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Albert Camus' Meisterwerk ‚Die Pest' – vorgestellt von Dr. Dieter Koch am ... Albert Camus Roman ‚Die Pest' gehört zu den Meisterwerken der Literatur des. 20.
Albert Camus’ Meisterwerk ‚Die Pest’ – vorgestellt von Dr. Dieter Koch am 21.1.2010 im Wohnstift Augustinum, Stuttgart-Sillenbuch

O. Einführung in das Werk Albert Camus Roman ‚Die Pest’ gehört zu den Meisterwerken der Literatur des 20.Jahrhunderts. Es ist eine mit höchster literarischer Kunstfertigkeit vorgetragene Studie über die conditio humana, ein Hineindenken in die Bedingungen und Möglichkeiten sich bewährender, sich entfaltender Menschlichkeit im Andrang schwerster Heimsuchungen, ein Erkunden dessen, was trägt, angesichts einer Grenzsituation, wie sie mit dem Ausbruch der Pest gegeben ist. Albert Camus Roman ‚Die Pest’ bildet zusammen mit dem großen philosophischen Essay ‚Der Mensch in der Revolte’ und der Erzählung ‚Der Fall’ so etwas wie das Mittelbild in dem Triptychon seines Denkweges, der ausgehend von der Analyse des Absurden, wie sie ihm im Mythos des Sisyphos und im Roman Der Fremde gelang, weiter schritt zum Ausloten der geistigen Kraft, die uns Menschen der immer mit gesetzten Gleichgültigkeit, Hinfälligkeit und Nichtigkeit im Leben widerstehen lässt, während wir ihn mit seinem Buch ‚Der erste Mensch’ auf dem Weg sehen, eine Synthese zu entfalten, eine Philosophie des Maßes, durchtönt von tiefer Empathie und einem Geist der Versöhnung. Albert Camus „Roman hat eine bemerkenswerte Dichte mit einer Handlung auf mehreren Ebenen. Zunächst ist es die von einem Arzt erzählte Chronik einer Epidemie…dann auch der Bericht eines Psychologen und Moralisten, der die individuellen Reaktionen (Egoismus, Misstrauen, Trennungsschmerz) und die kollektiven Verhaltensweisen (Flucht in Aberglauben oder Lust, Anpassung an das Eingesperrtsein, Versuche, die Stadt zu verlassen) analysiert. Nach und nach lernen alle ihre Lektion, im Unglück solidarisch zu sein“(Nadeau nach Königs Erläuterungen S.92) Doch ist diese stets in sehr zurückhaltendem Ton gebotene Darstellung tragisch grundiert und strukturiert. Das Werk folgt dem klassischen Aufbau einer Tragödie in 5 Akten wie „den drei Einheiten der klassischen französischen Tragödie, die diese aus der Poetik des Aristoteles abgeleitet hatte: Die Begegnung der Menschen mit dem Außerordentlichen, dem über sie hereinbrechenden Schicksal in Form der Pestepidemie, ist die einheitliche und chronologisch entwickelte Handlungslinie. … (Die Stadt) Oran ist Handlungsbühne und facettenreiches Zentralsymbol. Die Handlung vollzieht sich in einem klassischen Zeitrahmen. Den 24 Stunden der klassischen Tragödie entsprechen die 10 Monate, darin vier Jahreszeiten, in

denen sich die Heimsuchung durch die Pest abspielt“ (s.Königs Erläuterungen, S.49f.), mit der den Ereignissen nahen Erstellung der Chronik umfasst der Zeitraum in etwa 1 Jahr. Diese Chronik einer Tragödie ist darüber hinaus nach Albert Camus eigenen Worten als eine Beichte zu lesen, als die ‚confession’, die schonungslose Selbstoffenbarung des Arztes Dr.Rieux. „Alles ist darauf angelegt, dass diese Beichte so vollständig und der Bericht so zurückhaltend wie möglich erzählt wird.“(Camus, Actuelles II,93f zit. nach Königs Erläuterungen, S.75). Diese Beichte wird zur großartigen Rechtfertigung des Widerstandes vorbildlicher Menschen, die in Solidarität und konkreter Zusammenarbeit sich gegen die Pest auflehnten und endet mit dem großartigen Resümee, „dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt“(350). Mitten im Zweiten Weltkrieg, unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs und der Installation des Kollaborationsregimes von Vichy, begann Camus mit seinem Romanwerk. 1946 wurde es beendet und 1947 veröffentlicht. Es ist von der ersten bis zur letzten Zeile eine Auseinandersetzung mit der geistigen Pest des nihilistischen Totalitätswahns, wie er im Faschismus und im Stalinismus nach der Weltmacht griff und es ist eine Hommage an die Resistance. Aber „wenn sich aus den sprachlich durchgehenden Bezügen zwischen Pest und Krieg sogleich die zeithistorische Anspielung auf die von Frankreich 1940-44 erduldete Besatzungszeit ergibt, so kommt es dabei doch vor allem auf ihren ideellen Gehalt an, auf die grundsätzliche Kritik an den totalitären Systemen und an der Gewalt als ihrer eigentlichen Geistesform … Im letzten geht es dabei… um die metaphysische Bedrohung des menschlichen Bereichs im Ganzen, um seine summarische und unausweichliche Bedrohung durch die Gewalt des Todes, die ja in der Pest ihren sinnfälligsten Ausdruck findet“(Noyer-Weidner zit. nach Königs Erläuterungen,S.93) I.Akt introduction – Einführung S.7-76) Folgen wir dem inneren Gang dieses Werkes, und verdeutlichen uns die im ersten Akt mit seinen 8 Kapiteln gegebenen Einführung in den tragischen Konflikt. In den 1940 er Jahren, (also mitten im Hier und Jetzt) bricht in der Stadt Oran an der algerischen Mittelmeerküste die Pest aus. Oran ist eine ganz gewöhnliche moderne Stadt, hektisch und geschäftsorientiert. Camus schildert nicht ohne Ironie die Oberflächlichkeit eines alltäglichen Lebens. Nichts deutet daraufhin, dass Oran, „diese hässliche Stadt ohne Tauben, ohne Bäume, ohne Gärten, einer solchen Katastrophe entgegengehen wird. Doch das Verhängnis nimmt seinen Lauf.. Wir schreiben den 16.4. Erste tote Ratten fallen auf. Der Hausmeister Michel denkt an einen üblen Bubenstreich. Doch es werden mehr und mehr. Dr.

Rieux sieht bei seinen Arztbesuchen in den nächsten Tagen im Armenviertel viele toten Ratten auf den Müll geworfen. Noch will er, noch will die Allgemeinheit nicht recht wahrnehmen, was sich da anbahnt. Nur zögerlich ergreift die Stadtverwaltung erste Maßnahmen. Aber die Epidemie ist nicht aufzuhalten. Massen sterbender Ratten bald überall. Am 29.4. sehen wir den Hausmeister Michel schwer gezeichnet, mit überraschenden Symptomen, Schwellungen, Knotenbildung und verzehrendem Fieber. Am Abend liegt er schon im Siechtum und stirbt am nächsten Tag. Die Pest nimmt ihren Lauf. Angst und Panik legen sich auf die Stadt, die Stadt ist vom Fieber ergriffen. Nur der alte, erfahrene Doktor Castel wagt es, den Dingen klar ins Auge zu sehen und gibt Dr.Rieux den Mut, die Sache als das zu benennen, was sie ist: die Pest. Die Pest dient in diesem Buch als Chiffre für die faschistische Bedrohung, den menschenverachtenden und menschenvernichtenden nihilistischen Wahn. Die Pest ist zugleich ein tief in der kollektiven Erinnerung Europas bewahrtes Sinnbild der Heimsuchung. „Die Pest, auch schwarzer Tod genannt, suchte die Europäer erstmals im 14.Jahrhundert heim und forderte in nur vier Jahren, 1347 bis 1351, mehr Todesopfer als zuvor irgendeine Epidemie oder irgendein Krieg“(Königs Erläuterungen,S.31). Von Genua ausgehend breitete sie sich rasend schnell über Europa aus und kehrte im 14. Jahrhundert noch fünfmal mit großen Menschenopfern nach Europa zurück. „Historiker schätzen, dass in einigen Landstrichen bis zu zwei Drittel der Menschen hingerafft wurden, in anderen allerdings deutlich weniger. Die Feststellung des französischen Chronisten Jean Froissart, dass Europa ungefähr ein Drittel seiner Bevölkerung verlor, wird als sehr wahrscheinlich angesehen.“(ebd.,32) Wie kann man mit und in so einer Bedrohung leben? Camus beschreibt die innere Zerrissenheit der Leute, ihr Schwanken zwischen Beunruhigung und Vertrauen, ihre Unfähigkeit, sich solcher Gefahr geistig stellen zu können. Die alltägliche, daseinssichere, scheinbar aufgeklärte Grundeinstellung versagt vor der Plage. Man hat keine Begriffe dafür, wenn man dem Dämonischen, dem Einbruch des Bösen ausgesetzt ist. Unsere Mitbürger waren „Humanisten: sie glaubten nicht an die Plagen. Eine Plage ist nicht auf den Menschen zugeschnitten, daher sagt man sich, dass sie unwirklich ist, ein böser Traum, der vorübergehen wird. Aber er geht nicht immer vorüber, und von einem bösen Traum zum nächsten sterben Menschen, und die Humanisten zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben. Unsere Mitbürger waren nicht schuldiger als andere, sie vergaßen einfach nur, bescheiden zu sein, und sie dachten, alles sei für sie noch möglich… Sie hielten sich für frei, und niemand wird je frei sein, solange es Plagen gibt“(46f). Camus diagnostiziert in diesen Worten die

beschwichtigenden Selbstlügen in der Zeit der Diktatur. Doch Dr.Rieux, nachdem er einmal den Gedanken an die Pest zugelassen hat, wird von Erinnerungen überflutet, die Dimension der Gefahr wird ihm bewusst angesichts dessen, was die Pest immer schon in der Geschichte ausgelöst hat. Die immer und überall vom endlosen Schrei der Menschen erfüllten Tage und Nächte werden in ihm laut, doch er ruft sich hart zur Vernunft: „Man musste sich an das halten, was man wusste, die Benommenheit und den Kräfteverfall,…, den furchtbaren Durst, das Delirieren, die Flecken auf dem Körper, das innere Zerrissenwerden und am Ende von all dem … (der Tod) und dann das Notwendige tun. „Was getan werden musste, war, klar zu erkennen, was erkannt werden musste, die nutzlosen Schatten endlich zu vertreiben und die angemessenen Maßnahmen zu ergreifen… Die Hauptsache war, seinen Beruf gut auszuüben.“(48-51). Im weiteren Gang sehen wir ihn als einen vorbildlichen Arzt und Menschen unermüdlich bis an den Rand der inneren und äußeren Erschöpfung für die Menschen um den Funken Leben ringend gegen die allgegenwärtige Pest – ein Held, der dabei schonungslos aufdeckt, wie ihn dieser Kampf müde macht, ihn verhärten lässt, sein Herz austrocknet, die immer schon vorhandene Skepsis und Ernüchterung überhand nimmt und er doch ein Mensch bleibt, solidarisch und den anderen ihr Glück gönnend, ein Glück, von dem er selber so wenig verspürt, vergessen und verloren an die konkrete, tägliche, harte Arbeit im Dienst am Leben. Man muss Dr.Rieux bewundern, seinen Einsatz, sein Ringen um Klarheit, seine elementare Moral und Solidarität, und seinen steten Widerstand gegen die Pest. Man muss ihn bewundern genau so wie den kleinen, unscheinbaren Helden Grand an seiner Seite, dieser bescheidene, doch vorbildlich handelnde kleine Angestellte, der sich ganz in den Dienst Dr.Rieux’ stellt, treu seiner Maxime: man muss sich gegenseitig helfen (25). Nachdem es schließlich doch gelungen war, die Gesundheitskommission mit dem Ernst der Lage vertraut zu machen, 6 Wochen nach Auftreten der ersten pesttoten Ratte, ergeht die amtliche Bekanntmachung: Pestzustand erklären. Stadt schließen, II.Akt noeud – Knoten,Verwicklung (S.77-188) Der zweite Akt beginnt. In 9 Kapiteln folgt die Chronik der Zeit von Anfang Juni bis Mitte August. Der tragische Knoten wird nun geschnürt. Der Konflikt zwischen Pflicht und Leidenschaft wird deutlich.(Dafür steht insbesondere der Journalist Rambert). Der Chronist verzeichnet die Reaktionen der Menschen auf dieses plötzliche Exil, ihr Abgeschnittensein von der Welt. Er benennt die um sich greifende Leere, beschreibt einfühlsam die brennenden Pfeile der Erinnerung (82), den voranschreitenden Zusammenbruch von Mut und Willen, Ernüchterung, Verflachung und Ergebung. „Unwillig gegenüber der Gegenwart, feindselig

gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft beraubt, hatten wir so wirklich Ähnlichkeit mit denen, die die Gerechtigkeit oder der Haß der Menschen hinter Gittern leben lässt(84). Jeder musste „sich damit abfinden, von einem Tag auf den andern und allein im Angesicht des Himmels zu leben.“(86) Man litt und hoffte ohne Grund (87), ohne Erklärung, ohne Einsicht. Man flüchtet in Alkohol und sinnleere Lust. Und ist vor allem einsam. Wir sehen Dr.Rieux im täglichen Kampf müde und gleichgültig werden, er fängt an, aufgerieben zu werden in der vermeintlichen Nutzlosigkeit seines Tuns angesichts der stetig steigenden Zahl der Pestkranken und Sterbenden. Kann die Religion in solcher Lage helfen? Ende Juni wird eine Betwoche durchgeführt und der allseits geachtete Jesuitenpater Paneloux wird um eine Predigt gebeten. Dieser hochgebildete Mann ergreift das Wort und schockiert. Die von Camus in höchster literarischer Vollendung dargestellte Rede ist ein dämonisches Panoptikum, die Selbstenthüllung einer bösen Religion. Schon mit den ersten Worten, mit leidenschaftlicher Stimme hämmert Paneloux auf die versammelte Gemeinde ein: „Liebe Brüder. Ihr seid im Unglück, liebe Brüder, ihr habt es verdient.“(109) Er legt also die Pestepidemie als verdientes Strafgericht Gottes an der sündigen Stadt Oran aus. Er macht sich zum Zornboten und benennt die Heimsuchung der Pest als gottgewollte Geißelung, die zurecht die Hoffärtigen richtet. Diese Zornrede gibt sich als prophetische Mahnrede, aber sie schwelgt in den Phantasien des Hasses und bedient sich dabei in rhetorischer Brillanz des Beweises aus Schrift und Tradition. Er argumentiert mit der Pest, die Gott nach 2.Mose 9 über Ägypten hat bringen lassen, sieht die Weltgeschichte als Weltgericht, redet wie Johannes der Täufer (Mt3) von der Trennung von Spreu und Weizen, die in solchen Drangsalen sich vollzieht. Eindrückliche Bilder fallen: der erbarmungslose Dreschflegel, der Pestengel mit dem Jagdspieß, die blutige Tenne des Schmerzes. Und all dies, was hemmungslos und rachgierig über die Menschen herfällt, wird als in Gottes gutem Willen begründet, erklärt. Paneloux fordert Zerknirschung, Erkenntnis der abgrundtiefen Schuldigkeit des menschlichen Daseins und sieht in alldem das göttliche Gnadenangebot, durch solches Gericht, so blutig es auch ist, jeden einzelnen zur Erkenntnis der Wahrheit zu treiben, zum Durchbruch ins Wesentliche, zur Einsicht in die Wahrheit. Man frägt sich entsetzt und fassungslos, ist das Religion? Ist das Trost? Führt von hieraus wirklich ein Weg in die Hoffnung über alle Hoffnung hinaus, von der der Glaube sich getragen weiß? Eindrücklich ist das Gespräch, das sich zwischen Rieux und Tarrou im Anschluß an diese Predigt entwickelt. Auf die Frage Tarrous, was er von Paneloux’ Predigt halte, antwortet Rieux: „Ich habe zu lange in Krankenhäusern gelebt, um die Vorstellung einer Kollektivstrafe

zu mögen. Aber sie wissen ja, die Christen reden manchmal so, ohne es wirklich zu denken. Sie sind besser, als sie scheinen(143). Auch Paneloux ist besser als er redet. Er schließt sich den von Dr.Rieux eingesetzten, von Tarrou organisierten freiwilligen Sanitätstrupps an und hilft mit, das Nötige zu tun. Auch er reiht sich ein in den Kampf gegen das Elend und den Schmerz, mit denen man sich um der Ehre ein Mensch zu sein, nicht abfinden kann. Paneloux tut dies aus Glauben, Rieux aus Unglauben, Rieux handelt aus einer tiefen Rebellion gegen die Schöpfung, Paneloux aus der Rebellion gegen das Böse. Rieux, der auf die Frage nach seinem Glauben sagt: Nein, (er glaube nicht), aber was besagt das? Ich tappe im dunkeln und versuche, Klarheit zu finden (144), antwortet auf Tarrous Rückfrage, woher ihm dann die Kraft zu seinem Einsatz komme: „Sie denken, dass dazu Stolz nötig ist. Aber ich habe nicht mehr als den nötigen Stolz, glauben sie mir. Ich weiß nicht, was mich erwartet und was nach all dem hier kommen wird. Vorerst sind da die Kranken, und sie müssen geheilt werden. Danach werden sie nachdenken und ich auch. Aber das dringendste ist, sie zu heilen. Ich verteidige sie, so gut ich kann, das ist alles.“(145) Ihr Gespräch wird immer intensiver und Rieux wagt, sich Tarrou anzuvertrauen. Er erzählt, wie er Arzt wurde, wie er dann dem Sterben ins Angesicht schauen lernen mußte: „Haben sie je eine Frau im Sterben ‚Niemals!’ schreien hören? Ich schon. Und dann ist mir klar geworden, dass ich mich nicht daran gewöhnen konnte. Ich war jung, und mein Ekel glaubte sich gegen die Weltordnung selbst zu richten. Seitdem bin ich bescheidener geworden. Nur habe ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, sterben zu sehen. Mehr weiß ich nicht. Aber schließlich… Rieux verstummte und setzte sich wieder. Er merkte, dass sein Mund trocken war. Schließlich?, sagte Tarrou leise. Schließlich, fuhr der Arzt fort, zögerte wieder und sah Tarrou aufmerksam an, ist es etwas, was ein Mann wie Sie verstehen kann, nicht wahr, aber da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es für Gott vielleicht besser, dass man nicht an ihn glaubt und mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu diesem Himmel zu erheben, in dem er schweigt. Ja, das kann ich verstehen, stimmte Tarrou zu. Aber ihre Siege werden immer vorläufig sein, das ist alles .Rieux schien sich zu verdüstern. Immer, das weiß ich. Das ist kein Grund, den Kampf aufzugeben. Nein, das ist kein Grund. Aber ich kann mir jetzt vorstellen, was diese Pest für sie bedeuten muß. Ja, sagte Rieux. Eine Niederlage ohne Ende.(146f). Doch diese Selbstoffenbarung seiner inneren Verzweiflung schenkt ihm mit Tarrou einen Freund, einen Menschen, dessen Lebensmaxime, dessen Moral lautet: Verständnis (149).Steht Paneloux letzthin für einen blinden Glauben, der sich an einen allmächtigen bösen Gott ausliefert, und Rieux für den klarsichtigen Unglauben, der sich solcher Allmacht – aus Anstand (187) - verweigern muß? Der Knoten ist geschnürt,

ist dieses Verhängnis lösbar? Nur ein Wink bleibt: „Das Böse in der Welt geht fast immer von Unwissenheit aus… Die Seele des Mörders ist blind, und es gibt keine wirkliche Güte oder wahre Liebe ohne die größtmögliche Klarsichtigkeit“(150) III. Akt apogée oder sommet – Höhepunkt, Gipfel (S.189-211) Im dritten Akt, er umfasst ein einziges langes Kapitel, treibt die Pestepidemie auf ihren Höhepunkt zu. Wir durchleben die Zeit von Mitte August bis Ende September. In der Gluthitze des Sommers erkalten die Herzen. Es ist die Hölle auf Erden. Der Tod wird nur noch verwaltet. Ein endloser Leerlauf scheint das Leben zu sein. Moralische und physische Auszehrung ergreift die Stadt. Das Gefühlsleben ist ganz und gar verflacht. Selbst an die Verzweiflung hat man sich gewöhnt. „Ohne Erinnerung und ohne Hoffnung, richteten sich (alle) in der Gegenwart ein. In Wahrheit wurde für sie alles Gegenwart. Es muß einfach gesagt werden, die Pest hatte allen die Fähigkeit zur Liebe und sogar zur Freundschaft genommen. Denn die Liebe verlangt ein wenig Zukunft, und für uns gab es nur mehr Augenblicke“(207). Rieux diagnostiziert eine „zugleich grenzenlose und illusionslose Resignation … ein endloses und erstickendes Auf-der-Stelle-Treten“(210f). IV. Akt peripetie – Schicksalswende, Umschwung (S.213-302) Wir treten nun in den vierten Akt der Tragödie ein. In 7 Kapiteln beschreibt der Chronist die Ereignisse von Anfang Oktober bis Ende Dezember. Hier muss nach klassischer Struktur der Tragödie die Schicksalswende kommen, der Umschwung einsetzen. Es war soweit. Endlich konnte dank Dr.Castels Einsatz ein eigenes Serum entwickelt und zum Einsatz gebracht werden. Dem sterbenskranken Kind des Richters Othon wird es erstmals verabreicht, ein Experiment. Rieux, Paneloux, Tarrou und Grand (auch Rambert) stehen bei dem Kind und werden Augenzeugen seiner Agonie. „Sie hatten schon Kinder sterben sehen, denn der Schrecken schlug seit Monaten wahllos zu, aber noch nie hatten sie deren Leiden Minute für Minute verfolgt, wie sie es seit dem Morgen taten. Und natürlich hatte der Schmerz, den diese Unschuldigen erdulden mussten, nie aufgehört, ihnen als das zu erscheinen, was er in der Tat war, nämlich ein Skandal. Aber bisher zumindest empörten sie sich gewissermaßen abstrakt, weil sie der Agonie eines Unschuldigen nie so lange unmittelbar zugesehen hatten. In diesem Kind steht ein Bild des Gekreuzigten vor ihnen auf, in unerahnbarer Weise werden sie zu Augenzeugen des ewigen Karfreitag. Rieux verschmilzt in einer unio mystica „mit dem gequälten Kind und versuchte ihm beizustehen. Aber nach einer Minute der Vereinigung gerieten die Pulsschläge ihrer Herzen aus dem Gleichtakt, das Kind

entglitt ihm und seine Anstrengung ging in der Leere unter“(244). Der Schrei des Gekreuzigten tönt aus dem „von der Krankheit besudelten, vom Schrei aller Zeiten erfüllten Kindermund“(245). Paneloux ist auf die Knie gesunken und betet: Mein Gott, rette dieses Kind, doch sein Gebet geht unter in einer Flut von Schluchzen und Rieux, „der das Bettgestell umklammerte, schloß, trunken vor Müdigkeit und Ekel, die Augen“(245) Philippe Othon stirbt. Rieux hätte am liebsten weitergeschrien. Paneloux, der sich ihm zuzuwenden versucht, schleudert er entgegen: „Ah, der zumindest war unschuldig, das wissen sie genau“(246) Auch für mich war dieser Anblick unerträglich, hören wir Paneloux sagen. „Rieux drehte sich zu Paneloux um: ‚Das ist wahr’, sagte er. Verzeihen sie mir. Aber die Müdigkeit macht einen wahnsinnig. Und es gibt Stunden in dieser Stadt, in denen ich nur noch meine Empörung fühle’ Ich verstehe, murmelte Paneloux. Es ist empörend, weil es über unser Maß geht. Aber vielleicht müssen wir lieben, was wir nicht verstehen können. Rieux richtete sich mit einem Ruck auf. Er sah Paneloux mit aller Kraft und Leidenschaft an, deren er fähig war und schüttelte den Kopf. Nein, Pater, sagte er. Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis zum Tod weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden. Über Paneloux’ Gesicht huschte ein bestürzter Schatten. Ach Herr Doktor, sagte er traurig, ich habe eben verstanden, was Gnade heißt. Aber Rieux war wieder auf seiner Bank zusammengesunken. Aus der Tiefe seiner zurückgekehrten Müdigkeit antwortete er sanfter: Die habe ich nicht, ich weiß. Aber ich will mit ihnen nicht darüber diskutieren. Wir arbeiten zusammen, aber für etwas, was uns jenseits von Gotteslästerung und Gebet vereint. Nur das ist wichtig. Paneloux setzte sich neben Rieux. Er wirkte bewegt. Ja, ja auch sie arbeiten für das Heil des Menschen … Paneloux streckte ihm die Hand hin und sagte traurig: Und doch habe ich sie nicht überzeugt. Was macht das schon?, sagte Rieux. Was ich hasse, sind der Tod und das Böse, das wissen sie ja. Und ob Sie wollen oder nicht, wir sind zusammen da, um sie zu erleiden und zu bekämpfen. Rieux hielt Paneloux’ Hand fest. Sehen sie, sagte er und vermied, ihn anzusehen: jetzt kann Gott selbst uns nicht trennen(247ff). Es ist ein ganz ungewöhnliches Gespräch und für mich der erste Höhepunkt in diesem Buch. Rieux ist noch immer von ungemeiner Aggression durchtönt, Paneloux kommt ihm mit großer versöhnender Liebe entgegen. Beide sind sie tief bewegt. Paneloux ergreift die Wahrheit der Gnade, Rieux bekennt sich zu seiner aufopferungsvollen Liebe. Sie vereinen sich und bleiben doch sie beide. Doch wer eigentlich war der Gotteslästerer? War es nicht Paneloux? War nicht seine Strafpredigt eine einzige Gotteslästerung? Ich meine, er hat es erkannt. Und Rieux’ Rebellion war sie nicht das wahre Gebet und bleibt sein Einsatz nicht das Gebet des Gerechten, das erhört wird auch ganz gegen seine (noch unaufgeklärten) Gottesbilder? Jetzt

nach diesem Gespräch kann nichts sie mehr trennen. Ist es vermessen hier an Paulus zu erinnern: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten“(Röm 8,38)? Jedenfalls sehen wir Paneloux ein zweites Mal die Kanzel betreten. Und wir sehen ihn tief verwandelt reden. Das aus dem Alten Testament geschöpfte, hochmütig verurteilende Schelten ist von ihm gefallen. Wir sehen ihn zum Christen gewandelt. Eine nun sanfte, überlegte, mit Zögern durchstimmte Predigt zeigt ihn als wahren Zeugen in der Nachfolge des Gekreuzigten. An die Stelle des verdammenden Ihr ist ein mitfühlendes Wir getreten. Der Fluch des Erklärenmüssens wird genommen. Die ganze Zuweisung von Schuld und Strafe verstummt angesichts der Konfrontation mit dem unerklärbaren, grundlosen Leiden, das nur eines verlangt: Solidarität mit den Opfern, Gebet, Fürbitte, Mitgefühl und Tat. „Wer konnte denn behaupten, dass eine ewige Wonne einen Augenblick menschlichen Schmerzes ausgleichen kann? Ganz sicher kein Christ, deren Meister den Schmerz in seinen Gliedern und in seiner Seele empfunden hat. Nein, der Pater würde am Fuße der Mauer stehen bleiben, jener Zerrissenheit getreu, deren Symbol das Kreuz ist, Auge in Auge mit dem Leiden eines Kindes… Liebe Brüder, der Augenblick ist da. Man muß alles glauben oder alles leugnen. Und wer unter euch würde es wagen, alles zu leugnen?“(254) Paneloux ringt um ein christliches Verständnis des Glaubens, er ringt um eine von grenzenloser, versöhnender Liebe durchstimmte Übergabe an den unergründlichen Willen Gottes, ohne noch länger der Gefahr einer geheimen Kollaboration mit dem bösen Geist der Rachsucht zu erliegen. Er plädiert für tätigen Fatalismus (ein schwieriges Wort). Das ist nur verständlich wenn man an den mittelmeerischen Fatalismus denkt, der hier durchbrochen werden soll und damit auch die schreckliche Versuchung abgewehrt werden soll, ‚Gott und das Schicksal in eins zu sehen. Ich deute die Einstellung, um die der Jesuitenpater Paneloux hier ringt, als die aktive Indifferenz seines Ordensvaters Ignatius von Loyola, es ist eine tätige Hingabe in Liebe bei steter Freiheit aus Gott. „Und der Pater schlug mit der Faust auf den Rand der Kanzel und rief: Liebe Brüder, jeder muss der sein, der bleibt. Es gehe nicht darum, die Vorsichtsmaßnahmen und die kluge Ordnung abzulehnen, die eine Gesellschaft in die Unordnung einer Heimsuchung brachte. Man dürfe nicht auf jene Moralprediger hören, die sagten, man solle niederknien und alles aufgeben. Man müsse sich nur aufmachen und in der Finsternis ein wenig blindlings vorwärts gehen und versuchen, Gutes zu tun. Das ist genau die Haltung Rieux’, (der allerdings statt von blindlings lieber von dem je möglichen Maß an Klarsicht reden würde – aber wo sollte hier ein Widerspruch sein?), nur dass Paneloux und das ist das Mehr des Glaubens fortfährt: Ansonsten aber solle man bleiben und sich

bereitwillig, Gott anvertrauen, sogar beim Tod der Kinder, ohne persönliche Hilfe zu suchen… Wir mussten den Skandal ertragen, weil wir wählen mussten, ob wir Gott hassen oder ihn lieben. Und wer würde es wagen, den Hass auf Gott zu wählen? (Gott im Gekreuzigten kann man um der Ehre ein Mensch zu heißen, nicht hassen, aber man hüte sich aufs äußerste davor, den Hass nun auf den Menschen abzuwälzen). Liebe Brüder, sagte Paneloux schließlich und kündete an, dass er zum Schluß komme, die Liebe zu Gott ist eine schwierige Liebe. Sie setzt die völlige Selbstaufgabe und die Missachtung der eigenen Person voraus. Aber sie allein kann das Leiden und den Tod der Kinder wiedergutmachen, sie allein kann sie jedenfalls notwendigmachen, weil man sie unmöglich verstehen kann und weil man sie nicht wollen kann“ (258f) Ich meine damit bekennt sich Paneloux seinerseits zu Rieux Aussage: Wir arbeiten zusammen für etwas, was uns jenseits von Gotteslästerung und Gebet vereint. Nur das ist wichtig. Jetzt kann Gott selbst uns nicht trennen. Nur die eine ungeteilte Liebe, die eine untrennbare Einheit von Gottes- und Menschenliebe, kann den schrecklichen Spalt zwischen Gotteslästerung und (lästerlichem) Gebet überwinden. Paneloux wird in totaler Identifizierung mit Christus an der Pest sterben, die er tatkräftig einzudämmen suchte. Nach der Tristesse des November kommt es am Ende des Monats (im christlichen Kalender beginnt jetzt die Adventszeit) zu dem zweiten Höhepunkt des Romans, es sind wahre Sternstunden, das, was zwischen Rieux und Paneloux geschah und das, was nun zwischen Rieux und Tarrou sich ereignet. Die beiden gönnen sich inmitten schwerster Erschöpfung auf einer Dachterrasse den weiten Blick auf das Meer und atmen durch. „Jenseits der Klippen, die sie nur erahnten, schien in gleichmäßigen Abständen ein Licht auf, dessen Quelle sie nicht sahen… An dem vom Wind blankgefegten Himmel funkelten klare Sterne... Die Stille war vollkommen. Es ist schön hier, sagte Rieux, während er sich setzte. Es ist, als wäre die Pest nie hier heraufgestiegen. Tarrou stand mit dem Rücken zu ihm und schaute aufs Meer. Ja, sagte er nach einer Weile, es ist schön. Er setzte sich neben den Arzt und sah ihn aufmerksam an. Dreimal tauchte der Lichtschein am Himmel auf (277f). Die Stunde der Freundschaft, der Freundschaft schlechthin beginnt. Tarrou offenbart sich Rieux. Er erzählt von der tiefen Verletzung seines Lebens, als es ihm ins Herz stach, dass sein geachteter Vater als Staatsanwalt ein Werkzeug des Tötens war. An dieser Stelle wird eindeutig klar, dass die Pest als Sinnbild für die geistigen Mächte der Zerstörung steht, wie sie aktuell und mit höchster Bedrohung in Faschismus und Stalinismus am Werke waren, aber auch unter vielerlei anderen Masken wirken. Tarrou hat erkannt, dass die Geschichte auf dem Schwert beruht, auf der Macht des Urteilens, Verurteilens und Tötens. „Alle sind im Mordrausch und können nicht anders…. Wir alle (sind) im Zustand der Pest“(286f) „Und ich sagte mir, dass ich mich

vorläufig wenigstens für mein Teil weigern würde, dieser ekelhaften Schlachterei je eine einzige, eine einzige, hören sie, Rechtfertigung zu geben…. Ich versuche alle zu verstehen und niemandes Todfeind zu sein, und dass wir nur dadurch auf Frieden hoffen können oder doch wenigstens auf einen guten Tod. Das ist es, was die Menschen erleichtern kann und ihnen, wenn es sie auch nicht rettet, zumindest sowenig Böses wie möglich zufügt und manchmal sogar ein wenig Gutes. Und deshalb habe ich beschlossen, alles abzulehnen, was von nah oder ferne, aus guten oder schlechten Gründen, tötet oder rechtfertigt, dass getötet wird. … Ich weiß, dass ich … für diese Welt nichts mehr wert bin und dass ich mich von dem Augenblick an, als ich dem Töten entsagt habe, zu einem endgültigen Exil verurteilt habe. Die Geschichte wird von anderen gemacht werden….Aber jetzt bejahe ich, dass ich bin, was ich bin, ich habe Bescheidenheit gelernt. Ich sage nur, dass es auf dieser Erde Plagen und Opfer gibt und dass man sich, soweit wie möglich, weigern muß, auf Seiten der Plage zu sein“. Unaufhörlich um Klarheit ringend, erkennt Tarrou: „Es sollte natürlich eine dritte Kategorie geben, die der wahren Ärzte, aber von denen findet man nicht viele, und es muß schwer sein. Deshalb habe ich beschlossen mich bei jeder Gelegenheit auf die Seite der Opfer zu stellen, um den Schaden z begrenzen. Unter ihnen kann ich wenigstens danach suchen, wie man zur dritten Kategorie kommt, das heißt zum Frieden. Als Tarrou zu Ende geredet hatte, ließ er ein Bein baumeln und klopfte leicht mit dem Fuß auf die Terrasse. Nach einem Schweigen richtete sich der Arzt etwas auf und fragte, ob Tarrou eine Vorstellung von dem Weg habe, den man einschlagen müsse, um zum Frieden zu kommen. Ja, Mitgefühl. … Dann trat wieder Stille ein. Rieux zählte ein zweimaliges Blinken des Leuchtturms. Die Brise schien stärker zu werden, und zugleich trug ein Windhauch den Geruch von Salz herbei.“( 286ff) Hier werden die tiefsten Inspirationen des christlichen Glaubens erfasst: Christus der wahre Arzt, sein Prinzip des Mitgefühls und seine Ethik der Nachfolge, wie sie in der Bergpredigt niedergelegt ist, erfasst von einem, der ohne bewussten Glauben sein muß. Rieux erkennt exakt, wie es um Tarrou steht: Sie glauben aber doch nicht an Gott. Eben. Kann man ein Heiliger ohne Gott sein, das ist das einzige konkrete Problem, das ich heute kenne.“ Wie Paneloux geht auch Tarrou aufs äußerste, und fordert sich einen absoluten persönlichen Einsatz ab. Rieux tritt einen, allerdings entscheidenden Schritt zurück. Wie er Ende Oktober zu Paneloux sagte: „Das Heil des Menschen ist ein zu großes Wort für mich. Ich gehe nicht so weit. Mich interessiert seine Gesundheit, in erster Linie seine Gesundheit“(248), so hören wir ihn nun zu Tarrou sagen: „wissen Sie, ich empfinde mehr Solidarität mit den Besiegten als mit den Heiligen. Ich glaube, ich habe keinen Sinn für Heldentum und Heiligkeit. Was mich interessiert, ist ein Mensch zu sein.“ Tarrou antwortet darauf: Ja wir suchen das gleiche, aber

ich bin weniger ehrgeizig.“(290) Rieux teilt diese auf das Absolute gehende Leidenschaft nicht, aber er weiß sich zutiefst Tarrou nahe. Und die beiden feiern ihre Freundschaft mit einem Bad im Meer. (In der Freundschaft vollendet sich die menschliche Brüderlichkeit s. Aristoteles und Johannesevangelium) V.Akt solution oder denouement –Auflösung, Ausgang (S.303-350) Wir kommen zum Schluß, treten ein in den 5.Akt der Tragödie, und erleben durch eine tiefe Katharsis (Reinigung) gegangen, die in 5 Kapiteln erzählte Auflösung des tragischen Knotens. Die Pestepidemie hat ihren Zenit überschritten. So überraschend wie sie ausgebrochen ist, tritt diese verheerende Krankheit auch wieder den Rückzug an, willkürlich schlägt sie noch zu, und wird doch schwächer. Tarrou reißt sie noch in den Tod. Noch einmal werden wir zum Zeugen eines qualvollen Sterbens. Alles drängt noch einmal ins Wort – literarisch von höchster Darstellungskraft: „von Jagdspießen durchbohrt, von einem übermenschlichen Übel verbrannt, von allen hasserfüllten Winden des Himmelns verkrümmt, versank (Tarrou) vor …(den) Augen (Rieux’) in den Wassern der Pest, und er (Rieux) konnte nichts gegen den Untergang tun. Er musste mit leeren Händen und zerrissenem Herzen am Ufer zurückbleiben, einmal mehr hilflos und ohne Waffen gegen dieses Unheil. Und am Ende waren es Tränen der Ohnmacht, die verhinderten, dass Rieux sah, wie Tarrou sich abrupt zur Wand drehte und mit einem hohlen Klagelaut erlosch“(327f), „die Stille der Niederlage,… (die) selbst aus dem Frieden ein unheilbares Leiden macht“(328). In diese Tränen der Ohnmacht fällt dann der Jubelschrei der Überlebenden. Am Morgen des 8.Februar öffnen sich wieder die Tore der Stadt. „Die ganze Stadt stürmte hinaus, um diese zusammengedrängte Minute zu feiern, in der die Zeit der Leiden endete und die Zeit des Vergessens noch nicht angefangen hatte. Auf allen Plätzen wurde getanzt. In der Freude der Befreiung beginnt auch schon das große Vergessen, „dass wir jene Welt je gekannt hatten, in der der Mord an einem Menschen so alltäglich war wie das Totschlagen von Fliegen, jene genau festgelegte Verwilderung, jene berechnete Raserei, jene Gefangenschaft, die eine grauenhafte Freiheit gegenüber allem, was nicht die Gegenwart war, mit sich brachte, jenen Todesgeruch, der alle betäubte, die er nicht tötete; sie leugneten schließlich, dass wir jenes benommene Volk gewesen waren, von dem tagtäglich ein Teil, in den Rachen eines Ofens gestopft, in schmierigen Rauch aufging, während der andere Teil in den Ketten von Ohnmacht und Angst wartete, dass die Reihe an ihn kam“(337). Wer muß hier nicht unwillkürlich an die Vernichtungslager denken, an Auschwitz und Treblinka und die anderen Orten, in denen mit Hilfe zahlreicher Kollaborateure auch mindestens 60000 französische Juden vergast wurden.

Rieux, der nicht mit tanzen und schon gar nicht vergessen kann, gönnt den Menschen die Erlösung, den Anhauch einer Heimat. „Sie lag im duftenden Gestrüpp auf den Hügeln, im Meer, in den freien Ländern und im Gewicht der Liebe. Und zu ihr, zu ihrem Glück, wollten sie zurück…. Sie würden wenigstens für einige Zeit glücklich sein. Sie wussten jetzt, dass es, wenn überhaupt, etwas gibt, was man immer ersehnen und manchmal bekommen kann, nämlich menschliche Zärtlichkeit…(und Rieux dachte), dass die Freude wenigstens hin und wieder die belohne, die sich mit dem Menschen und seiner armseligen, außerordentlichen Liebe begnügen.“(341) Im Schlusskapitel gibt Rieux sich als Verfasser dieser Chronik zu erkennen. Er weiß, dass der Sieg über die Pest nicht endgültig ist, aber er weiß auch, dass man eines in Plagen lernt, „dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt“(350) „Alles, was der Mensch beim Spiel der Pest und des Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnis und Erinnerung…. Ein warmer Hauch des Lebens und ein Bild des Todes, das war die Erkenntnis“(330f) – und plötzlich, ohne Übergang lächelte ihn ein Kind strahlend an * „Wir wählen die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klarsichtige Tat, die Weitherzigkeit des Menschen, der weiß… Unsere Brüder und Schwestern atmen unter dem gleichen Himmel wie wir; die Gerechtigkeit lebt. Dann wird diese seltsame Freude geboren, die zu leben und zu sterben hilft und die auf später zu verschieben wir uns von nun an weigern werden.“(Der Mensch in der Revolte, 329 zit. nach Wernicke, S.125) Literatur: Albert Camus, Die Pest – Deutsch von Uli Aumüller, rororo F.F.Frosshage, Erläuterungen zu Albert Camus’ Die Pest, Königs Erläuterungen und Materialien Band 165, Bange Verlag, Hollfeld 2004 O.F.Bollnow, Albert Camus’ Die Pest in Schlette,H.R.(Hg.), Wege der deutschen CamusRezeption, Darmstadt 1975, S.227-244 H.R.Schlette (Hg.), Mein Reich ist nicht von dieser Welt . Das Menschenbild Albert Camus’, Stuttgart 2000, darin besonders die Aufsätze von Annemarie Pieper, Die Pflicht, zu lieben – Camus’ moralische Grundnorm, S.23-38 und Horst Wernicke, Camus’ Entwurf vom brüderlichen Menschen, S.109-125