Text - BENNO VOGEL

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Angepasst an die individuelle Veranlagung. Jetzt soll sie möglich werden, dank Nutrigenomik. Nutrigenomik ist eine junge Forschungsdisziplin. Sie untersucht ...
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Utopie der perfekten Ernährung Benno Vogel und Christof Potthof

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n den Regalen der Supermärkte gibt es für jeden etwas: Freunde des schnellen Essens finden Fast- und Convenience-Food, Freunde internationaler Abwechselung finden Ethno-Food aller Kontinente, Freunde des guten Geschmacks finden Slow-Food, und Freunde des guten Gewissens finden Bio-Food. Zu guter Letzt finden die, die schon alles haben Functional Food, das heißt - den Versprechungen der Lebensmittel-Hersteller und -Bewerber zufolge - Lebensmittel mit dem gewissen Etwas, dem Zusatznutzen. Konnten die Konsumentinnen und Konsumenten vor fünzig Jahren nur aus etwa 1.400 Produkten auswählen, so stehen uns heute mehr als 8.000 Lebensmittel-Produkte zur Auswahl. Die zunehmende Differenzierung der Produkte hat zu einer Individualisierung der Ernährungs-Entscheidungen geführt. Persönliche Präferenzen sind, wie in anderen Lebensbereichen, so auch beim Essen, an die Stelle von gesellschaftlichen Normen und Regeln getreten. Ernährungsentscheidungen werden individuell getroffen. Was bisher im Angebot gefehlt hat? Die persönliche Ernährung, Personal Food sozusagen. Angepasst an die individuelle Veranlagung. Jetzt soll sie möglich werden, dank Nutrigenomik. Nutrigenomik ist eine junge Forschungsdisziplin. Sie untersucht, wie der Körper eines jeden von uns die Nahrung (Nährstoffe, Vitamine, Mineralien, Aminosäuren et cetera) verarbeitet, die ihm zugeführt wird. G E N - E T H I S C H E R

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Die Nutrigenomikforscher gehen davon aus, dass es früher oder später möglich sein wird, mittels Gentests zu prüfen, zu welcher Gruppe von Verwertern jeder von uns gehört, um uns daraufhin unseren ganz persönlichen Ernährungsplan zusammenstellen zu können.

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Es wird angenommen, dass die Einmaligkeit des Erbgutes jedes Menschen auch dazu führt, dass wir die Inhaltsstoffe unserer Nahrung unterschiedlich gut (oder schlecht) verwerten. Unsere Gene sollen sich also darauf auswirken, ob wir zum Beispiel von der einen Aminosäure eine etwas größere Portion aufnehmen müssen als die Frau vor uns in der Schlange der Kantine, oder der junge Mann, der neben uns im Restaurant seinen Platz gefunden hat. Die Nutrigenomikforscher gehen davon aus, dass es - früher oder später - möglich sein wird, mittels Gentests zu prüfen, zu welcher Gruppe von Verwertern jeder von uns gehört, um uns daraufhin unseren ganz persönlichen Ernährungsplan zusammenstellen zu können. Ergänzt werden könnte dies durch Analysen des Blutes. So könnte ein umfassendes Bild des Stoffwechsels eines jeden von uns entstehen. Die Forschungsanstrengungen unterteilen sich in zwei grundsätzliche Ansätze: Die einen verfolgen in erster Linie das Ziel, Krankheiten und die Einflüsse des Zusammenspiels von Genen und Nahrung auf diese zu ermitteln. Die anderen orientieren sich nicht so eindeutig am Krankheitsbegriff. Sie suchen vielmehr nach dem zusätzlichen Potential für den gesunden Menschen. Nutrigenomik - in der umfassendsten Ausprägung - untersucht den Menschen auf drei Ebenen: dem Erbgut (Genom), den Proteinen (Proteom) und den Prozessen des Stoffwechsels (Metabolom).

Ernährungs-TÜV

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n Zukunft soll unsere Ernährung also auf unsere Gene und unseren Stoffwechsel zugeschnitten sein. Wie das aussehen könnte, kann man auf der Website des Europäischen Informationszentrums für Lebensmittel (EUFIC) erfahren: "Ihr aktueller Ernährungs-TÜV ist fällig. Sie nehmen die Chipkarte mit Ihrem DNA-Profil, das Ihren genetischen Fingerabdruck darstellt, und gehen damit zur nächsten Ernährungsberatung, um dort einen Tropfen Blut abzugeben. Ihr Blut wird analysiert und mit Ihrer DNA verglichen. Nach einer kurzen Wartezeit erhalten Sie einen auf Ihr spezielles genetisches Profil maßgeschneiderten Ernährungsplan, indem Ihr gesamter Bedarf an Makro- und Mikronährstoffen perfekt ausbalanciert ist." Was in Europa noch weit gehend Zukunftsmusik ist, ist in den USA jedenfalls zum Teil - bereits Realität. Dort bieten Firmen genau diese Gentests an, mit deren Ergebnissen die Kunden ihre Ernährung auf ihr Erbgut abstimmen können. Eine dieser Firmen ist Sciona aus Boulder im US-Bundesstaat Colorado. Sciona vertreibt personifizierte Gesundheitsund Ernährungs-Tipps. Ausgerüstet mit dem CellfTM-Testsystem ermittelt Sciona zunächst das persönliche DNA-Profil seiner Kundschaft. G E N - E T H I S C H E R

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Daraus wird, wenn die Ergebnisse um Angaben zu Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten ihrer Kunden ergänzt worden sind, eine "vertrauliche und höchst persönliche Empfehlung" erstellt. Das CellfTMTestsystem ist in Apotheken und Lebensmittelgeschäften erhältlich. Getestet werden 19 Gene. Falsche Genvarianten sollen - zum Beispiel für eine erhöhte Veranlagung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Osteoporose oder für eine verminderte Fähigkeit zur Entgiftung des Körpers verantwortlich sein. Die aus dem Test abgeleiteten Empfehlungen sollen den Kunden dabei helfen, ihre Ernährung anzupassen, um so die ermittelten Gesundheitsrisiken besser managen zu können. Um die Optimierung der Gesundheit geht es auch bei Genelex. Wie Sciona bietet auch die Firma aus Seattle eine Kombination von Gentests und Life-Style-Assessment an. Indem die Zusammensetzung von 19 Genen des Erbguts ermittelt wird, will Genelex ihren Kunden dabei helfen, "Ernährungsgewohnheiten und Lebensstil mit dem Erbgut zu harmonisieren". So sollen die Kunden ihr Gewicht besser kontrollieren können, Haut und Haare sollen strapazierfähiger, die Anfälligkeit für Krebs, Diabetes und Herzerkrankungen kleiner werden, zudem soll die Einhaltung der Vorschläge zur Verbesserung des Befindens erleichtert werden.

Keine solide Evidenz

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och bisher bringen die Tests leider praktisch nichts. Oder, wie es Jose Ordovas, Direktor am Labor für Ernährung und Genomik der Tufts Universität in Medfurt, US-Bundesstaat Massachusetts, sagt: "Es gibt praktisch keine solide geprüfte Evidenz für irgendeine Art von genetischen Tests für die Ernährung." Seiner Ansicht nach bewerten die Firmen die wissenschaftliche Basis dieser Aussagen über. Die Forscher tappen auch bei der Erforschung des Metabolom noch ziemlich im Dunkeln. Ordovas: "Wir sprechen über tausende einzelner Komponenten." Er geht davon aus, dass es notwendig sein könnte, "eine halbe Million Menschen zu analysieren, um die Aufgabe die Beschreibung und Entschlüsselung des so genannten Metabolom zu erfüllen". Ob die Tests nützlich sind, ist also mehr als unklar. Bleibt die Frage, ob sie schaden. In erster Linie werden diejenigen, die diese Tests ausprobieren vermutlich staunen, sind doch die Empfehlungen zumeist ziemlich gewöhnlich. Es ist kein Geheimnis, dass es gesund ist, reichlich Früchte und Gemüse zu essen und sich viel zu bewegen. So hat sich auch die USAmerikanerin Ruth DeBusk vorgenommen, jeden Abend ein Glas G E N - E T H I S C H E R

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Orangensaft zu trinken oder einen großen Salat zu essen, wenn sie das Gefühl hat, es sei kein besonders guter "Folsäure-Tag" - wie sie es nennt - gewesen. Ihr Gentest hatte ergeben, dass sie mehr von diesem Vitamin aus der B-Gruppe benötigt. Genau diese Art von Empfehlungen bereitet Allen Diamond von der Universität des US-Bundesstaates Illinois in Chicago jedoch Sorge: "Es kann sein, dass wir die Gesundheit der Leute aufs Spiel setzen, wenn wir ihre Aufnahme von Folsäure erhöhen, ohne das Zusammenspiel der Gene zu kennen." Es wird also wohl noch eine Weile dauern, bis Tests des genetischen Profils unter Beweis stellen können, ob sie überhaupt in der Lage sind, zu sagen, was wir essen sollen und was nicht. Notwendig sind dafür nicht nur mehr und aussagekräftigere Untersuchungen zu den verdächtigen Genen, sondern auch Werkzeuge für ein schnelleres und billigeres Screening.

Trend zu mehr Functional Food verstärkt

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olange freuen sich vor allem die Hersteller von NahrungsmittelZusatzstoffen, wenn die Botschaften von Sciona und Genelex in die Gesellschaft diffundieren. Einige der Firmen, die die Tests verkaufen, handeln nämlich auch mit den vermeintlich hilfreichen Ergänzungen der Nahrung, wie der Geschäftsführer von Sciona, Jim Bruce, freimütig zugibt. Allen Unkenrufen zum Trotz scheint die Akzeptanz der Nutrigenomik hoch zu sein. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2003 soll beinahe die Hälfte der US-Amerikaner bereit sein, Lebensmittel zu nutzen, die mit Hilfe der Ergebnisse von genetischen Tests, auf die individuellen Gesundheitsbedürfnisse abgestimmt sind. Dies ist die andere Seite der Medaille: Nutrigenomikforschung ist auch eng gekoppelt mit Functional Food und somit der Herstellung von Zusatzstoffen. Nutrigenomikforschung erlaubt, so die Annahme, neue "bioaktive“ Substanzen in Nahrungsmitteln zu finden und sie strebt an, Nachweise für das Wirken dieser "bioaktiven“ Substanzen auf die Gene oder den Stoffwechsel zu führen. Nutrigenomikforschung kann deshalb den Trend zu mehr Functional Food verstärken. Zwar ist der Markt heute noch sehr klein (er liegt derzeit bei etwa zwei Prozent), doch werden große Wachstumsraten vorhergesagt. Die weltweit größten Hersteller von Nahrungsmittel-Zusatzstoffen beteiligen sich entsprechend auch finanziell. So wird Sciona von der deutschen BASF und der schweizerischen Nahrungsmittel-Firma DSM unterstützt: Danisco (Dänemark), nach eigenen Angaben einer der größten Lieferanten von Nahrungsmittel-Inhaltsstoffen, finanziert Wellgen, eine US-amerikani-

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sche Firma, die ihrerseits darauf spezialisiert ist, neue bioaktive Substanzen zu finden. Wellgen untersucht, wie Nahrungsmittel oder deren einzelne Bestandteile auf Gene wirken, die mit der Entstehung von Krebs oder Arthritis in Verbindung stehen sollen.

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ine der Firmen, die sich sehr stark im Bereich Nutrigenomikforschung engagiert, ist Nestlé. Der Schweizer Riese soll jährlich rund 50 Millionen US-Dollar in diesen Bereich investieren. Nestlé’s Ziel: In Zukunft sollen sich die Angehörigen einer bestimmten Zielgruppe ein ganzes Sortiment von Nahrungsmitteln zusammenstellen können, das speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Anders gesagt: Nestlé will in Zukunft vermehrt Produkte mit einem Zusatznutzen liefern. Die drei Zielgruppen, die dabei vor allem angepeilt werden, sind: Übergewichtige, Allergiker und Diabetiker. Der Zusatznutzen soll jedoch nicht nur denen helfen, die bereits erkrankt sind. Wissenschaftler von Nestlé schreiben sogar, dass auch die intellektuelle, musische und künstlerische Performance der Kundschaft durch die geeignete und an das Genom angepasste Diät verbessert werden kann. Auch die Babyboomer sind eine sehr interessante Zielgruppe für Produkte mit Zusatznutzen, vor allem wenn der Zusatznutzen mehr Gesundheit verspricht. Als Babyboomer wird die Generation der heute etwa 40- bis 60-jährigen - insbesondere in den USA - bezeichnet. Ihre Generation wird in Verbindung gebracht mit weitestgehendem wirtschaftlichen Wohlstand und Prosperität der sechziger, siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Nestlé will gerade für diese Gruppe das Leben länger lebenswert machen. Die Babyboomer gelten als gebildet und proaktiv. Sie verfügen über ausreichend Geld für Lifestyle-Medikamente oder eben auch Functional Food. Sie gehen Probleme an, bevor sie auftreten und sind gewohnt, jede Art von Beschwerden mit Lifestyle-Medikamenten zu lösen. Sie wollen Bequemlichkeit und hohe Lebensqualität. Viele der Babyboomer sind bereit, Geld für Wellness und Gesundheit auszugeben. Soweit die Zuschreibungen für eine scheinbar rundherum perfekte Kundschaft.

Nestlé will in Zukunft vermehrt Produkte mit einem Zusatznutzen liefern. Die drei Zielgruppen, die dabei vor allem angepeilt werden, sind: Übergewichtige, Allergiker und Diabetiker.

Nutrigenomik und öffentliche Gesundheit

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eben den Geldern der privaten Firmen fließen auch öffentliche Mittel in die Nutrigenomikforschung. Weshalb? Die Nutrigenomikforschung verspricht, Lösungen zu bieten für die sich G E N - E T H I S C H E R

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„Nutrigenomikforschung ist gut für den Profit, aber irrelevant für die Gesundheit und wird vor allem die Lebensmittel-Ausgaben der Menschen in die Höhe treiben."

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immer stärker ausbreitenden, durch falsche Ernährung mitverursachten Krankeiten Übergewicht, Diabetes... So steckt zum Beispiel die Europäische Union 23 Millionen Euro in die Europäische NutrigenomikOrganisation (NUGO), ein Konsortium, in dem 22 Partner aus 10 Ländern involviert sind. Das Ziel der Organisation ist, das Metabolom des Menschen zu erstellen. Es soll eine Datenbank entstehen, mit deren Hilfe definiert werden kann, welche Zustände des Stoffwechsels normal und welche anormal und somit die Gesundheit gefährdend sind. Ob die Nutrigenomikforschung tatsächlich Lösungen bringen wird? Die Nutrigenomikforschung biete vor allem eine technische Fixierung der Probleme, indem sie die Symptome angehe nicht aber die Ursachen, sagt Professor Tim Lang von der City Universität in London. "Nutrigenomikforschung ist zwar eine gute Wissenschaft, leider aber eine schlechte Politik. Sie ist gut für den Profit, aber irrelevant für die Gesundheit und wird vor allem die Lebensmittel-Ausgaben der Menschen in die Höhe treiben." Nichtsdestotrotz: Vermutlich ist es für manche Menschen doch etwas anderes, wenn man für ein Testkit bezahlt, dafür "persönliche" Empfehlungen erhält und diese - zu guter Letzt - auf der wissenschaftlich exakten Basis der eigenen Gene aufgebaut sind. Ebenso wird es anderen Menschen vermutlich egal sein, ob es nun die Gene sind, die die Empfehlung, nicht zu rauchen, untermauern.

Traum vom Schlaraffenland

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er Traum vom Schlaraffenland ist das Gegenstück zu einer Welt, in der Mangel und Hunger alltägliche Erfahrungen sind. In der westlichen Wohlstandsgesellschaft leidet die Mehrheit heute jedoch eher am Überfluss. Aus dem Schlaraffenland ist ein Funktionsland geworden, das Fitness, Fun, Kraft und Gesundheit bringt. Nutrigenomik und der personifizierte Ernährungsplan werden zum Traum, dem Weltverbesserer in den Labors und fitness- und gesundheitsorientierte Menschen gemeinsam anhängen. Fluchtpunkt der Nutrigenomikforschung ist die Utopie der perfekten Ernährung. Die Forscher versprechen einmal mehr, uns Gesundheit, Lebenskraft, Schönheit und ewige Jugend zu bringen. Das Label "Essen plus" ist in.

Benno Vogel ist als freiberuflicher Biologe und Autor in Berlin und Zürich tätig. Christof Potthof, Biologe, ist Mitarbeiter des Gen-ethischen Netzwerk e.V..

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