oder nach einer anderen Auskunft ist ein häufiger und allgemein akzeptierter Grund für Interaktionen zwischen fremden Erwachsenen. Das Ansprechen eines/r Fremden ohne konkrete Frage, also mehr im Sinne eines Small Talks, haben wir im Zusammenhang mit zusammen spielenden Kindern oder spielenden Hunden beobachtet: Kinder und Hunde scheinen förderlich zu sein, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Sonst blieb es unter den von uns beobachteten, einander fremden Erwachsenen eher ruhig und distanziert. Offenbar allgemein akzeptiert ist hingegen das gemeinsame Benützen einer Bank oder eines Tisches. Allerdings nur dann, wenn kein anderer Platz mehr frei ist. Bei solchen Begegnungen registrierten wir unterschiedliche Verhaltensnormen: Man fragt, ob noch frei ist, oder setzt sich einfach hin, grüsst oder grüsst nicht. Auch hier wird immer eine angemessene Distanz zur fremden Person gewahrt, räumlich wie auch im Verhalten (z.B. wenig Blickkontakt). Eine weitere Subkategorie bilden wir beim Treffen auf Fremdes und/oder Unbekanntes im Sinne von Phänomenen oder Dingen: Ein Mann fährt mit seinem Auto über den Dorfplatz, bis vor die Migros und lädt zwei Wassertanks ein... Ein altes Ehepaar läuft vor Café durch, Richtung Ausgang Nord. Sie begutachten das vor der Migros parkierte Auto.61 Das Ehepaar wirkte irritiert über die Situation, dass auf dem autofreien Dorfplatz einfach ein Auto steht. Sie bleiben für einen Moment vor dem Auto stehen, eventuell verärgert über den Regelverstoss. Das Auto ist offensichtlich ein Fremdkörper, eine Störung auf dem Dorfplatz. Der Umgang mit Irritationen und Fremden will gelernt sein. Wie Kinder lernen, mit Fremden umzugehen, illustriert diese Beobachtungssequenz: Eine ältere Frau spielt... mit ihrem Hund, dem sie einen Frisbee auf die Wiese wirft. Der Hund holt jeweils den Frisbee, der Frisbee wird wieder geworfen. Ein kleines Mädchen (schwarze Hautfarbe) nähert sich der Frau und schaut ihr beim Spiel zu. Der Hund kläfft wild um sich und bellt das Mädchen an. Das Mädchen schreckt ein wenig zurück, bleibt aber vor Ort. Es darf dann den Frisbee werfen. Andere Mädchen... befinden sich auf Sicherheitsabstand... Nach ca. 5 Min. getrauen sich zwei weitere Mädchen doch zur alten Frau mit Hund und dürfen je auch den Frisbee werfen...62
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Bahnhofplatz Bümpliz Süd Dorfplatz Boll 62 Monbijoupark 61
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Bei dieser Begegnung kommt es zu einer Interaktion zwischen Generationen und Kulturen (das Mädchen ist schwarzer Hautfarbe). Die Mädchen begegnen dem fremden Phänomen Hund mit Neugier, aber auch mit Angst Sie überwinden jedoch ihre Angst (offenbar vertrauen sie der Frau, dass der Hund nicht gefährlich ist) und machen damit eine gute Lernerfahrung im Umgang mit Fremdem.
6.1.10 Begegnung mit Bekannten und Bekanntem Diese Kategorie enthält Beobachtungssequenzen, bei denen es aufgrund des sozialen Verhaltens offensichtlich ist, dass sich die interagierenden Leute kennen. Öffentliche Räume sind beliebte Treffpunkte und Orte, wo man sich zu zweit oder in einer Gruppe aufhalten kann. Entweder ist man verabredet und/oder geht bspw. gemeinsam in einen Park zum Mittagessen, oder aber die Begegnungen finden eher zufällig statt. Eine Mischform aus
Monbijoupark
spontaner und verabredeter Begegnung sind "Cliquen", die sich immer in etwa am selben Ort und oft zu ungefähr gleicher Zeit aufhalten. Diesen drei Formen von Begegnungen im öffentlichen Raum können als weitere Aufteilung in Subkategorien dienen: •
verabredetes Treffen vor Ort
•
spontanes Treffen vor Ort
•
halbspontanes Cliquentreffen
Die Mehrheit der Beobachtungssequenzen spricht für eine vorgängige Verabredung: Zwei junge Männer sitzen auf Höhe Sinnesgarten auf der Wiese und unterhalten sich. Sie sitzen an der Sonne. Sie rauchen (kiffen?). Ein weiterer junger Mann (mit Rastas) läuft zielstrebig vom Grillplatz her zu den beiden jungen Männern, die bereits dort auf der Wiese sitzen. Sie begrüssen sich und rauchen.63
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Monbijoupark 66
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Bei dieser Szene, sie fand am frühen Abend statt, treffen sich die jungen Männer vermutlich verabredet im Park, um miteinander den Feierabend zu verbringen. Der dritte, später dazugestossene Mann marschiert gezielt durch den Park. Offenbar weiss er, wo seine Kollegen sind, findet sie dann auch sofort. Spontane, nicht verabredete Treffen haben wir eher in Boll beobachtet: Eine Frau verlässt die Migros, eine andere Frau ... steuert mit dem Fahrrad, das sie stösst, auf diese Frau zu und ruft ihren Namen. Sie unterhalten sich ca. 10 Min. vor dem Brunnen mitten auf dem Platz.64 Ein Mann unterhält sich mit einer Frau seitlich vor der Migros. Sie sind zuerst nicht hörbar, die Kommunikation wird mit der Zeit etwas lauter.65 Auch im zweiten Beispiel kamen beide, der Mann und die Frau, aus verschiedenen Richtungen gelaufen. Das Dorf- und Ladenzentrum Boll konzentriert einen Grossteil der Einkaufs- und Dienstleistungsangebote des Dorfes an einem Ort. Die Chance, dass man hier während dem Einkauf auf ein bekanntes Gesicht trifft, ist deutlich grösser, als dies in einem städtischen Umfeld der Fall ist. Die kleinräumigen Strukturen des Dorfes und die geringere Anzahl Bewohner/innen können spontane Begegnungen begünstigen. Wir vermuten, dass neben einer Konzentration an Dienstleitungsangeboten auch im öffentlichen Raum vorhandene Infrastrukturen Begegnung (spontaner oder verabredeter Art) begünstigen können: Zwei Frauen mit vier Kindern laufen über den Schotterplatz zum Steintisch und trinken und essen dort am Tisch sitzend mit den Kindern. Eine weitere Frau mit Kind stösst, über Kiesplatz laufend, zu der Picknickgruppe.66 Ein Tisch ist als Treffpunkt sicher gut geeignet. Ist er dann auch noch so gut sichtbar und gleich neben dem Eingang zum Spielplatz positioniert, erst recht. Ein wichtiger Treffpunkt scheint auch das Bachmätteli zu sein. Bei all unseren Beobachtungstouren habe wir dort Gruppen von fünf bis z.T. über zehn Personen angetroffen, die angeregt diskutierten und Getränke zu sich nahmen: Zwei Männer stehen bei der Bank links von der Brücke. Sie sprechen miteinander, trinken Getränke (nicht erkennbar, was auf diese Distanz). Nach ein paar Minuten kommen zwei weitere Männer
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Dorfplatz Boll Dorfplatz Boll 66 Cäcilienplatz 65
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
dazu, einer davon fährt mit dem Mofa auf den Platz, sie sprechen kurz miteinander, gehen dann weiter zu einer anderen Gruppe ... Begrüssung teilweise mit Handschlag.67 Bei diesen Gruppen vermuten wir eine Art Cliquenverhalten. Die Leute sammeln sich immer in etwa am selben Ort und zu den gleichen Zeiten. Jeder weiss, dass er dort Kollegen treffen kann, auch ohne dass dies so richtig verabredet ist. Es herrscht ein Kommen und Gehen: Man trifft einander, redet, bleibt oder geht dann wieder. Begünstigend wirken sich dabei sehr wahrscheinlich die gute Sichtbarkeit (die Gruppe ist schon von weitem zu sehen) und die zentrale Lage (direkt beim Quartierzentrum, den Läden und der Busshaltestelle) des Platzes aus.
6.1.11 Bühne Bei unseren Beobachtungen haben wir auch Vorkommnisse gesehen, bei denen wir vermuten, dass es nicht nur um eine bestimmte Handlung oder Tätigkeit, sondern auch um Selbstinszenierung geht. Diese kann bewusst oder unbewusst, sehr offensichtlich oder eher beiläufig passieren. Solche Inszenierungen benötigen ein Publikum. (Selbst-)Inszenierung will schliesslich beachtet werden und hat immer auch eine Botschaft an die Öffentlichkeit. Das Publikum findet sich im öffentlichen Raum in Form der anderen Benutzer/innen. Diese Kategorie ist sicher die interpretativste. Von aussen betrachtet lassen sich solche Beobachtungssequenzen nicht zweifelsfrei als Selbstinszenierungen identifizieren. Wir vermuten, dass selbst die Akteure sich nicht immer dieser Inszenierung bewusst sind. Trotzdem gibt es für uns gewisse Merkmale, die auf eine Selbstinszenierung hindeuten. Mögliche Merkmale der Selbstinszenierung lassen sich an folgendem Beispiel illustrieren: Ca. zehn Personen (eher Jugendliche, evt. 20 - 30jährig, acht Männer, zwei Frauen) konsumieren Getränke und Esswaren eingangs Platz - links hinter Busstation, am Durchgangsweg. Einige sitzen auf Bänken, die meisten stehen. Verhältnismässig laute Diskussionen.68 Die Selbstinszenierung findet in einer Gruppe statt. Die Leute lassen sich an einer zentralen Stelle nieder (Durchgangsweg). Sie sind von der ganzen Anlage her gut sichtbar. Sie beanspruchen verhältnismässig viel Fläche und unterhalten sich teilweise lautstark, lauter als es für ihren Kreis nötig wäre. Wollen diese Leute möglicherweise bewusst die Ruhe vor Ort stören und/oder so auf sich aufmerksam machen? Eine weitere Beobachtung, diesmal jedoch ohne Rudeldynamik:
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Bachmätteli Bachmätteli 68
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Auf allen drei Bänken sitzen Leute. Erste Bank – junger Mann mit Gepäck, spielt für sich Gitarre, zweite Bank – mittig auf der Bank sitzt eine junge Frau und tippt auf ihrem Handy rum... Nach ein paar Minuten packt Gitarrespieler sein Zeug zusammen geht zum Bahnperron und wartet dort noch eine Weile mit eingepackter Gitarre am Rücken auf den Zug.69 Es ist nun möglich, gar wahrscheinlich, dass der junge Mann einfach unterwegs ist zum Musikunterricht oder zu seinem Übungsraum, um sich dort mit seinen Bandkollegen zu treffen. Er nutzt daher die Gelegenheit, noch schnell ein paar Akkorde zu üben. Vielleicht inszeniert er sich aber auch ganz einfach als Musiker, nicht zuletzt weil offensichtlich Publikum vorhanden ist, z.B. in Form der jungen Frau auf der Sitzbank nebenan. Wie eingangs bereits angetönt, bewegen wir uns in dieser Kategorie stark im Bereich der Interpretationen. Nichts desto trotz wagen wir zu behaupten, dass Sehen und Gesehenwerden zum öffentlichen Raum gehört und dass das Publikum durchaus mit Interesse hinschaut. Zu beobachten war besagtes Publikumsinteresse bspw. in folgender Sequenz: Zwei junge Männer mit Sporttaschen laufen über die Wiese ... und lassen sich am Rande des Hügels ... nieder. Sie ziehen Schuhe und Socken aus. Sie machen sofort Dehnübungen und üben akrobatische Bewegungen. Der eine sitzt zwischendurch, macht dann Thai-Chi-ähnliche Bewegungen, der andere macht einige Luftsprünge mit Rückwärtsdrehung, vom Stand aus.70 Die ganze Inszenierung war im wahrsten Sinne fast schon bühnenreif. Auch wir schauten gebannt hin und wir erwarteten eigentlich nur noch, dass einer der beiden Akrobaten anschliessend mit dem Hut herumgeht und Geld einsammelt. Dasselbe Beispiel verwenden wir übrigens nochmals in der Kategorie Sport, doch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.
6.1.12 Arbeiten Unter der Kategorie Arbeiten lassen sich zwei Hauptunterscheidungen vornehmen: Zum einen offizielle Arbeiten am öffentlichen Raum selbst wie bspw. Reinigungs- und Gärtnerarbeiten, zum anderen die Benutzung des öffentlichen Raums als Arbeitsort z.B. zum Lesen, Schreiben oder Lernen. Öffentliche Räume erzeugen Arbeit, sie müssen unterhalten und gereinigt werden: Ein Auto (Facility Service) fährt auf den Platz zur Post. Eine Frau steigt aus und geht zur Telefonkabine, reinigt diese (dauert etwa 3 Minuten), steigt wieder ein und fährt an uns vorbei.71
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Bahnhofplatz Bümpliz Süd Monbijoupark 71 Dorfplatz Boll 70
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Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Eine Putzmannschaft fährt mit einem Traktor von Nord nach Süd.72 In Anbetracht der sich zeigenden Entwicklungen (Zunahme des Abfalls, Littering und Vandalismus) ist mit einer Zunahme an Arbeit an den öffentlichen Räumen zu rechnen. Die mit Abstand am meisten beobachtbare Tätigkeit im Sinne von Arbeit im öffentlichen Raum war die Kinderbetreuung. Oft waren es Mütter mit ihren Kindern, die die öffentlichen Räume aufsuchten, um mit den Kindern dort zu spielen, sie spielen zu lassen und dabei zu beobachten, zu picknicken und dergleichen. Manchmal kamen auch ganze Kindergruppen, angeleitet von Kleinkindererzieherinnen. Auch Jugendliche, unter Aufsicht einer
Kinderbetreuung beim Cäcilienplatz
Betreuungsperson, konnten beobachten werden. Bei all den genannten Formen der Betreuung von Kindern und Jugendlichen könnte man Gefahr laufen, sie auf den ersten Blick gar nicht als Arbeit wahrzunehmen, sondern sie in erster Linie mit Erholung und reinem Vergnügen gleichzusetzen, was der Sache keineswegs gerecht würde. Da bereits in andern Kategorien73 einige solche Beispiele aufgeführt werden, verzichten wir an dieser Stelle darauf, unsere Aussage mit Beobachtungssequenzen zu unterlegen. Demgegenüber konnten Personen, die Arbeitsinstrumente und/oder -werkzeuge (Unterlagen, Laptop etc.) in die öffentlichen Räume mitnahmen, um dort zu arbeiten, vergleichsweise wenig beobachtet werden. Allerdings hängt dies auch damit zusammen, dass nicht immer klar ersichtlich war, ob jemand effektiv arbeitete: Leute, die in einem Park lesen, können dies sowohl zum Vergnügen als auch zu Arbeitszwecken tun. Bei solchen Szenen konnten wir keine präzise Zuweisung vornehmen. Andere Tätigkeiten wiederum waren für uns klar(er) als Arbeiten erkennbar: Ein Mann sitzt auf der Bank bei Schotterplatz ... hat Kärtchen in der Hand und wechselt diese ständig. Nach ca. 10 Min. läuft er wieder weg.74
72
Bachmätteli Vgl. z.B. Kapitel 6.1.5 74 Cäcilienplatz 73
70
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Der Mann lernt, fragt sich selbst mittels der Kärtchen ab. Er sitzt alleine auf dem Platz, um ihn herum ist es ruhig. Scheinbar ist diese Atmosphäre förderlich, damit man sich einen Moment versenken und konzentrieren kann. Ebenfalls auf dem Cäcilienplatz, doch im etwas höher gelegenen Parkbereich konnten wir Folgendes beobachten: Eine junge Frau sitzt am Steintisch, neben Quartierhaus. Sie schreibt etwas.75 Wir interpretieren dieses Schreiben als Lernen, z.B. Hausaufgaben erledigen. Bekräftigt in unserer Annahme werden wir, weil etwas später zwei weitere Frauen dazu stossen, ebenfalls mit Heften bestückt, die sich über das vor ihnen Liegende austauschen.
6.1.13 Spielen Das Spielen geniesst in den von uns beobachteten Räumen einen hohen Stellenwert. Gerne und oft spielen Kinder in den öffentlichen Räumen. Die Kinder spielen alleine, zusammen mit anderen Kindern und ab und zu auch mit Erwachsenen. Selbstverständlich macht der Spieltrieb vor keinem Alter halt, und so waren neben Kindern und Jugendlichen auch Erwachsene, auch ältere Menschen beim Spiel zu beobachten. Anhand unserer Beobachtungen stellten wir in der Kategorie Spielen drei wesentliche Unterschiede fest: •
Spielen mit vorhandenen Spielgeräten, inklusive ihre Zweckentfremdung
•
Spielen mit allem, was der Raum bietet (ohne Spielgeräte)
•
Spielen mit mitgebrachten Spielzeugen und -geräten
Da diese Unterschiede alle in hohem Masse raumrelevant sind, bilden sie unserer Meinung nach Unterkategorien in der Kategorie Spielen. Eine Vielzahl an Spielgeräten bieten die drei Parkanlagen Bachmätteli, Monbijoupark und Cäcilienplatz. Unter Spielgeräte fallen u.a. Wippen, Schaukeln, Rutschen, Karusselle und Tischtennistische - wobei nicht überall dieselben Spielgeräte vorhanden sind. Benutzt werden die Geräte von Kindern wie von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Kinder testen oft mehrere Geräte aus, verweilen aber meist nicht sehr lange bei einem. Bei einigen der Geräte benötigen sie je nach Alter die zusätzliche Hilfe von Erwachsenen: Karussell drehen, Schaukel bedienen etc.
75
Cäcilienplatz 71
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Nicht immer werden die Spielgeräte im ursprünglich gedachten Sinne genutzt: Vier Jungen spielen auf dem Tischtennistisch mit einem Fussball.76 Mit dieser "Zweckentfremdung" des Tisches wird die Benutzungsmöglichkeit von vorhandenen Spielgeräten erweitert. Ein anderes Mal war ein Kind zu beobachten, dass auf einem Mühlesteinfeld nicht etwa Mühle spielte, sondern den Linien entlang hüpfte, ähnlich dem Himmel-und-HölleSpiel. In den drei andern von uns aufgesuchten öffentlichen Räume (Bahnhof Bümpliz Süd, Bahnhof Boll-Utzigen, Dorfplatz Boll) sind keine Spielgeräte vorhanden. Auch wenn solche Geräte nicht vorhanden sind, hindert dies Kinder in keiner Weise am Spielen: Junge (ca. 9-jährig) geht einmal quer über den Platz und wieder zurück, beide Male hüpft er über den Randstein.77 Ob Randsteine, kleine Mauern, Büsche oder Steine - mit allem lässt sich spielen, alles lässt sich fürs Spiel einbeziehen. Besonders beliebt scheint dabei das Element Wasser zu sein. So konnte wir mehrfach beobachten, wie Kinder sich geradezu zu einem Bach oder zu einem Brunnen gestürzt haben und sofort begannen, mit dem oder am Wasser zu spielen:
Flacher Uferbereich im Bachmätteli
Ein kleiner Junge läuft mit grossem Stock ... auf den Brunnen zu und spielt mit dem Stock mit dem Wasser.78 Der Junge hüpft sofort im Bachbeet auf den Steinen rum. ... Beide springen von Bach zu Sandkasten, holen Wasser für Sandkasten. Der Junge bleibt grossmehrheitlich beim Bach. Ein Bach, überhaupt Wasser, bietet ein sinnliches Erlebnis. Das Spiel mit dem Wasser muss stets
76
Monbijoupark Bahnhofplatz Bümpliz Süd 78 Dorfplatz Boll 77
72
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
neu erfunden werden, es regt die Phantasie an. Die unmittelbare Nähe des im zweiten Beispiel erwähnten Sandkastens verhilft zudem zu erweiterten Spielmöglichkeiten durch die Kombination Wasser - Sand. Sandkästen können zwar den vorhandenen Spielgeräten zugeordnet werden, sind aber von ihrer Verwendung her sehr viel freier interpretierbar als die konstruierten Geräte. Aber auch andere Bodenbeläge als Sand regen die Kinder zum Spielen an: Ein Kind recht den Boden (Erde und Holzspäne) vor der Schaukel.79 So wie mit verschiedenen Materialen gespielt und experimentiert wird, so will der Raum auch entdeckt und ausgekundschaftet werden. Bevorzugt werden dabei Sträucher und Büsche oder bspw. ein Zwischenraum im Cäcilienpark: Das Kind läuft zum Zwischenraum Quartiertreff/WC-Anlage und erkundet dort den Ort. ... Auch dieses Kind will v.a. im Zwischenraum ... wo sich Holzpalette befinden, durchlaufen, dort rumgucken.80 Manche Personen nehmen ihre eigenen Spielgeräte mit beim Besuch eines öffentlichen Raums. Vielfach handelt es sich dabei um Bälle aller Art; aber auch Fahrräder, Frisbees, Pfeilbogen und Utensilien für den Sandkasten konnten beobachtet werden. Während sich Spiele auf im Raum vorhandene Spielgeräte (Rutsche, Schaukel, etc.) auf klar begrenzten, eher kleinen Territorien konzentrieren, beansprucht die Ausführung von mitgebrachten Spielen einen oft bedeutend grösseren Radius: Zwei Männer ... beginnen Frisbee zu spielen. ... Sie spielen auf der Wiese direkt vor der Bank. Weiten das Spiel dann aus auf die ganze Wiese.81 Eines der beiden Kinder ... fährt mit dem Velo auf dem Grillplatz rum, dann zum Strässchen zwischen Wiese und Grillplatz, fährt Neigung bei Wiese hinunter und beim Tisch wieder hoch, ... Dies wiederholt sich mehrere Male.82 Das Spiel bekommt damit eine gewisse raumgreifende Dominanz. Wir konnten jedoch nicht beobachten, dass sich andere Benutzer/innen von solchen Spielformen gestört fühlten. Wir gehen davon aus, dass dem Spielen im öffentlichen Raum grundsätzlich eine grosse Toleranz entgegengebracht wird. Beobachtbar war hingegen, dass es über Spiele und Spielen zu Kontakten zwischen Personen kommt, die sich vorher nicht kannten. Dies trifft nicht nur auf Kinder zu, die sich erst über
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Cäcilienplatz Cäcilienplatz 81 Bachmätteli 82 Monbijoupark 80
73
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
das Spiel näher kommen, sondern war auch bei Erwachsenen und Erwachsenen gegenüber Kindern beobachtbar.83 Die von uns beobachteten Formen von Spielen sind fast durchgehend bewegungsintensiv. Spiele wie bspw. Kartenspiele kamen praktisch nicht vor. Die Spiele können kleinräumlich, z. B. in einem Sandkasten oder um einen Baum stattfinden, aber auch einen ausgedehnten Radius beanspruchen, z.B. eine ganze Wiese. Was für Spiele wo möglich sind, ist also klar auch von der Grösse des entsprechenden Raums abhängig. Weniger relevant scheint jedoch zu sein, ob und wie viel an Spielinfrastruktur bereits im Raum vorhanden ist: Gespielt wird grundsätzlich mit allem, was da ist (Boden, Mauern, Spielgeräten, Pflanzen, Brunnen etc.).
6.1.14 Sport Wir grenzen Sport ab von Spielen. Sport ist aus unserer Sicht zielgerichteter als ein Spiel. Sport verfolgt einen klaren Aufbau und entwickelt dafür klare Regeln und Abläufe. Was Sport von der Tendenz her eher seriöser und ernsthafter macht, bleibt beim Spiel mehr die Betonung des Ungezwungenen, Spielerischen. So hat bspw. Fussball spielen zwar klar eine sportliche Ausrichtung, wurde in unseren Beobachtungen aber eher auf einer spielerischen Ebene praktiziert. In all unseren Beobachtungsräumen konnten wir lediglich im Monbijoupark sportliche Aktivitäten beobachten. Anhand unserer Lokalkenntnisse wissen wir, dass dort ab und zu eine Thai-Chi- und eine Schwertkampf-Gruppe trainiert. Da viele Menschen gerne draussen sind, um Sport zu treiben, ist der öffentliche Raum natürlich eine Option dafür - jedenfalls bis zu einem gewissen Grade. Insbesondere Joggen und Velofahren können praktisch im öffentlichen Raum und gleich vor der Haustüre beginnen. Demzufolge werden auch Strassen und Wege zu Orten, wo Sport getrieben wird: Älterer Mann joggt Parksträsschen entlang, läuft dann wieder kurz, joggt dann wieder.84 Wenn wir sportliche Aktivitäten beobachten konnten, waren diese nur bedingt raumgreifend, benötigten also eher wenig Platz. Neben dem Joggen konnten wir noch folgende Beobachtung machen: Zwei junge Männer mit Sporttaschen laufen über die Wiese ... und lassen sich am Rande des Hügels ... nieder. Sie ziehen Schuhe und Socken aus. Sie machen sofort Dehnübungen und üben akrobatische Bewegungen. Der eine sitzt zwischendurch, macht dann Thai-Chi-ähnliche Bewegungen, der andere macht einige Luftsprünge mit Rückwärtsdrehung, vom Stand aus.85
83
Ein sehr illustratives Beobachtungsbeispiel findet sich am Ende des Kapitels 6.1.9. Monbijoupark 85 Monbijoupark 84
74
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Die beiden Männer haben den Ort vermutlich bewusst gewählt, um dort ihre Übungen zu machen. Zumindest lässt ihr zielstrebiges und scheinbar geplantes Erscheinen (Sporttasche) darauf schliessen. Für die teilweise waghalsigen Übungen war der relativ weiche Untergrund (Rasen) sicher von Vorteil. Da die grosse Rasenfläche genügend Raum für das Ausüben dieser sportlichen Tätigkeit bot, schien sich niemand daran zu stören, noch wurden die beiden Männer dabei gestört eine nicht unwesentliche Voraussetzung, um Übungen dieser Art sicher und konzentriert durchführen zu können.
6.1.15 Draussen sein Unter dieser Kategorie haben wir jene Beobachtungen zusammengefasst, bei denen sich die Leute ohne konkrete, ersichtliche Handlung oder Tätigkeit im öffentlichen Raum aufhalten. Viele der unter den verschiedenen Kategorien versammelten Tätigkeiten müssen nicht zwingend im öffentlichen Raum ausgeführt werden: Spielen, Sport, Konsumieren oder Begegnungen mit Mitmenschen können auch drinnen stattfinden. Was allerdings nur der öffentliche Raum im Sinne der Definition nach Kapitel 2.6 bieten kann, ist das Draussen sein. Draussen zu sein ist immer auch verbunden mit einem unmittelbaren Erleben von Natur, Wetter
Monbijoupark
und (mehr oder weniger) frischer Luft. Besonders in städtischen Verhältnissen sind öffentliche Räume wie Parkanlagen grüne Inseln innerhalb des Quartiers. Es ist davon auszugehen, dass die Menschen bevorzugt bei schönem Wetter nach draussen gehen: Vor dem Avec-Laden hat es ein paar Bistrotische. Ein Paar hat im Laden zwei Flaschen Ice-Tea gekauft und setzt sich an einen Bistrotisch. Nach kurzer Zeit stehen sie auf und verlagern sich auf eine freie Bank an der Sonne.86 Interessant an dieser Beobachtung ist, dass die Leute ihre Getränke nicht drinnen konsumieren. Dort sind nämlich ebenfalls ein paar Tische vorhanden. Der Aussenbereich wird scheinbar bevor
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Bahnhofplatz Bümpliz Süd 75
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
zugt. Zuerst setzt sie das Paar an die Bistrotische, die am Schatten im Bereich der Haltestelleninfrastruktur und der Unterführung liegen. Der Wechsel auf eine an der Sonne gelegene Sitzbank spricht dafür, dass für sie dieser Platz (noch) attraktiver ist. Hauptmotivation für diesen Platzwechsel wird wohl die Option auf ein Sonnenbad gewesen sein. Dem Ruf der Sonne folgte vermutlich auch die Frau in folgender Beobachtungssequenz: Eine Frau ... läuft über Brücke und Wiese ... Etwas später geht sie durchs Ost-Tor wieder auf den Platz zurück auf den Platz auf der Wiese, voll der Sonne ausgesetzt.87 Wir zählen auch kleine Ausflüge in den öffentlichen Raum zur Kategorie Draussen sein. Dabei kann es sich gemäss unseren Beobachtungen bspw. um ältere Damen handeln, die im Park auf einer Bank sitzen und sich ein bisschen unterhalten oder um Familien, die mit dem Picknickkorb auftauchen, oder um zu einem Kinderhort gehörende Kinder, die von ihren Betreuerinnen ein bisschen an die frische Luft geführt werden. Speziell Kinder können sich dann ein bisschen austoben, können spielen, sich innerhalb eines Areals frei bewegen und erleben bisweilen ein Stück Natur in der Stadt. Es ist uns bewusst, dass diese Kategorie eher interpretativ ist, kann doch das Motiv, wieso jemand nach draussen geht, oft nur vermutet werden. Zudem führt das Nach-draussen-Gehen fast immer zu Handlungen wie spielen, essen oder miteinander reden, die wir bereits in andern Kategorien unterbrachten.
6.1.16 Indirekte Beobachtungen Als "indirekte" Beobachtungen bezeichnen wir sichtbare, von uns registrierte Formen der Nutzung des öffentlichen Raums, die wir nicht direkt beobachten konnten. Da es sich hierbei meist um nicht gesetzeskonforme Ausprägungen der Benutzung handelt, wären sie wahrscheinlich kaum beobachtbar, auf jeden Fall nicht mittels der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Sichtbare Zeichen dieser Art waren Graffitis, Tags, Kleber an Wänden, Kondome in Büschen etc. Diese Zeichen waren in praktisch allen von uns aufgesuchten Räumen feststellbar. Einzige Ausnahmen bildete der Dorfplatz Boll, was daran liegen könnte, dass dieser öffentliche Raum unmittelbar von Wohnhäusern umrahmt ist und daher einer offensichtlich hohen sozialen Kontrolle unterliegt. Die Gefahr, bedingt durch die exponierte Lage (mitten im Dorf), erwischt und erkannt (relativ kleine Gemeinde) zu werden ist um ein Vielfaches höher als bspw. im Monbijoupark in der Stadt Bern.
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Bachmätteli 76
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Wir stiessen bei unseren Beobachtungstouren nicht nur auf leichte Spuren von Vandalismus wie z.B. ein demoliertes Oblicht in der WC-Anlage Cäcilienplatz oder die besagten Graffitis und Tags (die wohl ebenfalls zum Vandalismus gezählt werden müssen), sondern auch auf mobile, verstellbare Sitzbänke88. Diese standen bei jedem unserer "Besuche" immer wieder an einem andern Ort. Auf dem Bahnhofplatz Boll-Utzigen wa-
Graffiti beim Cäcilienplatz
ren je eine Harasse und eine grosse Büchse deponiert, die gemäss Anschrift der Entsorgung von Flaschen und Zigaretten diente. Anhand der Mengen an Flaschen (meist Alkohol) und Zigaretten sowie aus Lokalkenntnissen kann rückgeschlossen werden, dass sich hier, wohl eher in Abend- und Nachstunden, Jugendliche treffen und aufhalten müssen.
6.2
Aneignung in den Beobachtungsräumen
In der Fachliteratur scheint man sich einig zu sein, den Begriff der Raumaneignung nicht allzu eng definieren zu wollen. Vielmehr wird Raumaneignung als Prozess verstanden, bei dem die Aneignung stufenweise, auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Raumaneignung steht als neutraler Begriff, der (für die Gesellschaft) sowohl erwünschte wie auch weniger erwünschte Komponenten beinhalten kann. Wir wollen daher ebenfalls keine Wertung über "angemessene" oder "weniger angemessene" Aneignung vornehmen. Zudem schliessen wir uns der tendenziell offenen Definition von Aneignung im Raum an, was bedeutet, dass viele beobachtete Handlungen und Verhaltensweisen, ob nun bewusst oder unbewusst ausgeführt, Anteile von Aneignung haben. Den Unterschied orten wir mehr in der Intensität, in der ein Raum angeeignet wird, und in den verschiedenen Formen, in der sich Aneignung zeigt. Aneignung im Raum passiert meist nicht einfach so, sondern steht in einem engen Zusammenhang mit der Geschichte und den Zuschreibungen des Raums sowie mit den Bedeutungen, die die Nutzer/innen an den Raum herantragen. So findet oft vor und auch nach dem Aufenthalt in einem öffentlichen Raum eine (geistige) Auseinandersetzung mit ihm statt. Wir gehen mit den Fachau-
88
Cäcilienplatz 77
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
tor/innen einig, dass diese Auseinandersetzung mit dem Raum wesentlich ist für den Aneignungsprozess resp. bereits eine intensive Form von Aneignung darstellt. Nun ist mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung primär beobachtbar, was seh- und hörbar ist, d.h. was die Menschen in den jeweiligen Räumen konkret tun. Auf der andern Seite ermöglicht eben diese Methode den Forschenden, bis zu einem gewissen Grade selber Teil des Beobachtungsraums und des dortigen Geschehens zu werden. Damit erleichtert sie auch das Hineindenken in eine rein geistige Auseinandersetzung mit dem Raum und macht dadurch den Aneignungsprozess nachvollziehbarer.
6.2.1
Beobachtungskategorien und Aneignung
Wir gehen im Folgenden der Frage nach, welche Formen von Aneignung wir in den Beobachtungsräumen feststellen konnten. Um dies aufzuzeigen, bleiben wir nochmals beim Schema der in Kategorien zusammengefassten Beobachtungen. Bei den unterschiedlichen Intensitätsebenen der Aneignung halten wir uns an Wulf Tessin.89 Transit: Wenn ein öffentlicher Raum bloss zum Durchqueren benutzt wird in dem Sinne, wie es in der Kategorie Transit beschrieben ist, kann sicher nur bedingt von einer Aneignung des Raumes gesprochen werden. Inwieweit der durchlaufene Raum bewusst ausgesucht wurde (oder aber bewusst gemieden wird) und wieweit beim Durchqueren die Umwelt überhaupt wahrgenommen wird, kann mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung nicht abschliessend beantwortet werden. Wir gehen jedoch davon aus, dass der Raum für den "Transiter" eher austauschbar ist, dass es diesem Typus also in erster Linie auf die Lage und die Verbindungsmöglichkeiten des Raumes ankommt, die konkreten Nutzungsangebote und die Ausgestaltung des Raumes jedoch sekundär sind. Aus unserer Sicht handelt es sich hierbei um eine sehr schwache Form der Aneignung. Flanieren: Die der Kategorie Flanieren zugeordneten Beobachtungen zeigen deutliche Aspekte einer Raumaneignung auf, wie sie Wulf Tessin versteht: Die langsamere Gangart erlaubt, den Raum effektiv wahrzunehmen; das Stehenbleiben, kurz Innehalten führt zusätzlich zu einem Erkunden des Raums mit Hilfe der Sinne. Die Flanierenden wirken entspannt, manchmal scheinen sie gar vor sich hinzuträumen, beides Verhaltensweisen, die auch gemäss Chombart de Lauwe90 auf eine Raumaneignung rückschliessen lassen. Dies in dem Sinne, dass sich die Leute vertraut mit dem Ort und daher wohl fühlen. Warten: Benutzt der "Transiter" wie auch der Flaneur die Wege eines öffentlichen Raums, ab und zu auch eine Wiese, kommt bei den Wartenden noch das Benutzen weiterer Infrastruktur des
89 90
Vgl. Kapitel 3.2 Vgl. Kapitel 3.1 78
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Raumes dazu. In den in der Kategorie Warten subsumierten Beobachtungen werden bspw. Sitzbänke, Geländer oder Winterdepotkasten zum Sitzen oder Anlehnen verwendet. Auch vom vorhandenen Dienstleistungsangebot, z.B. eine Zeitschrift beim Kiosk kaufen, wird Gebrauch gemacht. Bedingt durch die oft genügend vorhandene Zeit erkundet zumindest ein Teil der Wartenden sinnlich den Raum - v.a. mit den Augen. Manchmal werden gar Spuren im Raum hinterlassen, z.B. Zigarettenkippen91. Ausruhen: In dieser Kategorie stellten wir fest, dass vielfach sitzend oder liegend auf Bänken oder auf der Wiese ausgeruht wird. Die Aneignung findet hier also vor allem über den Gebrauch von vorhandenen Nutzungsangeboten statt. Sehr wahrscheinlich noch mehr als beim Flaneur ist das Gefühl wichtig, in den entsprechenden Raum zu passen und sich dort gut aufgehoben zu fühlen. Ein Gefühl, das sich wohl meist erst nach mehrmaliger Inanspruchnahme eines Raumes einstellen kann, vielleicht mitbeeinflusst durch eine positive Zuschreibung für den Raum, die man entweder selber vornimmt oder die von aussen definiert wird oder auch beides zusammen. Beobachten: Wie wir im Kapitel 6.1.5 zur Kategorie Beobachten aufgezeigt haben, werden nicht nur bspw. die eigenen spielenden Kinder beobachtet (im Sinne von beaufsichtigt), sondern auch die Umwelt, was bedeutet, dass der Raum mit seiner Ausprägung und Ausstattung angeeignet wird mittels Wahrnehmung und sinnlichem Erkunden. Da Beobachten anhand der von uns gemachten Erfahrungen eine tendenziell sitzende Tätigkeit ist, wird zudem auch das dafür Geeignete, z.B. Sitzbänke, in Anspruch genommen. Konsumation: Zweifellos wird beim Konsumieren im öffentlichen Raum die vorhandene Infrastruktur praktisch genutzt, z.B. - wie so oft - Bänke, aber auch Treppen, Mauern, Tische etc.. Obwohl sich die Aufmerksamkeit wohl eher auf das Essen und die Menschen, mit denen man isst, konzentriert, schweift der Blick auch in die Umgebung, nimmt diese wahr und erkundet sie sogar. Bei der Konsumation, so wie wir sie in dieser Kategorie beschrieben haben, vermuten wir eine noch stärkere Aneignungsform als bei den bisher behandelten Kategorien. Die intensivere Aneignung orten wir dort, wo sich allem voran Gruppen regelmässig und jeweils für einen längeren Zeitraum niederlassen und dabei nicht einmal unbedingt etwas essen, sondern sich vielmehr zum Konsumieren von (alkoholischen) Getränken treffen. Sie besetzen ein klar abgestecktes Territorium, und es ist davon auszugehen, dass sie sich mit diesem Ort zumindest ansatzweise identifizieren ("ihr" Park, "ihre" Sitzbank). Sie haben dort eine relative Handlungsfreiheit, sind stark auf sich, auf ihre Gruppe bezogen und grenzen sich damit, vielleicht unbewusst gegenüber andern Nutzer/innen ab.
91
Wird wohl auch beim Transit oder Flanieren vorkommen, konnte jedoch von uns nicht beobachtet werden. 79
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Im weitesten Sinne kann das gar zur Vertreibung von andern Nutzer/innen des öffentlichen Raums führen. Abstellen von Fahrzeugen: Auch die Benutzung von Fahrzeugen, allem voran Autos, und das Abstellen derselben im öffentlichen Raum, stellt, abgeleitet von den Ebenen der Aneignung nach Tessin, eine starke Form der Aneignung dar. Die im Raum abgestellten Fahrzeuge benötigen viel Platz, nötigen andere Nutzer/innen des Raums auszuweichen und behindern somit den natürlichen Bewegungsfluss im Raum. Wie bereits im Beschrieb der Kategorie Abstellen von Fahrzeugen aufgezeigt, sind in den allermeisten Fällen die Fahrzeuge illegal parkiert. Zwar ist die Verweildauer der einzelnen Fahrzeuglenker/innen oft eher kurz, doch wird dieser Umstand durch die Frequenz, in der einige von uns beobachtete Räume mit Fahrzeugen aufgesucht werden, wieder weitgehend ausgeglichen. Eine etwas verquere Form der Aneignung ist das Vorfahren mit dem Auto und dann vor Ort im Auto sitzenzubleiben: Man eignet sich so mit seinem Fahrzeug den Raum stark und in einer Selbstverständlichkeit an, scheint den Raum aber nicht einmal wahrzunehmen oder wahrnehmen zu wollen (ausser als grossen Parkplatz vielleicht). Einkaufs- und Dienstleistungsangebote vor Ort: Da in den von uns beobachteten öffentlichen Räumen oft mit Fahrzeugen eingekauft wird, gilt das oben Beschriebene auch für die in dieser Kategorie subsumierten Beobachtungen. Gleichzeitig wird der Raum über das In-Gebrauch-Nehmen der Einkaufs- und Dienstleistungsinfrastruktur angeeignet. Begegnung mit Fremden und Fremdem: Um mit Fremdem oder Fremden in Kontakt zu treten, muss die Umwelt überhaupt zuerst einmal wahrgenommen werden. In den meisten Beobachtungen, die wir hier zugeordnet haben, begegnen einander Menschen. Mittels Interaktion mit andern Menschen wird der "soziale Raum"92 handelnd erschlossen und somit auch angeeignet. Wer sich auf Fremde oder auf Fremdes ganz allgemein einlässt, setzt sich mit der Umwelt auseinander und interpretiert sie. Die in dieser Kategorie zusammengefassten Beobachtungen zeigen anschaulich auf, dass Aneignung immer auch ein (sozialer) Prozess ist. Begegnung mit Bekannten und Bekanntem: Eine deutlich prozesshafte Aneignung lässt sich auch anhand dieser Kategorie ableiten. Wie stellten bei den hier zugeordneten Beobachtungen fest, dass Nutzer/innen öffentlicher Räume gerne in Gesellschaft aufsuchen oder aber sich dort mit andern treffen. Mitbedingt durch die Menschen, mit denen man sich (verabredet oder nicht) in den Raum begibt resp. sich dort trifft, fühlt man sich dort wohl. Oft wird gemeinsam gegessen, geplaudert, gespielt. Der Raum mutiert so zu einem Treffpunkt. Je angenehmer der Raum empfunden wird, je mehr eignet man ihn sich an. Das kann soweit gehen, dass ein öffentlicher Raum oder ein
92
Vgl. Kapitel 3.3 80
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Teil davon zumindest temporär zu "meinem" Ort wird. Geschieht dies, kann von einer hohen Identifikation mit dem Raum ausgegangen werden. Noch mehr als bei den Begegnungen mit Fremden/m wird in dieser Kategorie Gebrauch gemacht von der vorhandenen Infrastruktur (Bänke, Tische, Einkaufs- und Dienstleistungen etc.). Bühne: Wer sich inszenieren will, wer den öffentlichen Raum als Bühne gebraucht, zieht per se einen praktischen Nutzen aus dem Raum. Gehen wir davon aus, dass eine solche Selbstinszenierung sich an ein Publikum wendet, so benötigt dieser Anspruch eine entsprechende Wahrnehmung des Raums und eine Auseinandersetzung mit ihm, um zu wissen, ob da überhaupt ein potentielles Publikum anwesend ist (das unterhalten oder allenfalls provoziert werden kann). Solche Inszenierungen nehmen unter Umständen viel Platz ein, können also raumdominierend sein: Was Bühne (so wie wir sie interpretieren) für die einen, kann im Extremfall Vertreibung für die andern bedeuten. Arbeiten: In der Kategorie Arbeiten unterschieden wir zwischen Arbeiten am öffentlichen Raum und Benutzen des öffentlichen Raums als Arbeitsort. Bezüglich Aneignung fokussieren wir uns auf das Letztere. Die Aneignung findet hier in erster Linie über das In-Gebrauch-Nehmen der vorhandenen Infrastruktur statt: einerseits Bänke und Tische, andererseits bei der Kinderbetreuung Spielplätze und/oder das umliegende Gelände. Bei der Kinderbetreuung ist davon auszugehen, dass Betreuungspersonen mit ihren Kindern den öffentlichen Raum zumindest über eine Zeitspanne mehrmals, gar regelmässig aufsuchen. Damit wird der Raum für sie vertrauter. Der Spielplatz ist vorgegeben, eventuell gibt es zusätzliche bevorzugte Ecken, in denen man sich niederlässt. Dies könnte im Endeffekt zu einer noch stärkeren Aneignung führen - im Sinne einer sprachlichen Zueigen-Machung ("mein" Spielplatz, "unsere" Ecke etc.). Spielen: Kinder erkunden den Raum - einer Entdeckungsreise gleich - besonders oft mit ihren Sinnen: Sie kraxeln auf dem Boden herum, stehen mit ihren Schuhen im Wasser, probieren verschiedene Spielgeräte aus (nicht immer zur Freude ihrer Eltern). Die Spielgeräte, von der Schaukel bis zum Tischtennistisch, werden rege im gedachten Sinn benutzt. Sie werden aber auch umgestaltet, also anders als vorgegeben gebraucht. Eine Art Umnutzung resp. Neuinterpretation findet auch mit nicht primär zum Spielen gedachten "Ausstattungsgegenständen" statt, z.B. mit Steinen, Büschen, Mauern etc.. Wird manchmal zum Spielen nur ein bestimmter, abgegrenzter Bereich des Raums benötigt, sind gewisse Spiele sehr raumeinnehmend, z.B. Frisbee spielen. Mit solchen Spielen können unter Umständen andere Benutzer/innen des öffentlichen Raums verdrängt oder ferngehalten werden. Wir beobachteten jedoch mehr zusätzliche Interaktion zwischen einander vorher nicht bekannten Menschen. So kommen sich gerade Kinder beim Spielen schnell näher. Auf diese Weise wird dem Raum, z.B. einem Sandkasten, Bedeutung zugewiesen. Bedeutungen, die dem Raum zugeschrieben werden, sind ebenfalls eine Form der Aneignung. 81
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Sport: Wer in einem öffentlichen Raum Sport treibt, benutzt diesen bis zu einem gewissen Grad als Trainingsplatz. Einige Sporttreibende halten sich nur relativ kurz auf im Raum (Jogger, Radfahrer/innen), andere wiederum bleiben vor Ort, wobei hierbei vor allem der weiche Untergrund (Rasen) und genügend vorhandener Platz der Grund sein dürfte. Anhand der Beobachtungen ist davon auszugehen, dass der jeweilige öffentliche Raum bewusst zum Sporttreiben ausgesucht wird, was eine vorherige Auseinandersetzung mit ihm bedingt. Beides, die vorherige Auseinandersetzung mit dem Raum wie auch die praktische Benutzung des Geländes, sind gemäss Tessin Zeichen einer Aneignung. Draussen sein: Sich draussen aufzuhalten ist mit Sicherheit ein sinnliches Erlebnis. Man ist dabei verschiedensten Eindrücken und (Umwelt)Einflüssen ausgesetzt. Für viele Menschen dürften ein sonniger Himmel und warme Temperaturen eine Motivation sein, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten. Dabei sind vermutlich im Raum vorhandene Schattenplätze wie auch Orte, um sich hinzusetzen oder hinzulegen und z.B. ein Sonnenbad zu nehmen, wichtige Kriterien für die Auswahl. Die Aneignung findet hier über die Nutzung der Infrastruktur statt. Zudem wird dafür ein Raum ausgesucht, der als angenehm wahrgenommen wird resp. einem als angenehm und entspannt bekannt ist. Indirekte Beobachtungen: Die indirekten Beobachtungen bilden an und für sich keine eigene Kategorie. Wir fassten unter diesem Begriff sichtbare Spuren von Aneignung zusammen, die uns in den jeweiligen Räumen auffielen, jedoch nicht direkt beobachtbar waren93. Die meisten dieser Spuren sind eher weniger erwünschte Aneignungsformen: Sprayereien, mit Klebern übersäte Wände, Graffitis, etc.. Auf diese Art und Weise werden im Raum Zeichen hinterlassen - das Territorium wird quasi markiert und damit auch zueigen gemacht. Wenn (mobile) Bänke verschoben werden, ist dies ebenfalls eine Form von Aneignung, und zwar im Sinne einer Umgestaltung des Raumes. Wir erachten alle in dieser Rubrik subsumierten Beobachtungen als starke Ausprägungen von Aneignung.
6.2.2
Untersuchungsräume und Aneignung
Jeder der von uns beobachteten Räume zeichnet sich einerseits durch eine eigene Gestaltung, Ausstattung und Atmosphäre aus. Andererseits unterscheiden sich die Räume durch die Art und Weise, wie sie benutzt werden. Aufgrund unserer Beobachtungen und der Zuweisung der einzelnen Beobachtungssequenzen zu bestimmten Kategorien können wir nun die Nutzungen in jedem Raum beschreiben. Die folgenden Aussagen beziehen sich jeweils auf die von uns beobachteten
93
Vgl. Kapitel 6.1.16 82
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Zeiträume und sind nicht als generelle Aussagen zu verstehen. Bei der Verdichtung unserer Beobachtungen zu einem sogenannten Nutzungsporträt pro Raum behandeln wir die folgenden Punkte: •
vorkommende Kategorien
•
räumliche Verortung der Kategorien
•
Besonderheiten
•
Fazit bezüglich Aneignung
Jedes Nutzungsporträt ist mit einer illustrierenden Skizze ergänzt.
6.2.2.1 Bachmätteli Die von uns beobachteten Hauptnutzungen des Bachmättelis sind Transit, Begegnung mit Bekannten, Konsumation und Spielen. Wegen der Lage (zentral innerhalb des Quartiers, angrenzend an das Zentrum von Bümpliz und die Busstation) und wegen des direkten Wegs (Ost-West-Verbindung) wird die Anlage häufig zu Transitzwecken durchquert, oft um dann auf den Bus zu gehen. Die Leute gehen i.d.R. im östlichen Teil des Parks auf dem Weg, überqueren die Brücke (=Nadelöhr) um auf der andern Seite, im westlichen Teil des Parks, je nach Richtung, die gewählt wird, abzuzweigen. Einige Leute verlassen dann die befestigten Wege und gehen quer über die Wiese. Die Nord-Süd-Querung haben wir nur vereinzelt beobachten können. Das Bachmätteli dient offenbar gewissen Personen als Treffpunkt und "Stammbeiz" unter freiem Himmel. Diese Gruppe von Leuten hält sich jeweils im näheren Umfeld einer bestimmten Bank direkt bei der Brücke auf. Dabei sitzen die Personen auf der Bank, andere sitzen gegenüber auf dem Boden oder stehen herum. Sie unterhalten sich teilweise relativ lautstark und konsumieren oft alkoholische Getränke. Sie nehmen einerseits durch die Gruppengrösse wie auch durch ihr Verhalten relativ viel Raum ein. Wir haben beobachtet, dass die Gruppe meist etwas in Bewegung ist: Neue Leute stossen zur Gruppe, andere verabschieden sich, man löst sich aus der Gruppe, um die öffentliche Toiletten-Anlage aufzusuchen, Dosen wegzuwerfen, Nachschub an Getränken zu holen, Frisbee auf der Wiese zu spielen etc.. Die räumliche Nähe zur Ver- und Entsorgungsinfrastruktur scheint diesen Ort als Treffpunkt für die Gruppe attraktiv zu machen. Auffällig ist, dass sich die Gruppe an einer eher exponierten, gut sichtbaren Stelle aufhält, wo zudem auch alle Ost-WestTransiter/innen an ihnen vorbei gehen müssen. Vereinzelte Konsumationen von Alkohol unter Bekannten (jedoch nur zu zweit oder zu dritt) haben wir auch bei den übrigen Bänken im westlichen Teil der Anlage beobachten können. 83
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Bei unseren Beobachtungen ist uns aufgefallen, dass der abgeflachte Uferbereich als Spielbereich für Kinder und auch für ihre Begleitpersonen sehr attraktiv ist. Viele Kinder steuern zielstrebig das Ufer an und beschäftigen sich intensiv mit dem Wasser, den Steinen (hüpfen von Stein zu Stein) und dem sandigen Ufer. Auch die Nähe zum Sandkasten ist offenbar interessant. Die Kinder holen Wasser im Bach, um damit im Sandkasten zu spielen. Der Bereich ist nicht sehr gross, und so kommt es zwangsläufig zu Begegnungen zwischen fremden und/oder bekannten Kindern. Der Bereich ist übersichtlich, so dass die Begleitpersonen ihre Kinder auch aus einer gewissen Distanz im Auge behalten können (sie sitzen auf Bänken in der Nähe oder auf Steinen am Uferbereich). Von den vorhandenen Spielgeräten wurde lediglich die Schaukel benützt (einmal von einem Kind, einmal von einer erwachsenen Person). Im Spielbereich westlich des Bachs haben wir nie Kinder beobachten können. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass dieser Bereich im Vergleich zum Ufer schlicht zu wenig attraktiv ist. Eine andere Begründung sehen wir darin, dass die physische Nähe zur Gruppe eine Benutzung dieses Spielbereichs verunmöglicht. Der Uferbereich ist zwar auch nahe, aber durch den Bach, den Zaun und die Bepflanzung abgetrennt. Es scheint fast so, als gäbe es eine ungeschriebene Benutzungsnorm: Spielende Kinder und ihre Begleitpersonen östlich des Bachs - die "Herumhängenden" auf der Westseite des Bachs. Fazit: Das Bachmätteli hat Transit- und Aufenthaltsfunktionen. Viele Leute passieren die Anlage deshalb, weil sie eine direkte Wegverbindung bietet. Diese Art der Benutzung betrachten wir als eher schwache Form der Aneignung. Bei der Benutzung des Bachmättelis durch als Treffpunkt die Gruppe gehen wir von einer starken Aneignung aus94. Diese Leute haben sich bewusst oder unbewusst diesen Ort gewählt. Sie besuchen ihn offenbar regelmässig und benutzen ihn in einer Selbstverständlichkeit, die darauf schliessen lässt, dass sie diesen Ort als "ihren" Ort betrachten. Durch ihre häufige Präsenz und ihre Raumeinnahme prägen sie diesen Ort mit. Eine ebenfalls starke Form von Aneignung orten wir bei den im Bach spielenden Kindern. Die Kinder beschäftigen sich intensiv mit ihrer Umwelt und gestalten diesen Raum im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten um. Die Kinder kennen diesen Ort (steuern ihn zielstrebig an). Wir nehmen an, dass sich auch die Begleitpersonen intensiver mit diesem Ort auseinandersetzen, weil er für ihre Kinder so spannend ist und ihnen eine angenehme Atmosphäre zum Sitzen bietet.
94
Vgl. Kapitel 6.2.1 Konsumation 84
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Nutzungen Bachmätteli
6.2.2.2 Bahnhofplatz Bümpliz Süd Die Nutzungen des Bahnhofplatzes Bümpliz Süd sind im Wesentlichen von den Funktionen des Ortes als öV-Umsteigepunkt und vom vorhandenen Infrastrukturangebot geprägt. Folgende Kategorien haben wir hauptsächlich beobachtet: Transit, Warten, Ausruhen, Konsumation und die Inanspruchnahme des Einkaufs- und Dienstleitungsangebots vor Ort. Die Transit-Bewegungen finden vor allem aus nordwestlicher Richtung (Bümplizstrasse) hin zum Bahnhof und umgekehrt statt. Die Platzgestaltung ist durchlässig und lässt für diese Bewegung verschiedene Möglichkeiten zu (entlang Bümplizstrasse, quer über den Platz oder zwischen der Baum- und Bankreihe hindurch), was die Leute dann auch entsprechend tun. Oft gehen sie quer über den Platz. Einige Male konnten wir auch beobachten, wie die Leute den schmalen Streifen zwischen den Sitzbänken und den Bäumen als Durchgang benutzten. Wegen der schmalen Durchgangsbereite gehen wir davon aus, dass dies nicht so geplant war. Diese Wegführung bildet die direkteste Linie zwischen dem Trottoir Bümplizstrasse und der Unterführung. Wir haben selbst erfahren, dass dieser Durchgang gleich hinter dem Rücken der Sitzenden durch unangenehm für sie ist. Immerhin bieten die Bänke (mit hoher Rückenlehne) einen gewissen "Schutz". 85
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Leute, die auf den Zug warten, tun dies fast immer direkt auf dem Perron und nicht etwa auf dem Platz, obwohl er in unmittelbarer Nähe liegt und man den einfahrenden Zug von dort aus sehen kann. Dabei nehmen die wartenden Leute wenig bis gar keinen Bezug zum Platz. Sie stehen auf dem Perron meist mit dem Rücken zum Platz. Die Bänke und der Platz werden eher von Leuten beansprucht, die auf den Bus warten. Viele setzen sich kurz auf die Bänke. Das Warten direkt bei der Bushaltestelle haben wir weniger beobachten können. Dieser Ort ist sehr exponiert (mitten auf dem Platz) und bietet weder Infrastruktur noch Schutz. Lediglich die etwas verlassen wirkende Fahrplan-Stele zeigt, dass sich hier eine Haltestelle befindet. Die Bänke und der Platz bieten eine gewisse Attraktivität. Wir haben verschiedentlich beobachtet, dass sich Leute für eine kurze Zeit auf die Bänke setzen, bevor sie dann weitergehen. Vielleicht wurden die Leute von den besonderen Bänken und der Aussicht auf ein kleines Sonnenbad angeregt, kurz Platz zu nehmen und sich auszuruhen. Die Konsumation vor Ort fand fast ausschliesslich in Zusammenhang mit dem Avec-Laden statt: Leute kaufen sich etwas im Laden und konsumieren es entweder bei den Bänken oder direkt bei den Bistrotischen vor dem Laden. In einer Sequenz haben wir beobachtet wie der Bahnhofplatz Bümpliz Süd bewusst (fast im Sinne einer Autobahn-Raststätte) zur Verpflegung aufgesucht wurde. Vier Erwachsene kommen mit dem Auto an, parkieren, gehen in den Laden einkaufen, verzehren ihre Einkäufen bei den Bänken, plaudern noch ein bisschen und fahren dann wieder davon. Alles ist nah beieinander (Parkplatz, Laden, Bank). Vielfach benutzen die Konsument/innen auch die Bistrotische direkt beim Avec-Laden, um Getränke zu konsumieren, eine kleine Pause zu machen. Insbesondere gegen Abend habe wir beobachten können, dass man dort gerne noch etwas verweilt. Der Avec-Laden ist nach unsere Beobachtungen gut besucht, sei es für kleine Einkäufe, die direkt konsumiert werden, sei es als Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs an Sonntagen. Gerade sonntags haben wir beobachtet, dass die Nutzer/innen häufig mit dem Auto an den Bahnhof fahren, um dort ein paar Einkäufe zu tätigen. Dabei wird oft illegalerweise gleich vor dem Laden parkiert, was zu Beeinträchtigungen des Transitverkehrs führt. Fazit: Auch wenn der Bahnhofplatz Bümpliz Süd in der Regel zu einem bestimmten Zweck aufgesucht wird (öV, Avec-Laden), bietet er gewisse Qualitäten, die zum Aufenthalt anregen (Bänke, Gestaltung, Belebung). Bei reinem Transit gehen wir von einer schwachen Form der Aneignung aus. Ist der Transit jedoch mit Warten auf den Bus/Zug verbunden, führt er zu einer Erhöhung der Aneignung. Auf dem Bahnhofplatz Bümpliz Süd passiert dies in Form des Erkundens des Raums und des praktischen Nutzens der vorhandenen Infrastruktur. Der Avec-Laden prägt den Raum in star86
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
kem Masse. Zur Frage, inwiefern der Avec-Laden Einfluss auf die Aneignung des Raums nimmt, haben wir verschiedene Vermutungen. Zum einen identifizieren wir eine Benutzerschaft, die lediglich den Laden aufsucht und dazu Platz nur im Sinne des Transits durchquert, also eine eher schwache Form der Aneignung. Das damit oft einhergehende illegale Parkieren, also ein Stück des öffentlichen Raums zu besetzen, es der Öffentlichkeit zeitweise zu entziehen und dabei die Öffentlichkeit noch zu behindern, betrachten wir als starke Form der Aneignung. Der Laden beeinflusst den Raum aber auch in dem Sinne, dass die Leute dort Gekauftes vor Ort konsumieren: Dadurch kommt es zu einer stärkeren Aneignung (Benutzen der Infrastruktur, evt. längeres Verweilen). Wir vermuten, dass der Laden stark zur Identitätsbildung des Ortes beiträgt. Nutzungen Bahnhofplatz Bümpliz Süd
87
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
6.2.2.3 Cäcilienplatz Der Cäcilienplatz gliedert sich in zwei völlig unterschiedliche Teile. Entsprechend verschieden hinsichtlich Art und Intensität sind auch die beobachteten Nutzungen. Der Platz wird hauptsächlich zur Konsumation und zum Transit genutzt, der Spielplatz hingegen wird intensiv als Spielort beansprucht. Der Platz selbst wurde während unseren Beobachtungszeiten nicht rege aufgesucht. Ab und zu haben ihn Leuten transitmässig überquert. Er ist für Fussgänger/innen einigermassen durchlässig, und so wählen viele Leute, statt dem Trottoir entlangzugehen, eine direktere Linie über die Platzfläche. Selten bis nie sahen wir auf den vorhandenen Bänken jemanden sitzen. Einzig um die Mittagszeit waren einige Leute anzutreffen, die dort ihre Mahlzeit zu sich nahmen. Doch bevorzugen viele Leute auch dann den Spielplatz. Mögliche Erklärungen sehen wir darin, dass die Bänke recht exponiert sind. Entweder hat man den Fussweg oder die Strasse im Rücken. Zudem ist auch die Sicht auf das Ladengebäude nicht gerade eine Augenweide, und der Lärm der vorbeifahrenden Autos und Trams ist gut hörbar. Der Spielplatz zeichnet sich dadurch aus, dass er auf kleinem Raum viele Möglichkeiten zum Spiel anbietet. Zum einen gibt es die klassischen Spielgeräte (Schaukel, Wippe, Kletterkarussell, Sandkasten etc.). Zum anderen regen die unterschiedlichen Bereiche mit den verschiedenen Böden zum Spiel an (Wiese, waldartiger Bereich mit Büschen, Bäumen und Trampelpfaden). Es gibt auf kleinem Raum vieles zu entdecken. Die Kinder beanspruchen denn auch den ganzen Raum und lassen sich von den verschiedenen Möglichkeiten animieren. Dabei machen sie auch vor jenen Bereichen nicht Halt, die "offiziell" nicht zum Spielen gedacht sind, z.B. nicht vor dem unordentlichen Zwischenbereich zwischen Treffgebäude und dem WC. Der Spielplatz ist jedoch eher klein, sehr raumgreifende Spiele sind also nicht gut möglich. Die spielenden Kinder werden oft beaufsichtigt. Daraus ergibt sich also auch eine Nutzung des Spielplatzes als Arbeitsort. Wie oben erwähnt wird der Spielplatz auch zur Konsumation aufgesucht. Zur Mittagszeit nutzen die Leute diese kleine grüne Oase als Pausenort. Der Steintisch ist dazu sehr beliebt. Andere Leute nehmen auf den Bänken (zwei davon sind verschiebbar) Platz oder setzen sich auf die Wiese. Fazit: Der Platz selbst erfährt wenig konkrete Aneignung. Als Transitraum ist er sicher angenehm und bietet den Leuten sogar eine gewisse Abwechslung (gehen auf dem Kies, Bäume, beobachtetes Spiel mit Blumen und Pfosten). Im Vergleich zum etwas höher gelegenen Spielplatz bietet er jedoch deutlich weniger Aufenthaltsqualität. Beim Spielplatz hingegen erfolgt die Aneignung durch 88
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
die intensive Benutzung der Infrastruktur (Benutzung der Bänke, der Wiese, der Spielgeräte etc.) und das spielerische Erkunden und Umgestalten des Raums. Die Verschiedenartigkeit auf kleinem Raum und eine gewisse Gestaltbarkeit des Raums unterstützen diese intensivere Form der Aneignung. Nutzungen Cäcilienplatz
89
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6.2.2.4 Monbijoupark Der Monbijoupark ist stets stark frequentiert und wird sehr vielseitig benutzt. Die von uns beobachteten Hauptnutzungen sind Begegnung mit Bekannten/m und Fremden/m, Konsumation, Spielen, Ausruhen, Beobachten und Transit. Der Monbijoupark besteht aus zwei Teilbereichen95: einem nördlichen Bereich mit Spielplatz, Sinnesgarten, Grillplatz und grosser Wiese und einem südlichen Bereich mit kleinen Wegen, vielen Sitzbänken und meist naturbelassener Wiese. Da der Park eine ansehnliche Grösse hat, haben wir nur den nördlichen Bereich untersucht und bezüglich Nutzung beurteilt. Da der Park eine direkte Ost-West Verbindung zwischen Mühlematt- und Monbijoustrasse bietet, wird er öfters als reiner Transitraum benutzt. Viele Menschen, die diese Grünanlage aufsuchen, bleiben eine Zeit lang vor Ort, treffen sich mit andern Menschen oder kommen schon zu zweit oder in Gruppen an. Die reichhaltig vorhandenen Sitzgelegenheiten und Tische, die Wahlmöglichkeit, am Schatten unter einem der riesigen Bäume oder aber auf der Wiese an der Sonne Platz zu nehmen, sich zu unterhalten oder sein Mittagessen einzunehmen, erklären unter anderem die Beliebtheit des Monbijouparkes als Treffpunkt. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere über die Mittagstunden zahlreiche Leute aus den umliegenden Büros den Weg hierher finden. Gegen Nachmittag erscheinen vermehrt Eltern mit ihren Kindern. So wird der Monbijoupark auch als vielseitiger Spielort aufgesucht. Der Park bietet verschiedenste Spielmöglichkeiten: Spielgeräte wie Schaukeln und Rutschbahnen, einen Sandkasten, einen Tischtennistisch und, sehr gerne benutzt, eine grosse Wiese, wo sich Nutzer/innen darauf austoben können. Alle genannten Spielbereiche sind für die Beaufsichtigenden gut überblickbar. Auch sind diese Bereiche relativ gut und klar von der Strasse abgegrenzt. Die vorhandene WC-Anlage erleichtert und ermöglicht es, dass man sich hier problemlos einen ganzen Nachmittag aufhalten kann. Als eine Besonderheit des Monbijouparkes erscheint uns die Tatsache, dass dieser Raum ermöglicht, einerseits in Kontakt zu treten mit andern, einem unbekannten Menschen, andererseits aber auch zurückgezogen für sich sein zu können, um sich bspw. einfach auzuruhen. Man kann je nach Lust Neues entdecken und kennenlernen oder aber seinen Gedanken nachhängen und/oder abgeschottet von der Umwelt ein Buch lesen. Der Raum bietet allein durch seine Ausdehnung (genug Platz für alle), die Topografie (gute Überschaubarkeit) und die Einteilung in verschiedene Bereiche (Bereich mit Sandkasten, Bereich mit Grill etc.) die ideale Voraussetzung für eine so vielfältige Nutzung.
95
Vgl. Kapitel 5.4 90
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Die grundsätzlich gute Durchmischung der Nutzer/innen, von Babys bis älteren Menschen, Ausländer/innen und Schweizer/innen etc., trägt unseres Erachtens zum angenehmen Ambiente bei, wie wir es in diesem Park orten: Es ist immer etwas los, es gibt viel zu beobachten; die Häufung von Menschen verschiedenster Couleur und unterschiedlichen Alters vermittelt ein Gefühl von Sicherheit. Kehrseite dieser umfangreichen Nutzung sind das Abfallproblem und die Abnutzung der Anlage (muss nicht zwangsläufig durch Vandalismus verursacht sein). Dem kann nur durch regelmässige Reinigung und intensiven Unterhalt begegnet werden. Ein weiteres Manko orten wir beim Angebot für Jugendliche. Diese Gruppe war zumindest bei unseren Beobachtungen eher untervertreten. Waren dann doch einige Jugendlich anwesend, hängten sie oft auf dem Kinderspielplatz herum. Wir denken, dass den Bedürfnissen auch von Jugendlichen besser Rechnung getragen werden müsste, gerade in einer sonst so vielfältigen Anlage wie dem Monbijoupark. Fazit: Keiner der von uns beobachteten Räume wird so rege und vielschichtig benutzt wie der Monbijoupark. In keinem Untersuchungsraum ist das Publikum so verschiedenartig wie dort: Familien und Büroleute, Menschen aus verschiedenen Kulturen und Generationen nutzen diesen Raum intensiv und für uns ohne sichtbare Schwierigkeiten. Die vorhandene Infrastruktur wird rege benutzt, sei dies beim Spielen, Konsumieren, Ausruhen oder Beobachten. Beim Spielen und beim Beobachten wird der Raum zusätzlich sinnlich wahrgenommen und erkundet. Das In-Gebrauch-Nehmen des vorhandenen Nutzungsangebots sowie die Auseinandersetzung mit dem Raum sind bereits intensivere Formen der Aneignung. Beim Spielen kommt dazu, dass zum Teil Spielgeräte, aber auch andere Ausstattungsgegenstände wie z.B. Steine, Mauern etc. neu interpretiert und umgenutzt werden. Spiele, so stellten wir in der entsprechenden Kategorienbeschreibung96 fest, sind unter Umständen recht raumeinnehmend, und die Spielenden erleben so nochmals eine Steigerung der Aneignung. Der Monbijoupark ist ein geeignetes Beispiel prozesshafter Aneignung, indem sich hier viele Menschen verabreden oder neue Bekanntschaften schliessen. Es muss einem schon wohl sein, wenn man sich gezielt mit andern Menschen auf einen bestimmten Ort, aber auch auf fremde Menschen einlässt. Gerade bei Gruppen, die sich im Park niederlassen, dort über Mittag oder am Abend picknicken, den Raum schon gut zu kennen scheinen (u.a. sichtbar, wenn ein Platz im Raum zielstrebig angepeilt wird), dürfte die Aneignung ausgeprägt sein, die bis hin zu einer Identifizierung mit dem Raum führen kann, dann nämlich, wenn von "meinem" Park oder "unserem" Platz gesprochen wird.
96
Vgl. Kapitel 6.1.13 91
Aneignung des öffentlichen Raums, Nathalie Herren, Franz Reber, MAS GSR III, 2005-2007
Nutzungen Monbijoupark
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6.2.2.5 Bahnhofplatz Boll-Utzigen Dreh- und Angelpunkt auf dem Bahnhofplatz Boll-Utzigen ist der Kiosk (einziger Kiosk im Dorf). Er wird rege aufgesucht. Zu einem hohen Prozentsatz fahren die Nutzer/innen des Bahnhofplatzes mit dem Auto vor. Die Autos werden meistens direkt neben oder in unmittelbarer Nähe des Kiosks abgestellt. Selbst Bahnreisende werden oft mit dem Auto an den Bahnhof gebracht oder von dort abgeholt. So herrscht die ganze Zeit über reger Verkehr auf dem Platz. Dieser Verkehr scheint niemanden weiter zu stören. Nicht einmal der Postautochauffeur, der mit seinem Wagen dem Bahnhof vorgelagert auf Passagiere wartet (Postautokurs Boll Dorf - Utzigen), nimmt Anstoss daran, obwohl er zum Teil vom Verkehr und v.a. von den parkierten Autos behindert wird. Neben dem Kiosk werden auch öfters der Postomat und der Selectaautomat benutzt und, jedoch weniger, die öffentliche Sprechanlage und der Briefkasten. Einige Leute nehmen gleich mehrere Angebote im Raum wahr: Geldbezug am Postomaten, Zigaretten kaufen beim Kiosk und noch schnell einen Brief in den Briefkasten einwerfen. Was sich bereits beim Benutzen des Einkaufs- und Dienstleistungsangebotes auf dem Platz abzeichnet, wird durch den öffentlichen Verkehrsanschluss noch bestärkt: Der Bahnhofplatz BollUtzigen ist ein ausgesprochener Transitraum. Lange hält sich hier niemand auf. Bedingt durch den Viertelstunden-Taktplan sind auch die Wartezeiten auf die Bahn von kurzer Dauer. Neben einer unbequemen Betonbank vor dem Kiosk gibt es nur noch den Bahnperrons entlang Sitzgelegenheiten. Der ganze Raum dehnt sich der Länge nach aus und ist eigentlich von keinem Standort aus gut überschaubar. Durch den ständigen Verkehr wirkt er zudem unruhig. All dies mögen Gründe sein, wieso der Bahnhofplatz Boll-Utzigen neben den genannten Autofahren wenig bis gar nicht benutzt wird. Eine Ausnahme punkto Benutzung des Raums bilden die Abend- und Nachtstunden: Von unseren Lokalkenntnissen her wissen wir, dass der Bahnhof abends manchmal von Jugendlichen als Treffpunkt genutzt wird. In unseren Beobachtungen haben wir bei der Laderampe des Bahnhofs eine Harasse (angeschrieben mit "Flaschen/Büchsen/Pet") mit leeren Alkohol- und Süssgetränkeflaschen und eine grosse Konservenbüchse voll mit Zigarettenkippen entdeckt. Die Harasse und die Büchse wurden von der Gemeinde Vechigen installiert - ein recht erfolgreicher Versuch, das Litteringproblem um den Bahnhof im Griff zu behalten. Fazit: Durch das fast durchgehend wilde Parkieren der Fahrzeuge wird der Raum stark angeeignet. Fussgänger/innen müssen stets auf den Verkehr achten und den parkierten Autos ausweichen. In Zusammenhang mit den zirkulierenden und parkierten Autos steht das kleine, aber rege benutzte Einkaufs- und Dienstleistungsangebot, das der Bahnhofplatz Boll-Utzigen bietet. 93
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Wir sind der Meinung, dass sich die Nutzer/innen dieses Raumes nicht sonderlich eingeladen fühlen, sich dort aufzuhalten. Ohne Kiosk wäre sehr wahrscheinlich überhaupt nichts los auf dem Platz. Der Raum ist in erster Linie rein funktionaler Natur (Transitraum) mit wenig Aufenthaltsqualität. Erstaunlicherweise scheint der Raum jedoch nachts Reiz zu gewinnen. Wir vermuten, dass die nicht direkt an Wohnraum grenzende und zugleich zentrale Lage wesentliche Gründe sind, warum dieser Raum von Jugendlichen zu später Stunde aufgesucht wird. Wer mit der Bahn unterwegs ist, kann sich vor oder nach dem Ausgang auf der Rampe hinter dem Bahnhof niederlassen und leicht geschützt in deren Nische legale oder nicht ganz legale Substanzen konsumieren. Dieser inoffizielle Treffpunkt, der vielleicht gar als eine Art "Freiluftjugendtreff" bezeichnet werden könnte, bedeutet eine starke Aneignung des Platzes. Nutzungen Bahnhofplatz Boll-Utzigen
6.2.2.6 Dorfplatz Boll Der Dorfplatz Boll dient den Leuten in erster Linie als Erschliessungsfläche zu den hier versammelten Versorgungsangeboten. Praktisch die ganze Infrastruktur des Dorfes ist auf kleinster Fläche und daher ohne grosse Wegverluste erreichbar. So haben wir denn auch beobachtet, dass die Leute im selben Gang mehrere Angebote aufsuchten, z.B. zuerst in die Migros, dann auf die Post und danach noch in die Drogerie gingen.
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Meistens verlassen die Leute nach ihrem Einkauf den Raum schnell wieder. So entsteht der Eindruck eines ständigen Kommens und Gehens. Manchmal wird der Dorfplatz auch nur als Transitraum benutzt. Die Konzentration der Angebote an einem Ort macht es jedoch wahrscheinlicher, dass man auf andere Leute, seien sie bekannt oder fremd, trifft. Man grüsst sich, und manchmal konnte beobachtet werden, dass auch ein kurzes Gespräch stattfand. Wenig beobachten konnten wir die Benutzung der direkt auf dem Platz vorhandenen Möblierung. Selten setzte sich jemand auf die Bänke. Allein der Brunnen diente ab und zu einem Kind als Spielgelegenheit. Genau wie auf den beiden untersuchten Bahnhofplätzen (Boll-Utzigen und Bümpliz Süd) erledigen auch auf dem Dorfplatz Boll viele Leute den Einkauf mit einem Fahrzeug. Da der Dorfplatz grundsätzlich nicht für Autos zugänglich, sind die benutzen Fahrzeuge im Gegensatz zu den beiden andern Räumen praktisch ausnahmslos Fahrräder und Mofas. Die zentrale Lage und das Versorgungsangebot beleben diesen öffentlichen Raum tagsüber. Wenn dann die Läden und das Café geschlossen werden, leert sich der Platz schnell. Aus unseren Lokalkenntnissen wissen wir, dass er abends praktisch ausgestorben ist. Ab und zu nutzen ihn ein paar Jugendliche als Treffpunkt was vorwiegend in den frühen Abendstunden (nach Schulschluss) geschieht. Wir vermuten, dass eine Nutzung des Platzes nach dem Eindunkeln nicht mehr unbedingt erwünscht ist. Um den Platz und über den Geschäften sind diverse Wohnungen angeordnet. Der Dorfplatz ist in seiner Geschlossenheit auch ein bisschen Innenhof dieser Wohnungen. Somit ist er zwar öffentlicher Raum, hat aber auch einen privaten, sogar intimen Charakter. Fazit: Der Dorfplatz wird hauptsächlich über die Benutzung des Einkaufs- und Dienstleistungsangebotes angeeignet. Es sind dann auch in erster Linie diese Läden und Dienstleister (Gemeindeverwaltung, Coiffeur, Zahnarzt etc.), die diesen Ort prägen und zum Aufsuchen veranlassen. Eine starke Aneignung erlebt der Raum durch das Parkieren von Fahrrädern und Mofas. Diese werden vor allem vor der Migros abgestellt. Die Jugendlichen fahren mit den Mofas vor die Migros, stellen ihre Fahrzeuge dann aber direkt vor der Sitzbank ab, die sie benutzen (ebenfalls in unmittelbarer Nähe zur Migros). Ausser den Jugendlichen dient der Raum ab und zu auch andern Nutzer/innen als Begegnungsstätte. Die Begegnungen scheinen jedoch eher zufälliger Natur zu sein. Es ist davon auszugehen, dass in einem Dorf in der Grösse von Vechigen die Wahrscheinlichkeit gross ist, jemanden Bekannten zu treffen - eventuell rechnet man gar damit. Eine sinnliche, erhöhte Aneignung erlebt der Dorfplatz dank spielenden Kindern. Zum Spielen dient der Brunnen mit seinen Wasserfontänen oder der Platz als solches zum herumrennen. Wegen der sehr überschaubaren Grösse haben die Eltern ihre Kinder immer im Blickfeld. Die Strasse 95
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ist von den um den Platz gereihten Gebäuden zwar gut erreichbar, der Platz ist aber trotzdem abgeschirmt. Nutzungen Dorfplatz Boll
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Empfehlungen im Umgang mit öffentlichen Räumen
Aus der vertieften Auseinandersetzung mit den sechs ausgewählten Untersuchungsräumen sowie aus den Theoriestudien zu den Themen öffentlicher Raum und Aneignung sollen in diesem Kapitel Schlussfolgerungen im Hinblick auf Prozesse der Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung GSR gezogen werden. GSR-Prozesse dienen uns dabei als übergeordnete Ebene, aus der wir auf die Themen öffentlicher Raum und Aneignung blicken wollen. So verschiedenartig GSR-Prozesse auch sein mögen, eine wesentliche Gemeinsamkeit liegt in der räumlichen Relevanz. Nahe liegend also, dass auch öffentliche Räume von GSR-Prozessen tangiert werden. Als weitere Erkenntnisquelle dienen uns für dieses Kapitel drei Experteninterviews, die wir im Juni 2007 geführt haben. Als Gesprächspartner standen uns Martin Beutler (sozialer Plastiker, Kulturmanager und Architekt), Alfred Kriesten (Prof., Dr. rer. soc., Soziologe, Dozent an der HSA Bern) und Werner Reber (ehemaliger Bauverwalter der Gemeinde Vechigen) zur Verfügung. Öffentliche Räume sind ungleich In Kapitel 2 sind wir ausführlich auf die Aspekte, die Komplexität und die Spannungsfelder des öffentlichen Raums eingegangen. Wir haben aufgezeigt, welchen Kräften der öffentliche Raum ausgesetzt ist. Die Untersuchung und detaillierte Porträtierung der sechs ausgewählten Räume aus verschiedenen Teilen der Stadt und aus einer Landgemeinde zeigen die Verschiedenartigkeit von öffentlichen Räumen auf: Sie differenzieren sich einerseits rein durch die Art und Weise, wie sie gestaltet und ausgestattet sind, durch ihre Lage, Grösse etc. Andererseits unterscheiden sie sich sehr stark durch die Art und Weise, wie sie von wem genutzt werden (können), was wo möglich, erlaubt, erwünscht, toleriert ist. Diese Vielzahl an Differenzen führt uns zur Aussage, dass öffentliche Räume ungleich sind und deshalb auch differenzierend zu behandeln sind. Erst eine vertiefte Auseinandersetzung, wie wir sie z.B. betrieben haben, erschliesst die Funktion, die Symbolik, die Schwächen und Stärken eines Raums. Durch eigenes Erleben vor Ort, Beobachten, durch Gespräche mit Nutzer/innen, Erkundung des angrenzenden Milieus wird es möglich, einen Raum in seiner Komplexität zu erfassen.
Ö Öffentliche Räume sind in GSR-Prozessen immer von Bedeutung. Sie sind pro Raum differenziert zu analysieren und zu behandeln.
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Auf dem Land ist es anders Öffentliche Räume werden in der Literatur oft selbstredend mit Stadt in Verbindung gebracht97. Explizite Literatur über ländliche oder eher ländlich geprägte öffentliche Räume ist uns praktisch nicht begegnet. Wir vermuten in der theoretischen Auseinandersetzung, aber auch in der Praxis, wie mit öffentlichen Räumen ausserhalb der Stadt umgegangen werden soll, ein gewisses Manko. Bestimmte Mängel haben wir bei den beiden Untersuchungsräumen in der Gemeinde Vechigen entdeckt (vg. Kapitel 5.5 und 5.6). Der ehemaligen Bauverwalter Reber (Interview, 25. Juni 2007) vermutet, dass man sich zu wenig Gedanken darüber gemacht hat, was es braucht, damit ein Dorfplatz funktioniert. Man erhoffte sich bei der Planung sicherlich mehr ständige Aktivitäten, als dies heute der Fall ist. Der Dorfplatz sollte als Zentrum dienen und dem Dorf gehören. Man siedelte praktisch alle Läden und Infrastrukturen rund um den Platz an. De facto gehört der Platz aber eher zu den Läden, zum Café, zu den Wohnungen als zum Dorf. Er ist nicht gleichermassen öffentlich wie z.B. der Bärenplatz in Bern. Im Sinne einer differenzierten Betrachtung (siehe oben) sind öffentliche Räume in nichtstädtischen Umfeld bisher vermutlich zu wenig auf ihre Symbolik, Funktion, Aneignungsfähigkeit und identitätsstiftende Wirkung hin untersucht und bearbeitet worden.
Ö GSR-Prozesse berücksichtigen die Besonderheiten des Umfelds, insbesondere die nichtstädtischen Eigenheiten sind zu erforschen und in die Betrachtungen mit einzubeziehen. Die sichtbare Nutzung ist bloss die halbe Wahrheit Öffentliche Räume werden verschiedenartig genutzt. Nur schon unsere Untersuchung hat uns auf fünfzehn verschiedene Kategorien gebracht, in die wir die Beobachtungen hinsichtlich ihrer Nutzung geordnet haben. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kategorien und der Frage, was die einzelnen Kategorien mit dem Begriff der Aneignung zu tun haben98 zeigt, dass die Stärke der Aneignung pro Kategorie unterschiedlich ist und auch innerhalb der einzelnen Kategorie unterschiedlich sein kann. Mit anderen Worten: Warten ist nicht gleich Warten, Konsumieren nicht gleich Konsumieren. Bspw. kann Warten (muss aber nicht) zu einer erhöhten Aneignung führen, wenn bspw. ein Raum aus der Langeweile heraus erkundet wird. Diese Bandbreite an "Aneignungsintensitäten" innerhalb derselben Kategorie macht es demnach unmöglich, eine gewisse Nutzung direkt mit Aneignung gleichzusetzen.
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Vgl. Kapitel 2.4 Vgl. Kapitel 6.2.1
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Daneben gilt es zu berücksichtigen, dass die Aneignung zu einem wesentlichen Teil ein mentaler Prozess99 ist, der nur bedingt an einer bestimmten Handlung im Raum sichtbar wird, also nicht in jeden Fall beobachtbar ist. Es wäre demnach falsch, lediglich anhand der vorkommenden Nutzungen im öffentlichen Raum auf eine starke oder schwache Aneignung zu schliessen.
Ö Nutzung ist nicht mit Aneignung gleichzusetzen. Wenn die Aneignung des öffentlichen Raums ein Ziel eines GSR-Prozesses sein soll, muss über die reine Betrachtung der Nutzungen (Was passiert wo?) hinausgegangen werden. Der Ruf nach Identifikation Trotz aller vorangehend geforderten Differenzierung erlauben wir uns thesenartige Erkenntnis: Je höher die Aneignung, desto höher die Identifikation. Wir vermuten, dass die "Aneignungsfreundlichkeit" eines Ortes die Basis für die Identifikation der Nutzer/innen mit einem Ort bildet. Beutler (Interview, 25. Juni 2007) meint zum Aneignungsbegriff: "Aneignung heisst für mich, dass ich die Bedeutung des Raums, die ich erkenne, im Raum umsetzen und zum Leben erwecken kann." Diese individuelle Gestaltbarkeit erwähnt auch Kriesten (Interview, 18. Juni 2007): "Die Aneignung von Raum bedeutet, dass ich die Möglichkeit habe, Räume mit zu gestalten." Nach Tessin ist "Umgestalten" eine starke Form der Aneignung. Er führt sie als fünfte von sechs Ebenen auf100. Ohne den Begriff der Identifikation in unserer Arbeit näher betrachtet zu haben, gehen wir doch von einem starken Zusammenhang zwischen Aneignung und Identifikation.
Ö In der Planung und wohl auch in GSR-Prozessen wird oft der Begriff der Identifikation angeführt. Um Identifikation zu erreichen, müssen u.a. aneignungsfreundliche Räume geschaffen werden. Was fördert, was hindert... Erste Voraussetzung für die Aneignung des öffentlichen Raums ist, dass es überhaupt derartige Räume gibt. Mit dem steigenden Nutzungsdruck in den Siedlungsräumen gehen zunehmend Flächen verloren, oder sie werde in ihrer Nutzung dahingehend "optimiert", dass sie bestimmten (kommerziellen) Zwecken dienen (eine Wiese wird zum Fussballplatz, ein Stadtplatz wird zur Aussenbestuhlungsfläche der Restaurants etc.). Kriesten (Interview, 18. Juni 2007) meint dazu: "Der Boden ist ein knappes Gut und nicht vermehrbar. Es regieren die Gesetze des Kapitals, die Bodennutzung erfolgt unter dem Primat der Ökonomie." Einen guten Ansatz, um mit dem knappen Gut umzugehen, bietet die Form der Zwischennutzung von Brachflächen. "Das Bestreben nach verdichteter Nutzung begünstigt aber auch die Entstehung
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Vgl. Kapitel 3.3 Vgl. Kapitel 3.2
100
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von Brachflächen. ... Solche Areale haben ein hohes Potenzial als Sozial- und Naturraum. Werden sie klug und kreativ (zwischen-)genutzt, können sie den (zu) knappen öffentlichen Raum und das Angebot naturnaher Flächen erweitern und bereichern" (Tschäppeler, Gresch & Beutler, 2007, S. 19). Aneignungsfreundlich sind u. E. Räume, •
die polyfunktional sind,
•
deren Interpretation nicht vorgegeben ist,
•
die nicht durchorganisiert sind,
•
die nicht einer bestimmten Gruppe von Nutzenden zugeschlagen sind,
•
die eine gewisse Gestaltbarkeit bieten,
•
in welchen "persönliche" Bedeutungsüberschreibung möglich ist,
•
die weder durch Symbolik noch durch Hierarchien ausschliessen,
•
die eine wohlfühlsame und sichere Umgebung bieten und
•
die Begegnungen, Aufenthalt und Tätigkeiten zulassen.
Ö GSR-Prozesse sollen nach solchen Räumen fragen. Gibt es sie? Wo sind sie? Wie funktionieren sie? Wer benutzt sie? GSR-Prozesse sollen auf allfällige Mankos aufmerksam machen und besonders auf die Potentiale von Brachflächen hinweisen. Gemeinsam geplant ist besser geplant Die Aneignungsfreundlichkeit bildet sich nicht einfach so am Schluss, wenn der Raum fixfertig erstellt ist. Vielmehr sollte der Planungsprozess eines öffentlichen Raums dahingehend gestaltet werden, dass die Nutzer/innen den Ort bereits während des Planungsprozesses als "ihren" Ort betrachten. Kriesten nennt dazu den Begriff des "Aushandelns". "Ich spreche der Partizipation von unten eine grosse Bedeutung zu. Bei der Mitgestaltung, Mitbestimmung müsste sich etwas ändern, indem man mehr miteinander redet, den Typus des Aushandelns ins Zentrum rückt. Im Umgang mit der Bevölkerung ist seitens der Planer/innen das Verständnis der sozialen Arbeit gefragt" (Interview, 18. Juni 2007). Dazu braucht es Personen, die zwischen der Bevölkerung und den Planungsinstanzen vermitteln; Planungsprozesse müssen also moderiert werden. Nach unserem Verständnis braucht es zudem adressatenadäquate Gefässe, um die Ideen, Vorbehalte und Rückmeldungen aus der Bevölkerung aufzunehmen. Allem voran sind die Menschen selber zu befähigen, sich als direkt Betroffene in Planungsprozessen eine Stimme geben zu können - und sich somit von Betroffenen zu Beteiligten zu machen. Eine etwas andere Meinung vertritt der ehemalige Bauverwalter Reber (Interview, 25. Juni 2007): "Planungsprozesse laufen heute sehr öffentlich ab. Dabei kommen viele Meinungen und Interes100
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sen zusammen, und irgendwer setzt sich dann durch. Das ist vielleicht nicht immer im Interesse der Sache, aber das scheint wohl der Preis der Demokratie zu sein. Die Demokratie bringt uns zwar ein abgestütztes Resultat (Gemeindeversammlung), das vermutlich aber nicht immer das beste ist." Als Voraussetzung für partizipative Planungsprozesse nennt Beutler (Interview, 15. Juni 2007) die Ergebnisoffenheit des Prozesse, das Aushalten von "Schwebezuständen" (nicht zu früh eine konkrete Lösung zu formulieren, aber das Unbestimmte, Wunschhafte stehen zu lassen und damit zu arbeiten). Ferner sei wichtig, dass man eine geeignete Sprache und Mittel findet, um an die Bevölkerung zu gelangen. Noch lieber allerdings wäre es ihm, eine Ausgangslage101 zu haben oder zu schaffen, welche die Leute animiert, selber aktiv zu werden, das Heft selber in die Hand zu nehmen und nicht gewissermassen von der Verwaltung "noch etwas partizipiert zu werden". Alle drei Gesprächspartner nennen neben der Partizipation die Interdisziplinarität als Voraussetzung für einen angemessenen Planungsprozess. Reber (Interview, 25. Juni 2007)meint dazu, dass Planungen von verschiedenen Fachleuten gemeinsam gemacht werden sollen, z.B. von Planer/innen, Wirtschaftsleuten, Personen aus dem kulturellen Bereich etc..
Ö GSR-Prozesse sollen neben anderem auch Raum für echte Partizipation bieten, indem man Voraussetzungen und Gefässe schafft, die es der Bevölkerung ermöglichen, selbst aktiv zu werden.
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Als Beispiel hierfür seien die Begegnungszonen aufgeführt. Die Stadt Bern hat den Prozess, wie eine Begegnungszone realisiert werden kann, definiert und Anforderungen festgelegt. Die Initiative muss seitens der Bevölkerung kommen. Als Erstes soll eine Gruppe aus Anwohnenden gebildet werden, die die Idee formuliert und im Quartier verankert (mind. die Hälfte der Anwohnerschaft muss die Idee unterstützen). Ist dies der Fall, wird die konkrete Ausgestaltung zusammen mit der Verwaltung erarbeitet. (Stadt Bern, 2005) 101
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Reflexion
Im Verlaufe unserer (Forschungs)Arbeit sind wir immer wieder auf Fragen gestossen, die die von uns gewählten Methoden und unseren Arbeitsprozess betrafen. Wir wollen in diesem Abschlusskapitel kurz auf die unseres Erachtens wichtigsten Punkte eingehen. Neutralität Zu Beginn unserer Arbeit formulierten wir keine Hypothesen, die dann zu überprüfen gewesen wären, sondern wir wollten möglichst unvoreingenommen und mit einer offenen Haltung einsteigen. Besonders galt dies für die Beobachtungen in den Untersuchungsräumen. Entsprechend gestalteten wir unseren Forschungsprozess und bauten mehrere "Sicherheiten" ein: Die teilnehmenden Beobachtungen stellten wir bewusst ganz an den Anfang unserer Arbeit. Literatur hatten wir bis dahin zwar bereits gesichtet (v.a. über Forschungsmethoden), praktisch jedoch nichts zum Thema Raum und Aneignung gelesen. Wir wollten uns nicht zusätzlich von Theorien im Kopf beeinflussen lassen. Fast alle Beobachtungen machten wir gemeinsam, und auch die Verarbeitung des beobachteten Geschehens (Interpretationen, Datenanalyse) gingen wir gemeinsam an. Unterschiedliche Auffassungen diskutierten wir aus. Eine weitere Absicherung war die strikte Aufteilung der Beobachtungsprotokolle in verschiedene Rubriken. Damit stellten wir eine saubere Trennung zwischen Beobachtungen, persönlichem Eindruck und Interpretationen sicher. Trotz diesen Massnahmen stellten wir auch bei uns "Filter" fest, die unseren Anspruch an Unvoreingenommenheit beeinflussten. Wir gehen davon aus, dass keine Forschung, auch wenn sie sich noch so neutral gibt, im Endeffekt absolut neutral ist. Die Forschenden haben immer eine Haltung, ein (Menschen)Bild im Kopf, wenn sie sich eines Themas annehmen, und bringen dabei ihre Vorstellungen und Werte mit ins Spiel, was sich schliesslich auch auf die Forschungsresultate niederschlagen kann. Wichtig scheint uns, dass man sich diese Haltungen immer wieder bewusst vor Augen führt. Dadurch wird es möglich, das eigene Empfinden, die eigenen Filter nicht nur als "Störung" wahrzunehmen, sondern auch als Erkenntnisquelle zu nutzen (Schumacher, 2007). Grenzen und Chancen teilnehmender Beobachtung Mit der teilnehmenden Beobachtung ist feststellbar, was hör- und sehbar ist. Somit sind in erster Linie Aneignungsformen für Verhaltensweisen produktiv eruierbar, die sich vor Ort, vor unseren Augen zeigten. Der ganze Bereich der mentalen Aneignung (die geistige Auseinandersetzung der Nutzer/innen mit einem Raum) konnte auf diese Weise nicht ergründet werden. Die mentale Aneignung konnte bestenfalls erahnt und in Form von Interpretationen formuliert werden. Trotz diesem Vorbehalt erachten wir es als ein grosses Plus der (verdeckten) teilnehmenden Beobachtung, dass dabei die Natürlichkeit des Geschehens in einem Raum nicht gestört wird: Die beobachteten 102
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Menschen konnten sich so geben, wie sie sind, das tun, was sie gerade tun wollten, ohne sich verstellen oder anders verhalten zu müssen, weil sie sich (offensichtlich) beobachtet fühlten. Andere Arbeitsinstrumente wie bspw. Interviews mit Nutzer/innen wären mit Bestimmtheit spannend gewesen, hätten jedoch einen viel stärkeren Eingriff ins Geschehen bedeutet. Datenauswertung: Wie Daten auswerten? Von der Anlage her ist unsere Arbeit klar darauf ausgerichtet, spezifische Aussagen zu machen, die auf die jeweiligen Räume bezogen Gültigkeit haben. Trotzdem entschieden wir uns bei der Auswertung in einem ersten Schritt vorläufige Kategorien (z.B. Warten, Flanieren etc.) über alle untersuchten Beobachtungsräume zu bilden. Dies ermöglichte uns, die Komplexität der Daten effektiv zu straffen und zu reduzieren, und erlaubte uns, generellere Aussagen zu den Aneignungsformen zu machen. Nachteil dieses Vorgehens ist natürlich, dass dabei die Kategorien weniger spezifisch werden. Ganz grundsätzlich stellt sich für uns die Frage, ob eine andere Vorgehensweise bei der Datenauswertung auch zu andern Resultaten geführt hätte. Einen Königsweg bezüglich Datenauswertung gibt es nicht. Vorteil dieser Offenheit ist, dass ein Verfahren dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand angepasst werden kann. Zurück bleibt die Unsicherheit, was nun die "richtige" Angehensweise gewesen wäre. Die Methodenliteratur beschreibt zwar Vorgehensweisen, sie dann jedoch auf den konkreten Fall zu übertragen, wirft doch einige Fragen auf. Bspw. kann man endlos darüber diskutierten, welche Konzepte sich zu welchen Kategorien verdichten lassen. Es gilt zu anerkennen, dass es bei solchen Auswertungen kein "ganz richtig" oder "ganz falsch" gibt. Vielmehr gilt es abzuwägen und dann aber auch zu entscheiden. In einem Methodenseminar, dass wir vor der Masterarbeit besucht hatten, und im daraus resultierenden Kontakt mit der ausgewiesenen Expertin Christina Schumacher konnten wir offene Fragen diskutieren, was sehr hilfreich war. Teamarbeit Die von uns gewählte Art der Forschung braucht eine rollende Planung und ein relativ grosses Zeitbudget. Die Dauer des Prozesses und die offene Ausgangslage bezüglich Resultate muss ausgehalten werden können. Man läuft zudem häufig Gefahr, sich auf Nebenschauplätzen zu verlieren (es eröffnen sich immer wieder neue Themen). Solche Herausforderungen sind nach unserer Erfahrung in einem Team besser zu lösen. Die Vorgehensweise kann zusammen diskutiert und reflektiert werden. Insbesondere die Auswertungen leben vom dialogischen Aushandeln. Entscheidungen sind breiter abgestützt, und wir mussten argumentativ begründen. Eine optimale Voraussetzung dafür ist sicher fachliche Interdisziplinarität. Von der Methode her ist es unter Umständen hilfreich (z.B. bei der Datenauswertung), wenn mehr als zwei Personen am Arbeitsprozess beteiligt
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sind. Somit könnten die weiter oben erwähnten "Filter" einer zusätzlichen Prüfung unterzogen werden, indem die Daten nochmals breiter diskutiert werden. Weitergehen Ziel der Arbeit war nicht, eine Theorie zu entwickeln, sondern eine "kurze, anwendungsorientierte Erkundungsstudie" (Strauss et al., 1996, S. 18). Dies bedeutet, dass das Datenmaterial noch viel intensiver aufgearbeitet werden könnte. Gerade unsere Interpretationen sind vorläufiger Natur und könnten nun weiter zu Hypothesen verdichtet werden, die dann verifiziert werden könnten. Spannend wäre auch, die Raumaneignung unter dem Aspekt des Gender- oder des Diversity-Ansatzes zu betrachten. So gesehen betrachten wir unsere Untersuchungen als Grundlagenarbeit zum Thema Aneignung des öffentlichen Raums, die durchaus mögliche weiterführende Studien zuliesse.
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Als weitere Informationsquelle dienten uns zudem Gespräche mit: Beutler, Martin (sozialer Plastiker, Kulturmanager und Architekt) vom 25.Juni 2007 www.soziale-plastik.ch Kriesten, Alfred (Prof., Dr. rer. soc., Soziologe, Dozent an der HSA Bern) vom 18. Juni 2007 Reber, Werner (ehemaliger Bauverwalter der Gemeinde Vechigen) 25. Juni 2007
Abbildungen Alle Fotos und Skizzen wurden von uns selbst erstellt.
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Anhang 1. Exemplarisches Beobachtungsprotokoll 2. Übersicht der Beobachtungen 3. Mind Map Kategorien und Konzepte 4. Quantitative Auswertung nach Räumen und Kategorien 5. Interview-Leitfaden 6. CD-ROM (PDF-File des Berichts und Gesamtfile aller Beobachtungen)
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